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»In ein paar Wochen geht es los. Auf zur großen Reise, in ein Land, das mir so fremd, zu Menschen, die mir so anders vorkommen. Algerien: Sanddünen in der Sahara, Muezzinrufe im Morgengrauen, Männer mit Turbanen und weiten Gewändern, verschleierte Frauen, geschäftige Souks, Kamelkarawanen vor der untergehenden Sonne, verlockende Oasen, blau gewandete Tuareg. Wild schwirren die Bilder von dem Nordafrika in meinem Kopf, das in Reisekatalogen und Werbeprospekten gezeichnet wird.

Bekannte laden mich zum Diaabend über ihre letzte Reise in die algerische Sahara ein, eine Freundin schenkt mir ein Buch eines algerischen Schriftstellers, das die Geschichte des Landes in Romanform aufarbeitet, meine Großmutter rät mir immer und überall mißtrauisch zu sein. Die Araber seien nämlich ein höchst hinterhältiges Volk. Bunte, fotoreiche Reiseberichte von europäischen ‚Abenteurern’ erweitern das Sammelsurium an Bildern in meinem Kopf. Ich bin gespannt, was ich wirklich sehen werde.«

Das Dilemma kennt jedeR: sobald man im Bekanntenkreis von einer geplanten Reise erzählt, wird man überhäuft mit Erzählungen, Ratschlägen und oft auch Warnungen. Paradiesische und exotische Darstellungen in Reisekatalogen und auf Plakatwänden sollen Vorfreude wecken. Man kann sich den Einflüssen, die bestimmte Bilder und Vorstellungen über Länder und deren BewohnerInnen im Kopf erzeugen, nicht entziehen. Sie kommen auf einen zu, ob man will oder nicht. Meist helfen sie wenig, sich auf eine Reise vorzubereiten, eher bewirken sie, dass auf der Reise genau nach den Bildern gesucht wird, die man schon vor der Reise im Kopf hatte. Alles andere wird unbewusst ausgeblendet, zieht unbemerkt vorbei oder wird bewusst ignoriert. Diese Auslöschung des Unerwarteten und Störenden in Geschichten und Bildern über die Fremde(n) resultiert in Erinnerungen und Vorstellungen, die die sehr heterogenen Lebensverhältnisse ignorieren. Die touristischen Erzählungen und Bilder transportieren eine spezielle Variante von den Anderen, eine, die von der westlichen Fantasie wiedererkannt werden kann. Der Filmregisseur Jim Jarmusch drückte dies so aus: »Am Anfang war der Mythos dieser Orte, aus Literatur, Filmen und Musik....Ich habe alles, was ich mir ausgemalt habe, auch gefunden. Das war eine aufregende Erfahrung: Es war in meinem Kopf und jetzt ist es da.«

Oft stellen sich auch auf der Reise Ängste ein, deren Nährboden Fremdheitsvorstellungen vor der Reise waren und die unterbewusst ständig mit dabei sind. So mögen die vielen kleinen »fliegenden Händler«, die Obst, Gewürztee oder einzelne Zigaretten auf der Straße verkaufen, zum romantischen Bild über das lebendige Straßenleben einer Südmetropole gehören. Wer sich aber - womöglich als einziger »Europäer« - unerwartet mitten in den »Verkäuferscharen« an einem Busbahnhof irgendwo in Marokko wiederfindet (also gerade nicht planmäßig einen geschäftigen Berber-Markt besucht), fühlt sich schnell von dem nicht enden wollenden »très bon prix« überrumpelt und interpretiert die Situation vielleicht mit der »aufdringlichen Mentalität« der Marokkaner. Auch ist die Rede vom Kriegerischen positiv konnotiert, solange es um die eigenen Urlaubserlebnisse geht (Kriegsgesänge der Massai am Lagerfeuer). Sie wird jedoch schnell ins Negative umbewertet, wenn die Tagesschauen über Konflikte oder gar Massaker berichten. Statt politische Motive und herrschaftliche Interessen zu erkennen, wird von TouristInnen schnell eine kampflustige Mentalität als Erklärung für die Unruhen herangezogen.





Bunte Exoten in der Reisewerbung

von Martina Backes

Das Reisegeschäft lebt nicht nur von Strand, Natur und Wildnis. Der Konkurrenzkampf im touristischen Geschäft drängt Reiseveranstalter und Tourismusministerien zu immer ungewöhnlicheren Etikettierungen. Denn Urlaubsparadiese nach dem Muster ‘Sonne-Sand-und-Palmen’ trifft man fast überall im Süden an. Hier bietet sich Kultur als unerschöpfliches Reservoir für Fremdheit und Unbekanntes an. Schon der Begriff ‘Kultur’ verspricht Differenz: unvergleichbare, nicht kopierbare Einzigartigkeit.

Mit der Seidenstraße durch Asien, der Sklavenroute durch Westafrika und der Ruta del Mais in Zentralamerika präsentieren sich gar ganze Regionen auf einem globalen touristischen Markt, um die Aufmerksamkeit der Fernreisenden zu gewinnen. Die Travel Association der südostasiatischen Staaten vermarktete mit dem Werbespot »Juwelen des Mekong« im Visit Asean Year 2002 die »perfekten zehn Paradiese«. Die »Wa(h)re Wildnis« wird zusammen mit pittoresken Dörfern und ihren folkloristisch gekleideten BewohnerInnen zu einem touristischen Magnet gebündelt.

Mit dem Begriff von der ‘landestypischen’ Kultur wird nicht nur das Originelle hervorgehoben, sondern zugleich das Original beschworen: »Im Reich der Mitte« den »Zauber Chinas selber erleben« (Wikinger Reisen) verweist auf Unverwechselbares. Ebenso unmissverständlich stehen »Schlangenbeschwörer und Asketen« als Synonym für den Süden Indiens. Mittels symbolischer Etikettierungen wie dem »Land des Lächelns« oder dem »Dach der Welt« werden Länder in Kategorien eingeteilt. Reiseführer wie CeBeGo plakatieren ihre Buchcover noch heute mithilfe von Typischen Gesichtern, die an ethnographische Darstellungen nach dem Muster »Menschen - Länder – Abenteuer« erinnern – und präsentieren eine völkerschauenähnliche Kollektion.

Im organisierten Ferntourismus werden mit der Reise nicht nur Orte, sondern bestimmte Lebensgefühle angeboten – sie sind Bestandteil der Urlaubsversprechen, die durch kulturelle Charakteristika der Einheimischen aus der Fremde verbildlicht werden: Afrika wird in Reiseführern und der Reisewerbung meist mittels romantisierender Bilder purer Lebensfreude, ekstatischem Tanz, ungehemmter Sexualität, Spontaneität, Improvisation ausgemalt: Afrika kann tanzen, Geister beschwören, ist rhythmisch und emotional. Entsprechend titeln die Reportagen auf den Reiseseiten: »Afrika pur«, »Wie ein buntes Mosaik«, » Wanderung durch die Kinderstube der Menschheit«. Gezeichnet wird ein Kontinent voller bunter Exoten.

Doch ist die Darstellung ‘pittoresker Kulturen’ in der Reisewerbung oft äußerst plakativ und eigentlich unglaubwürdig. Ein Rückgriff auf Allgemeinwissen oder auf Berichte aus der Tagesschau sollte ausreichen, um die schlagwortartigen Klischeedarstellungen von der Fremde anzuzweifeln. Insofern irritiert die inflationäre und offensichtlich erfolgreiche Verwendung von Kultursymbolik im Tourismus. Warum kann die Reiseindustrie mit der ethnischen Vielfalt so erfolgreich werben? Wie funktioniert diese Strategie?

Kaum ein anderer Wirtschaftssektor ist so sehr auf den Verkauf von Erlebnis, Abenteuer und Vergnügen ausgerichtet wie das Reisegeschäft. An die Stelle der immer neuen Herstellung von Waren treten hier das Bedienen von Wünschen oder Träumen und damit die erlebbare Erfahrung. Während man längst ohne größere Mühen in kürzester Zeit an alle entlegenen Orte der endlich gewordenen Welt gelangen kann, ist die eigentliche Herausforderung die Reise nach Innen: in den Kern der Orte, in die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen. Bis in die Privatsphäre der BewohnerInnen und ihre intimsten Riten, in die feinsten Poren der gesellschaftlichen Lebensräume gilt es ‘einzutauchen’. Es reicht nicht aus, die Mönche auf dem Dach der Welt gesehen zu haben oder die Aborigines der australischen Wüste auf dem Urlaubsfoto präsentieren zu können. Gesucht wird das metaphysische Erlebnis im Kloster oder die spirituelle Reise in die Zeit der Traumfänger. Anstelle der Orte werden kulturelle Begegnungen zu Wahrzeichen von Erlebnissen stilisiert. Entsprechend konzentriert sich das Reise-Marketing auf die symbolisch-expressive Ebene: Es geht nicht mehr um die Massenfertigung eines genormten Produktes, sondern um die massenhafte Herstellung individueller Begegnungs- und Erlebnisangebote. Dies trifft nicht nur auf die Nischen der Abenteuer- und Entdeckungsreisen zu, sondern durchzieht zunehmend auch den konventionellen Reisemarkt.

Als Beweggrund für das Reisen gilt die Suche nach ausgesperrten Wünschen und nicht gelebten Möglichkeiten – und damit nach Identität. Auch zu früheren Zeiten wurden Menschen anderer Länder während der ‘Kulturreise’ zu Symbolträgern eigener Defizite oder Fantasien stilisiert. Die Vielfalt der Zuschreibungen hat heute in dem Maße zugenommen, wie die Beweggründe der Reisenden jeweils durchaus verschieden sind – quasi als Spiegel des von den Reisenden sehr unterschiedlich empfundenen und individuell verschiedenen Alltags innerhalb der eigenen Gesellschaft. Dabei spielen Exotismus, Stereotype und Vorurteile alter Couleur noch immer eine große Rolle und treten als Grundmuster in fast allen Differenzangeboten auf.

FernWeh 2004




Griechenland ist anders als Europa

von Ramona Lenz

EthnologInnen wie TouristInnen stehen in einer langen Tradition westlicher Reisender. Mis-sionarInnen und Kolonialbeamte, KünstlerInnen und Expeditionsreisende bereisten die Welt und konstruierten dabei ihre eigene kulturelle Identität, indem sie »die Anderen« als exotisch und archaisch definierten. Die Kulturen »der Anderen« wurden dabei an ein klar abgrenzbares Territorium gebunden und in eine vormoderne Zeit verlagert. Das lässt sich auch an ethnologischen Studien und touristischen Schriften feststellen. Noch heute sind Reiseführer und Reiseprospekte voll mit Repräsentationen von Urlaubsdestinationen als territorial begrenzte kul-turelle Einheiten. Ihr touristischer Reiz gründet auf der Befürchtung, ihre »Ursprünglichkeit« sei durch Modernisierungsprozesse bedroht. Den »Bereisten« wird hier nach wie vor die Bewegung im selben Raum und in der selben Zeit abgesprochen. Ihre vermeintliche Ortsgebun-denheit und (geschichtslose) traditionelle Lebensweise wird erdacht und verehrt, um das eigene Identitätsprojekt, das auf der Abgrenzung von »den Anderen« beruht, nicht zu gefährden.

Interessierte sich die Ethnologie lange Zeit vornehmlich für die »Eingeborenen« ferner Kontinente und untersuchte deren Lebensverhältnisse als ursprünglich und klar abgrenzbar von der »eigenen zivilisierten Kultur«, so richtete sich der ethnologische Blick in den 1960er und 70er Jahren zunehmend auf »ländliche und von der modernen Zivilisation unberührte Kulturen und Traditionen« im Reiseziel Mittelmeerraum. Die heutige Reisewerbung für die mediterranen Länder entspricht – wie hier für Griechenland gezeigt – in vielen Aspekte den »wissenschaftlichen Resultaten« der anthropologischen Mittelmeerforschung – und deren Ausblendungen.

Höhepunkte: Eine Reise zu den Anfängen griechischer Geschichte. Göttervater Zeus entführte in Gestalt eines Stiers die schöne Europa nach Kreta. Dort zeugte er mit ihr Minos, den ersten König der Insel. Auf unserer Reise durch ganz Kreta folgen wir den Spuren griechischer Sagen – in Knossos und andernorts. Gleichzeitig entdecken Sie eine quicklebendige Insel, Heimat eines Volkes, dessen Stolz und Willensstärke keinem Gast verborgen bleiben. Studiosus, Intensiverleben: Östliche Mittelmeerländer (2004)

Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete sich die Forschungssituation für EthnologInnen schwierig. Infolge der Dekolonialisierung, die häufig mit Befreiungskriegen einherging, sowie der Geschichtsschreibung durch eigene WissenschaftlerInnen in den ehemaligen Kolonien, entzogen sich ihnen zunehmend die außereuropäischen »Anderen« als Forschungsobjekte. (Giordano 1990 und Goddard/Llobera/Shore 1994) Westliche EthnologInnen waren in den befreiten postkolonialen Staaten Afrikas und Asiens nicht mehr willkommen. So zogen sich viele in den 60er und 70er Jahren auf den europäischen Raum zurück. Die Methoden der Erforschung des außereuropäischen Raumes wurden auf das ländliche Europa und die Gesellschaften rund um das Mittelmeer übertragen, die nun zum neuen Gegenstand des Forschungsinteresses britischer SozialanthropologInnen und US-amerikanischer KulturanthropologInnen avancierten. Innerhalb einer neu formulierten Ethnologie Europas wurde der Fokus auf den außereuropäischen »Anderen« auf den Kulturraum Mittelmeer übertragen.

Die ethnografischen Studien der frühen Mittelmeerethnologie waren zumeist Gemeindeforschungen in ländlichen, peripheren Regionen, die weitgehend isoliert von äußeren Einflüssen betrachtet wurden. Ihr Eingebettetsein in Nationalstaaten mit bürokratischer Organisation, Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse sowie Migrationsbewegungen, die den Horizont der Dorfgemeinschaft überschreiten, wurden ausgeblendet. (Giordano 1990) Das Dorf schien im Gegensatz zur Stadt noch nicht von Modernisierungsprozessen verändert. Die MittelmeerethnologInnen hofften schließlich, analog zur Situation in den gerade in die Freiheit entlassenen Kolonien, dort unverfälschte »Traditionen« vorfinden zu können, zu deren Schutz und Erhaltung sie mit ihren Ethnografien beitragen wollten.

Das mediterrane Urlaubsparadies mit seinen geschützten Buchten, hübschen Stränden und türkisfarbenem Meer, mit seinen Hotelburgen, pulsierendem Nachtleben und unzähligen Georgos und Kostas, die mit Touristinnen flirten, ist nur die eine Seite von Kreta. Abseits der zugebauten Küstenabschnitte zeigt die Insel ihr wahres Gesicht. Im Inselinneren gehen die Uhren anders, und die Stille bietet einen wohltuenden Kontrast zum touristischen Treiben an den Küsten. Die Dörfer im Hinterland sind in einen verschlafenen Alltag versunken, alte Traditionen werden wie eh und je gepflegt. Frauen und Männer auf Eseln kreuzen die Straße, und die Besucher erleben die vielgerühmte griechische Freundlichkeit, die in den künstlichen Touristenwelten durch findige Geschäftstüchtigkeit verdrängt wurde. Vista Point Pocket: Kreta (2000), S. 8

In den 1980er Jahren schließlich entbrannte heftige Kritik an den Prämissen der Mittelmeerethnologie. In Anlehnung an Edward Saids Begriff des »Orientalism« (1979) bezeichnete Mi-chael Herzfeld die Konstruktion eines einheitlichen Kulturraums Mittelmeer als »Mediterraneanism« (1987). Damit warf er den westeuropäischen EthnologInnen Exotisierung und Archaisierung der Gesellschaften rund um das Mittelmeer vor. Zum einen werde die Region – insbesondere Griechenland – als Wiege der Zivilisation betrachtet, von der aus (West-) Europa vor langer Zeit seinen Ursprung nahm. Zum anderen werde eine Distanz zwischen völlig verschiedenen kulturellen Räumen behauptet. »In jedem Fall sind ‘sie’ nicht ‘wir’, auch wenn wir es als unsere Zivilisation bezeichnen. Dieser Widerspruch liegt eher in der eurozentri-schen Ideologie als in der Eigenart der Region selbst.« (Herzfeld 1987)

Auf Kreta gehen die Uhren nun einmal langsamer. Die Insel an der südlichen Grenze Euro-pas ist eine andere Welt, aber gerade dies macht ihren Charme aus, dem jährlich viele Touristen erliegen. Vista Point Pocket: Kreta (2000), S. 15

Vassos Argyrou ist der Ansicht, dass mit der Vorstellung einer Verwestlichung, die als Zivili-sierung begrüßt und Vereinheitlichen gefürchtet werde, der Prozess der Festlegung der »Anderen«, sei es in Form des Orientalismus oder in Form des Mediterranismus, vervollständigt werde. (Argyrou 1996) Mit der Idee der Verwestlichung werde auch »der Westen« als kulturelle Einheit konstruiert und von »anderen Kulturräumen« abgrenzbar gemacht. Damit werde die kulturelle Gleichwertigkeit südeuropäischer Länder bestritten. Sie würden zum einen der ungenügenden und darum lächerlichen Imitation des »Originals« westlicher Moderne beschuldigt und zum anderen auf eine Bewahrung ihres »authentischen Charakters« verpflichtet. Damit werde der Glaube an die Überlegenheit der westlichen Kultur reproduziert.

Trotz oberflächlicher Verwestlichung und EU, trotz Massentourismus und TV haben sich eine Reihe von Sitten und Gebräuchen lebendig erhalten, die Kreta auch für Festlandgriechen zu einer weit entfernten Insel machen.Mairs Geographischer Verlag, »abenteuer und reisen«: Kreta (2002), S. 14

Auch in touristischen Praktiken ist die Suche nach dem Authentischen (Echtheit) und Ursprünglichen häufig zentral. Orvar Löfgren (1999) zeigt, dass sich das Klagen über die Überformung der unverfälschten Tradition aufgrund des Massentourismus durch die gesamte Geschichte des Mittelmeertourismus zieht. Das, was als authentisch gilt, verändere sich allerdings. Es kann eine »unberührte« Landschaft sein, aber auch eine »ganz normale« Shoppingmall, in der die »locals« einkaufen gehen, kann als authentische Attraktion gekennzeichnet werden. Damit die TouristInnen wissen, wann sie wohin zu blicken haben, werden touristische Attraktionen markiert.

Temperamentvoll bis orgiastisch beim Feiern und im Rausch. So kann man das Prachtexemp-lar des nicht domestizierten Kreters mit einigem Glück auch heute noch auf der Insel antreffen. Häufig mit blitzblauen Augen, aus denen die Kraft des umliegenden Ozeans leuchtet. Und mit zerfurchten Gesichtern, in denen sich die Falten der gebirgigen Insel zwischen Nasenwurzel Haaransatz und Schnauzer nachzeichnen. [...] Originale finden sich auf Kreta jedenfalls leichter als in anderen Teilen der Erde, und nicht selten stecken sie in schwarzen Stiefeln mit blank gewetzten Gummireifensohlen.Mairs Geographischer Verlag, »abenteuer und reisen«: Kreta (2002), S. 12

Jüngere ethnografische Studien setzen nicht voraus, dass es hinter der touristischen Fassade authentische Kultur zu entdecken gibt. Sie beleuchten vielmehr, wie »Authentizität« und »Traditionalität« von der lokalen Bevölkerung bewusst hergestellt werden, um eine mögliche Erwartung von TouristInnen zu bedienen (z.B. Stefan Beck und Gisela Welz (1997) über Zypern oder Regina Römhild (2000) über Kreta). Gisela Welz (2000) bezeichnet dies als reflexive Traditionalisierung. Es steht also nicht mehr die Frage im Zentrum, wie sich das Authentische bewahren und vom Plagiat unterscheiden lässt, sondern es geht darum, wie das Authentische hergestellt wird. Es wird danach gefragt, wer die Macht hat zu definieren, was als »authentisch« und »ursprünglich« gelten darf, und wer nicht.

Literatur




Mit weißem Blick - Bilderwelten im Reisekatalog

von Jessica Olsen

Emotionen, Träume und Fantasien werden in der heutigen Konsumgesellschaft in Produkte eingeschrieben und vermarktet. Vor diesem Hintergrund scheint es aufschlussreich, die Tourismusindustrie und insbesondere ihre Beziehung zur Dritten Welt zu betrachten. Dabei ist der Reiseprospekt das wichtigste Vermarktungsinstrument der Reiseveranstalter und kann als ideologisches Werkzeug im Prozess der Gestaltung dieser Beziehung gesehen werden. Im Reisekatalog sind verschiedene ‘moderne’ Charakteristika auszumachen, er bedient sich zugleich jedoch einer im Wesentlichen postmodernen Darstellungsweise.


Fiktive Welt des Prospekts

Die Tourismusindustrie sieht den Urlaub als eine Ware, die sie verkaufen muss, um ihren wirtschaftlichen Erfolg zu sichern. Dabei ist das Bild für die Verkäuflichkeit der Ware entscheidend. Der Schlüssel zu einer Erfolg versprechenden Bildersprache liegt im verlockenden Reiseprospekt, der mehrere komplexe Aufgaben gleichzeitig lösen muss. Vor allem dient er dazu, die Vorstellung vom Urlaub als solchem zu produzieren und gleichzeitig ein positives Bild vom Urlaubsort und dem idealen Touristen zu schaffen. Ausschlaggebend ist, dass die Ferienreise als Ware keine materielle Existenz hat, die vor dem Kauf ausgewählt oder verworfen werden kann. Insofern ist der Reiseprospekt das Zeichen für die Reise; der Tourist muss das Produkt auswählen, ohne es gesehen zu haben, allein aufgrund der visuellen Natur des Zeichens. Das Bild ist damit das wichtigste Element und hat insofern mehr Warencharakter als das konkrete materielle Produkt (z.B. das Reiseziel).

Die Bildersprache des Reiseprospekts wirkt auf verschiedenen Ebenen. Einerseits muss der Prospekt sich als geografisches Handbuch präsentieren, das Einzelheiten über mögliche Urlaubsziele nennt. Andererseits, will der Veranstalter mittels der ausgefeilten Bebilderung des Prospekts den Kunden davon überzeugen, dass die angebotene Ferienreise den Bedürfnissen gerecht wird, die der Tourist zu haben meint. So müssen Fotos auf die emotionalen Erwartungen an den Urlaub eingehen – sei es Erfüllung im Familienleben, romantische Zweisamkeit oder die Möglichkeit exotischer Bekanntschaften. Die Frage ist, ob diese realistischen Darstellungen im Prospekt letztendlich nicht nur eine Mixtur bestimmter Wahrnehmungsraster sind – ein Ausdruck der Fähigkeit also, mittels verschiedener Technologien die materiellen Güter ‘Realität’ und ‘Befriedigung’ zu erzeugen.

Der Tourismusprospekt hat viel mit postmodernen Moden gemeinsam. Er ist ein ständiger und oft widersprüchlicher Fluss konsumorientierter Bilder und Spektakel, die oft fragmentiert oder überbetont werden, um oberflächliche Effekte zu beschleunigen und zu intensivieren. Der Postmodernismus kann als Folge der Ablehnung des universellen Diskurses der Aufklärung begriffen werden, der als hierarchische Struktur beherrschend und unterdrückend wahrgenommen wurde. Burns & Holden behaupten hinsichtlich dieser Ablehnung des modernen Diskurses: »Das Vertrauen in die Vereinbarkeit wissenschaftlicher und moralischer Urteile ist zusammengebrochen, die Ästhetik hat als Hauptinteresse der Gesellschaft und der Intellektuellen über die Ethik triumphiert, Bilder setzen sich gegen Erzählungen durch, ewige Wahrheiten treten hinter Oberflächlichkeit und Fragmentierung zurück...«. Parallel dazu hat sich seit den 60er Jahren der Schwerpunkt der Industrie von der materiellen Produktion zur Dienstleistung verlagert (vor allem Freizeit und Tourismus) und damit eine ausgeprägte Konsumgesellschaft hervorgebracht. Diese Umstrukturierung hat »...die Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit von Moden, Produkten, Produktionstechniken, Arbeitsprozessen, Ideen und Ideologien, Werten und etablierten Praktiken akzentuiert« (Soja). Die Fusion der Sphären von Produktion und Konsum trägt dazu bei, die Grenzen zwischen Kultur und Ökonomie zu verwischen. Das Tourismussystem ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Der Reiseprospekt mit seinem ‘pick-and-mix’-Format ist eine Ausdrucksform dieser postmodernen Verwischung von Unterschieden und Grenzen zwischen Ländern. Der Konsument kann gleichzeitig der Genüsse Tunesiens und der Türkei teilhaftig werden, indem er eine Seite umblättert. Er kann das selbe standardisierte Sonne-Sand-und-Meer-Bild an praktisch jedem Reiseziel erblicken. Die Allgegenwart dieser fotografischen Darstellungen lässt den physischen Raum schrumpfen und rafft die Zeit. Im Reiseprospekt kann man sich die Welt semiotisch aneignen und konsumieren, ohne den bequemen Lehnstuhl verlassen zu müssen. Die Vorstellung eines ‘pick-and-mix’-Urlaubs verspricht größere Freiheit mit uneingeschränkten Wahlmöglichkeiten und legt sogar nahe, dass Reiseziel sei formbar und habe die dynamische Eigenschaft, sich gemäß den individuellen Bedürfnissen verschiedener TouristInnen modellieren zu lassen.


Hyperrealität in Warenform

»Die Broschüren sind oft Zeichen dafür, dass es keine Verbindung zwischen dem Touristen und dem Reiseziel als einem konkreten Ort in Zeit und Raum gibt« (Selwyn). Ein Bild kann jede Bedeutung in den Hintergrund drängen und in fiebriger Intensivierung als Realität gelesen werden. So fördert die Bilderwelt den Trend zum »poststrukturalistischen Touristen«, dessen Hauptziel der Konsum ist, und es ist die Broschüre, die diesem poststrukturalistischen Touristen »...das Gefühl gibt, unmittelbaren Zugang zu all den »Waren« zu haben, die sie darstellt« (Selwyn).

Erst die Broschüre formt den Urlaub. Der Reiseprospekt handelt mit Fantasien, deren Erfolg von unserer Vorstellungskraft abhängt. Die Unmittelbarkeit der lebhaften Bilder im Reiseprospekt fördert das Gefühl, geradewegs Zugang zur Ware zu haben. Dabei können zum einen die einheimische Bevölkerung, ihre Kultur und die Annehmlichkeiten des Reiseziels zur Ware werden. Auf einer anderen Ebene werden selbst Emotionen wie Liebe, Entspannung und sexuelle Befriedigung durch das Bild, das in seiner überhöhten Intensität realer wird als die Realität selbst, zu Waren gemacht. So ist das Bild die Ware selbst. Entsprechend dem Wesen der Postmoderne tendieren die Fotos der Prospekte dazu, eine Bedeutungsvielfalt zu fördern. Unmittelbarkeit, Pasticcio, Kompression von Zeit und Raum, Elemente aus verschiedenen historischen Perioden, alles dient dazu, die Unterschiede zwischen dem Sozialen und dem Kulturellen, dem Subjekt und dem Bild zu verwischen. Entsprechend werden wir dazu animiert, die heterogene Realität des Reiseziels und die verschiedenen Lebenswelten der Einheimischen zu ignorieren. Mittels der Bilderwelt des Prospekts produziert das Tourismussystem Unwirklichkeit.

Allerdings würde man die Fähigkeiten des Individuums grob unterschätzen, wollte man den Touristen als jemanden beschreiben, der sich vom Bild einwickeln und hypnotisieren lässt, der Kontrolle und Realitätsbezug völlig verloren hat. Das Feld der Rezeption eines Medientextes ist, was die Schaffung von Bedeutungen betrifft, sehr viel komplizierter. Die Postmoderne als ein durch und durch schädliches Phänomen zu dämonisieren, würde bedeuten, die Freiheit, die Vibration, den Spaß und die Freude zu ignorieren, für die der Begriff ebenso stehen kann. Doch bleibt Frage, ob es nicht in dieser flüchtigen Hyper-Realität, Befriedigung und Befreiung, sehr wirkliche und oft schädliche kulturelle, wirtschaftliche und soziale Folgen für die einheimische Bevölkerung gibt.


Moderne oder postmoderne Bilderwelt?

Im Reiseprospekt werden Bilder von unbestimmter Zeit und geographischem Ort verwendet, die als Ausdruck des postmodernen Paradigmas erscheinen. Sie können aber auch als Ausdruck einer Marketingstrategie gesehen werden, der Manipulation und Romantisierung von Kulturen, Orten und Menschen für einen kulturellen Voyeurismus, der absichtlich die Realität der gelebten Erfahrung ignoriert. Derartige Darstellungen lösen den Einheimischen vom Kontext und versetzen ihn in eine zeitlose Gegenwart. Da sich das Bild in einer Umgebung befindet, die keinen historischen Anhaltspunkt bietet, wird es zu einer Abstraktion von der Realität, in die verschiedene Bedeutungen projiziert werden können. Das Einheimische ist ein unbekanntes Anderes; ein Spektakel der Ethnizität, an keinen bestimmten zeitlichen oder räumlichen Kontext gebunden. Zunehmend leiten wir unser Verständnis anderer Kulturen aus dem Konsum solcher Darstellungen ab. Allerdings ist die Vorstellung, dass es jenseits solcher stereotyper Darstellungen eine reine, in sich homogene authentische ‘eingeborene’ Kultur gibt, ebenso trügerisch und nostalgisch. Clifford & Marcus sind der Ansicht, dass »...die Blickrichtung auf ‘alteingesessene’, ‘authentische’ oder ‘eingeborene’ Kulturen die weite Welt eines interkulturellen Import-Exports ausblendet, in den die (touristische) Begegnung immer eingebettet ist.« So ist die Kultur keinesfalls ein statisches Ding, sondern ein sich wandelnder Diskurs und ein umkämpftes historisches Terrain. Deshalb ist die Gleichung zwischen Tourismusprospekt und Postmoderne eine höchst umstrittene. Der Prospekt mag postmodern erscheinen, da es ihm an historischen Situationsbezügen fehlt und er von der Realität abstrahiert, aber das Bestreben, klassische, traditionelle und authentische Identitäten zu perpetuieren, ist Ausdruck einer modernistischen Haltung. Die Angelegenheit wird noch komplexer, da es nicht eine authentische Identität gibt, die außerhalb oder jenseits der Kategorien existiert, die es erlauben, zu beurteilen, was postmodern oder was modern ist.

Die monolithischen Strukturen westlicher Vorherrschaft, deren Ausdruck die Tourismusindustrie ist, werden – paradoxerweise – durch die Intensivierung der postmodernen Konsumgesellschaft gestärkt. Der Aufstieg der kommerzialisierten Gesellschaft manifestiert sich in der Tourismusindustrie auf sehr unterschiedliche und widersprüchliche Weise, wobei, gemäß dem postmodernen Paradigma, die Grenzen von Realität und Authentizität aufgehoben werden können. Dennoch zeigt sich der modernistische Bezugsrahmen in alten Machtbeziehungen und diese fortdauernde Spannung kann bei der Zurschaustellung von Ethnizität ausgenutzt werden.


‘Pick-and-Mix’ im Reisekatalog

Ethnizität, bzw. die einheimische Kultur, die typisch für den jeweiligen Ort sein soll, wird von Reiseveranstaltern oft in Form ethnischer Aufführungen vermarktet wie Stammestänzen, Zeremonien usw. – ein problematisches Schauspiel der Postmoderne, das Fragen nach Authentizität aufwirft. Wenn jedoch die Einheimischen als passive Opfer der touristischen Wünsche gesehen werden, die aus der Verbreitung der Bilderwelt der Prospekte und der daraus abgeleiteten ‘Realität’ der Reise resultieren, dann werden auch hier tradierte Machtstrukturen herangezogen. In Bezug auf die sehr realen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen ist Transkulturation in Wirklichkeit sehr viel komplexer und in ihrer Wirkung reziprok. Sie kann die Position der Einheimischen nicht nur schwächen, sondern auch stärken.

Einheimische wehren sich im Rahmen der Ungleichheiten des globalen Tourismus und sind ganz bestimmt nicht passiv, unterjocht und hilflos. Individuen lehnen ab oder konsumieren entsprechend ihrer Bedürfnisse. Die einheimische Kultur wäre auch dann nicht ‘unberührt’ von westlichen Werten und dem Wunsch nach Waren, wenn es den Tourismus nicht gäbe. Die Entwicklung der Globalisierung und der Massenkommunikationstechnologie hat dafür gesorgt, dass es einen ständigen Kulturaustausch zwischen Ländern gibt und somit ausländische Kulturelemente unvermeidlich absorbiert werden. Man könnte sagen, dass es in der postmodernen Gesellschaft nur partielle Authentizitäten und partielle Realitäten gibt, die Ausdruck eines Geflechts von Machtbeziehungen zu einem bestimmten Zeitpunkt sind. Allerdings streben Reiseprospekte nicht an, als ‘authentisch’ dasjenige zu präsentieren, was der Vorstellung der Einheimischen von Realität am nächsten kommt; sie wollen für eine spezielle Variante von Authentizität werben, die von der westlichen Fantasie wiedererkannt werden kann.

Daher sterben ‘ethnische Schauspiele’ nicht aus. Dabei scheint es, dass das aufgeführte Stück oft eine Geschichte aus dem Westen ist, und nicht eine, die von den Einheimischen kommt. Doch ist diese Interpretation durchaus umstritten, denn es ist möglich, dass die Einheimischen das, was die Touristen als ‘authentische’ Realität wahrnehmen, subversiv zu einer künstlich erzeugten Illusion machen und sich über die Ignoranz der Touristen lustig machen. Der Journalist Monibot beschreibt z.B. wie »...Touristen sich mit eingeschalteter Videokamera aus den Kleinbussen stürzten und wirklich der Meinung waren, sie seien gerade zufällig auf Menschen gestoßen, die dabei waren, eine seltene sakrale Zeremonie zu zelebrieren...«, um dann festzustellen, dass »...sie sangen: Los, ihr Touristen, gebt uns euer Geld und dann geht wieder.« Sprich, die Einheimischen sind in der Lage, zu Post-Eingeborenen zu werden und illusionäre Realitäten zu schaffen, die ihre Macht stärken. »Die künstlichen und stereotypen Darstellungen schützen die gelebte Erfahrung vor der Vermarktung, indem sie Touristenwünsche befriedigen, ohne das wirkliche Leben zu tangieren« (Edwards).

In zwei Punkten bin ich anderer Ansicht: Zum einen kann ich nicht zustimmen, dass Touristen sich immer hereinlegen lassen und bereit sind, alle Darstellungen passiv als »authentisch« zu akzeptieren. LeserInnen des Reiseprospekts sind aktive Akteure, die sich oft bewusst sind, dass die Aufführung ein Konstrukt für ein ausländisches Publikum ist. Sie sind daher oft »...bereit (...), eine Reproduktion zu akzeptieren, solange es eine »authentische« Reproduktion ist« (Bruner). Zweitens, und das ist wichtiger, ist meiner Meinung nach die Einmischung ins ‘wirkliche’ Leben eine sehr handfeste Auswirkung sowohl der Tourismusindustrie als auch der ‘gefälschten’ Vorführungen des kulturellen Lebens.

So zeigt Gunson, wie Reiseprospekte für »Mundo Maya« werben, »... wo Mensch, Natur und Zeit eins sind« und die BesucherInnen einladen, »die Mayas von heute zu treffen.« Allerdings beschweren sich Maya-Organisationen, dass archäologische Stätten und indianische Dörfer zu einem gigantischen Themenpark gemacht werden, der von Touristen begafft wird. Die Förderung dieses artifiziellen Themenspektakels ist das Ergebnis von Beschlüssen der Regierung und privater Firmen, nicht der Einheimischen. So verwischt die Propagierung eines ethnischen, ‘authentischen’ Schauspiels ganz sicher die Grenzen zwischen einer Realität für TouristInnen und der kulturellen Realität, was man für postmodern halten kann, aber die hier zugrunde liegenden Machtfragen sorgen weiterhin für Spannungen. Wenn wir also in einer postmodernen Konsumgesellschaft leben, wo der Posttourist den Postreiseprospekt lesen kann (im vollen Bewusstsein der fiktiven Realität) und in Beziehung treten kann zum Posteingeborenen (der sich ebenfalls voll der Pseudoauthentizität der Situation bewusst ist und in der Lage ist, von dieser Interaktion zu profitieren), in postmodern ‘stillem Einverständnis’, was ist dann mit den im obigen Maya-Beispiel genannten Faktoren geschehen, die zeigen, dass es weiterhin Macht, Unterdrückung und Herrschaft gibt? Hier sind wir wohl beim Paradoxon der Postmoderne angelangt.

Eine Möglichkeit, dieses Paradox und die harten Fakten von Macht, Unterdrückung und Herrschaft zu erklären, ist, sich der Begrifflichkeiten postkolonialer Theorie zu bedienen. Der Begriff ‘postkolonial’ verbreitete sich Ende der 80er Jahre als Oberbegriff für neue Arbeiten, die marginale Diskurse in den Vordergrund rückten und westliche Macht und Überlegenheit in Frage stellten. Der Postkolonialismus steht in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskampf von Dritte-Welt-Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg und der Existenz einer Diaspora in den Metropolen der ‘Ersten’ Welt (Shohat & Stam). Wichtig ist vor allem letzteres, da die Diaspora postkoloniale Diskurse in die Lage versetzt, das westliche Denken von innen und einer Zwischenposition aus in Frage zu stellen.


Fantastische Realitäten

Historisch hat die Bildersprache eine Erzählstruktur, die die Beherrschung des Anderen verewigt. Es ist ein Erbe abendländischer Hegemonie, das sich auf exklusive und inklusive Grenzziehungen stützt und sich in einer Kunst und Literatur niedergeschlagen hat, die die nicht-westliche Welt beschreibt. Diese Bildersprache ist wohl ein gesellschaftliches Konstrukt, das für die und mit den Augen der Weißen geschaffen worden ist und »...sich mit einer Art perverser Logik auf die Vergangenheit der unterdrückten Völker richtet und sie verdreht, entstellt und zerstört« (Fanon). Ganz sicher wirkt in der Welt des Reiseprospekts immer noch das Heimweh nach früheren kolonialen Perioden. Der Cosmos Distant Dreams-Prospekt wirbt mit kolonialistischen Referenzen in den Beschreibungen der meisten Reiseziele: »Das Gefühl britischer Kolonialherrschaft lebt auf den grünen Hügeln von Nuwara Eliya weiter...« Zugleich weist der Konzern im gleichen Prospekt darauf hin, dass »...die gewaltige Kaufkraft, über die die Cosmos-Gruppe weltweit verfügt, uns in die Lage versetzt, Ferienreisen zum billigstmöglichen Preis anzubieten.« Dies zeigt nicht nur wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber Konkurrenten, sondern ist auch Ausdruck der machtvollen, neo-imperialistischen Fähigkeit, zu kaufen, zu konsumieren und so ein Reiseziel zu regieren.

Historisch vererbte Machtstrukturen werden durch den Ausschluss bzw. Einschluss der Einheimischen auch neu formuliert. Airtours Sommer fordert uns auf: »Entscheiden Sie sich für Woodlands Resort und Sie können echte Thai-Gastfreundschaft in heimeligen, europäisch ausgestatteten Villen genießen.« In Unijet Caribbean beruft man sich unter anderem auf die angebliche Rationalität des »stabilen« westlichen Rechtssystems, um beängstigende Mythen zu vertreiben, die in der Fantasie betrügerische, unzivilisierte Andere umweben: »Es gibt viele Bereiche, wo man das koloniale Erbe spürt, einschließlich ‘...the Britishness of the smart police force’.« In der Abbildung gegenüber fällt auf, dass das Model, das exotische Kleider trägt (die wohl das Reiseziel Thailand symbolisieren sollen), eine Weiße ist. Damit wird angedeutet, dass eine gewisse Art von Sicherheit oder zumindest Vertrautheit bis in dieses merkwürdige, fremde Land reicht. Das Bild versieht den Traum mit der Vorstellung, dass die Realität der Ferienreise untrennbar mit allem verbunden sein wird, an das wir in der westlichen Vorstellungswelt gewöhnt sind. So wird die Grenze zwischen Traum und Realität verwischt.

Urlaub zu machen wird oft als etwas dargestellt, das für Weiße, Heterosexuelle und Kleinfamilien reserviert ist. Schwarze Briten oder einheimische Touristen gibt es einfach nicht. Doch ist der Reiseprospekt in der Lage, das ‘ferne Andere’ aufzunehmen, wenn es seiner Marketing-Strategie zugute kommt. Dabei betont der Prospekt allerdings den Kontrast zwischen Einheimischen und Touristen, um die Vorstellung zu nähren, dass die Ferienreise die TouristInnen in eine Lage luxuriöser Überlegenheit versetzen wird. Ganz sicher tendiert die Auswahl der Bilder dazu, unterbewusste Denkschemata anzusprechen, die aus der Kolonialzeit stammen. Das ständige Wiederaufwärmen orientalistischer Darstellungen in einem postmodernen Rahmen deutet darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen modern und postmodern schwieriger werden kann, als man je geglaubt hätte. In dieser Hinsicht illustriert der Reiseprospekt, dass es möglich ist, sich in einer modernen und postmodernen Welt zugleich zu bewegen.

Ein Blick auf die Wirkung der Verknüpfung moderner und postmoderner Elemente im Reiseprospekt muss dazu führen, den gesamten Begriff von und die Unterscheidung zwischen ‘Realität’, ‘Mythos’ und ‘Phantasie’ im Kontext der Tourismusindustrie in Frage zu stellen. Die TouristInnen sind sich weitgehend darüber im Klaren, dass ihnen ein fantastisches, geträumtes Paradies verkauft wird, oder eine ‘mythische’ Realität, die in gewisser Weise die ‘tatsächliche’ Realität verfälscht. Insofern mag die Bildersprache der Prospekte (ob modern oder postmodern) akzeptabel erscheinen. Doch der Diskurs abstrahiert von der materiellen Existenz und es gerät leicht in Vergessenheit, dass dieser Diskurs die soziale Realität für viele Menschen bestimmt, die radikal in Kategorien wie erotisch, exotisch, primitiv und andersartig gesteckt werden. Daher ist es wichtig, die Darstellungen in Reiseprospekten zu hinterfragen und die mythische Realität zu untersuchen, die sie andeuten. Sie sind ein Teil des extensiven Tourismussystems, das durch die Propagierung der beschriebenen Trennung zwischen mythischer Realität und tatsächlicher Realität schädliche kulturelle, soziale, wirtschaftliche, ökologische und politische Auswirkungen auf ein Land und dessen Bevölkerung haben kann.

Reiseprospekte schaffen eine neue Fiktion, die TouristInnen in die Lage versetzt, mit gutem Gewissen zahllose Reiseziele aufzusuchen – die meisten davon geschönt und modelliert durch einen subtilen aber realen Machtdiskurs. Ich möchte nicht behaupten, dass wir von Reiseprospekten, die Fiktionen und artifizielle ‘Wahrheiten’ formulieren, hinters Licht geführt oder daran gehindert werden, die politische Realität eines Landes wahrzunehmen; ich frage mich aber, ob die Raster von Macht und Herrschaft so tief in unsere Psyche eingegraben sind, dass wir im Zusammenhang mit der Vorstellung »im Paradies Pause zu machen« auf keinen Fall an die ‘wirkliche’ Welt denken wollen.

Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung von: Through White Eyes: The Packaging of People and Places in the World of the Travel Brochure. Zuerst erschienen in: Cultural Studies from Birmingham, Volume 2, Issue 1, 1998. Übersetzung: Christian Neven-du Mont.

Literatur




Kultur im Katalog

von Martina Backes

Die Vermarktung fremder Kultursymbolik spielt für die Inszenierung von Ferienkulissen eine gewichtige Rolle. Bilder über bunte Exoten durchziehen die Kataloge. Doch auch in der Produktwerbung sind verwandte Bilder anzutreffen. Heute gelten Logos weniger als Qualitätsgarantie für das Materielle eines Produktes, sondern vielmehr als Sinnbild für einen spezifischen Lifestyle. Bei der Suche nach wirksamen Symbolen für eine bestimmte Lebenshaltung greifen Werbedesigner zunehmend auf tradierte Zuschreibungen auf ‘fremde Kulturen’ zurück.

Erst aufgrund der touristischen Erfahrungen und des stereotypen »Wissens« über »fremde Kulturen« können die »Bilder« ihre Wirkung in der Werbung entfalten. Reisewünsche und Paradiesversprechen werden über die Abbildung exotischer Kulturelemente in den Alltag geholt und erfreuen sich so ständiger Präsenz. So wird über die Produktwerbung und die hier verwendete Kultursymbolik die Erinnerung an vermeintliche kulturelle Eigenheiten wachgehalten oder auch neue kulturelle Eigenschaften erdichtet.

Beliebt ist die scheinbar paradoxe Verbindung von Technik mit archaischen Elementen, wenn beispielsweise indigene Kulturen zum Werbeträger für automobilen Fortschritt herangezogen werden: Drei schmucke Samburu-Krieger schweben neben einem Opel Frontera stolz und kraftvoll (und natürlich bespeert) frei in der Luft; der Legende nach, erklärt der Werbetext, finden die schnellen Samburu-Krieger in dem Allrad-Wagen ihre Reinkarnation. Gedachte Eigenschaften einer Kultur werden quasi in Produkte eingeschrieben und damit käuflich und konsumierbar. Die für das Reisen typische Raumvereinnahmung wird in der Figur motorisierter Mobilität mit vermeintlich kraftvoll-kriegerischen Qualitäten verknüpft. Durch den Kauf versetzt sich der Kunde in eine privilegierte Position, indem scheinbare Gegensätze wie Technik und Archaisches gleichzeitig vereinnahmt werden können.

Eine Anzeige für McKinley Outdoorkleidung steht exemplarisch für die Verquickung imaginierter ethnischer Qualitäten mit einem Produkt, das für die Entdeckung der Wildnis gedacht ist (im Falle der McKinley-Anzeige geht es um geländefeste Schuhe). Wer McKinley trägt, so die Botschaft, kann diese Wildniserfahrung verinnerlichen. Eine nähere Beschreibung der materiellen Qualitäten der Schuhe erübrigt sich, denn schließlich bürgt die imaginierte Fitness einer Jahrhunderte lang wildniserprobten Kultur für das Beste.

Der Verwendung von Kultursymbolik in der Werbung scheint ein Muster zugrunde zu liegen, das Differenz insbesondere bei jenen Gruppen und in Kulturelementen vermutet, die am Rande der Gesellschaft existieren und mehr als schlichte Andersartigkeit, nämlich Widerständiges versprechen: Die aus dem westlichen Entwicklungsmodell ausgegrenzten marginalisierten Kulturformen. Das Verlangen nach Individualisierung und persönlichem Genuss erscheint als emanzipiert und freiheitlich, wenn kulturelle Elemente der unterdrückten und randständigen Mitglieder fremder wie hiesiger Gesellschaften in den eigenen Lebensstil integriert werden – und sei es mittels Autos oder Kleidung.

Über den exzessiven Differenzkonsum wird nicht nur Individualisierung, sondern auch Zugehörigkeit produziert: Denn die Individualisierten – kosmopolitisch, multikulturell und reisend – tragen die globale Erfahrungsvielfalt als Insignien ihres Lifestyles vor sich her. Diese Insignien reichen vom einfachen Körperkult wie Tattoos und Ethnoschmuck bis zum Insider-Wissen über spirituelle Zeremonien. Ihre Träger werden damit zu einer auch äußerlich erkennbaren Gruppe. Je individueller man wird – besser: je häufiger und exzessiver man sich individuelle Lebenserfahrungen durch den Konsum von Differenzangeboten leisten kann –, desto mehr gehört man letztlich dazu. Die Welt ist aus der Travellerperspektive durchzogen von nomadischen Subjekten, die sich ganz nach Belieben verschiedene Symbole für ihre Identitätsbildung zueigen machen. Heraus kommt eine erkaufte Kreolisierung - Hybridität wird zum globalen Style.

Das folgende Werbebeispiele hat den Diskurs über die multikulturelle Gesellschaft aufgenommen und verbildlicht – mit dem Ziel, so das jeweilige Produkt für einen Gewinn an Freiheit durch Individualisierung glaubwürdig zu machen. Zigarettenwerbungen setzen mit den Slogans test it (West), get connected to the flavor of the world und Experience the World (beide LM) am idealisierten Bild einer multikulturellen Gesellschaft an. Die Herkunft der irgendwie bunten Subjekte, die vorgestellt werden, ist nur in so weit relevant, als dass sie unterschiedlich scheint, nicht aber eindeutig zuzuordnen ist – ein Faktum, das dem hybriden Style und der Idee einer multikulturellen Gesellschaft, die sich zunehmend kreolisiert, sehr entgegenkommt. Und doch wird ein dichotomes Bild vom Fremden und Bekannten benutzt. Das Grundmuster schwarz-bunt vs. weiß ist für das Anbieten der Zigarette, für die Geste der Grenz-Überwindung und den verlockenden Versuch des Unbekannten (test it), nicht verzichtbar.

Die äußerst variantenreichen Bilder der Protagonisten in Experience the World (LM) erlauben, auch brüchige und widersprüchliche identitäre Deutungsmuster über deren Herkunft und Charakteren. Verwendet werden stumme Zeichen kultureller Differenz, die relativ frei interpretierbar sind und variable Zuordnungen erlauben. Erlebt wird über den Genuss der Zigarette, so die Message, ein nicht näher definiertes universalistisches Gefühl, ein kosmopolitischer Charakter, der die Überwindung von Grenzen im Spiel mit den Signifikanten kultureller Identitäten imaginiert.

Dieser Form der Subjektkonstituierung liegt ein doppelter Zwang zur Differenz inne. Erstens: Nur das Vorhandensein lokal verankerter Gesellschaften verleiht der durch multikulturellen Differenzkonsum erkauften Individualisierung überhaupt irgendeinen sich von der ‘Normalität’ abhebenden Wert. Die mobilen und multikulturellen Reisenden sind auf verortete und unbewegliche Kultur als Gegenpol geradezu angewiesen. Zweitens: Nur der permanente Vergleich bestätigt die gewonnene Individualität gegenüber der eigenen Gruppe. Differenzangebote werden so für die eigene Identität unverzichtbar, die Gefahr des Zerfalls der heute erreisten oder erkauften Individualität treibt dabei in immer neue Differenzerlebnisse.


Privilegierte Kosmopoliten

Die Reiseunternehmen, die Reisenden und die Bevölkerung in den Reisedestinationen ergänzen sich in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Differenz und ethnischer Identität. Gemeinsam ist den Reiseanbietern wie auch den Reisenden eine Einstellung gegenüber Kultur, die Slavoj Zizek als »die ideale Form der Ideologie des globalen Kapitalismus« bezeichnet. Gemeint ist der Multikulturalismus, der »gewissermaßen aus einer leeren globalen Position heraus jede lokale Kultur so behandelt, wie der Kolonisator die Kolonisierten behandelt«. Als Leerstelle beschreibt Zizek in seinem Beitrag über das »Unbehagen im Multikulturalismus« den Umstand, dass den »Eingeborenen, deren Sitten sorgsam studiert und respektiert werden müssen«, eben keine besonderen Werte der eigenen Kultur entgegen gehalten werden.

Diese privilegierte Leerstelle beanspruchen offensichtlich nicht nur die großen multinationalen Unternehmen für sich, indem sie »... gegenüber der lokalen Bevölkerung in Frankreich oder Amerika genau die gleiche Haltung haben wie gegenüber der Bevölkerung von Mexiko, Brasilien oder Taiwan«, oder – auf den Tourismus übertragen – indem sie TouristInnen und Bereiste gleichermaßen in ihrer jeweiligen Eigenart und Besonderheit betrachten, um dann Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Vielmehr beanspruchen auch die KonsumentInnen eine privilegierte Leerstelle für sich, indem ihre weltumspannende und multikulturelle Ideologie die ‘Fremden’ als Marionetten ihrer Kollektive betrachtet (schließlich ist deren Bodenständigkeit für die Abgrenzung zum mobilen Touristen konstitutiv), während sie selbst die Anerkennung der Kulturenvielfalt oder gar einen erkauften Hybriden style als politisch korrekte Einstellung vor sich hertragen. Zugleich deklarieren sie Wertneutralität gegenüber kulturellen Unterschieden und idealisieren Kreolisierung und Hybridität, die fortan käuflich ist. In diesem Prozess wird den aus hegemonialen Strukturen hervorgegangenen hybriden Subjekten ihre politische Komponente genommen. Hybridität ist dann weniger sichtbares Ergebnis von Herrschaftsverhältnissen. Konflikte und Spaltung, die von vielen in ihrer wandelbaren und hybriden Identität auch als Problem und Belastung oder zumindest als Moment der Krise erlebt werden können, gibt es in der käuflichen hybriden Identität nicht.

Voraussetzung wie Resultat dieses auf Kulturenverständnis setzenden Ferntourismus ist ein Bewusstsein über eine gesellschaftliche Ordnung aus immobilen kulturellen Identitäten und mobilen multikulturellen TouristInnen. Damit versetzen sich letztere durch ihre eigene vermeintliche Inhaltsleere und proklamierte Wertneutralität in eine gehobene Position und entreißen den hybriden Subjekten ihren subversiven Gehalt.

Die Werbebeispiele stehen exemplarisch für die (post)moderne Art des Umgangs mit Fremde (Wildheit ect). Fremde wird in vorgesehene, überschaubare und kontrollierbare - auch konsumierbare - Einheiten geschlossen, sei es an einem bestimmten touristischen Ort, sei es eingeschrieben in Produkte wie Zigaretten, Autos oder Outdoor-Kleidung: bezeichnend ist die räumliche und zeitliche Begrenzung, die Kontrollierbarkeit der Fremde, die ganz nach Lust und Laune konsumiert oder ignoriert werden kann. Die monokausale Entwicklungslinie vom Traditionellen zum Modernen, vom Primitiven zum Zivilisierten, soll zwar im Zuge der Aufwertung des ‘Indigenen’ und der Idealisierung des ‚Hybriden’ zum Kosmopolitischen durchbrochen werden. Doch weist diese Rehabilitation den »Anderen«, den Fremden und Exoten, den Hybriden und Subversiven, zugleich einen Platz zu, integriert sie als etwas Zweckmäßiges in die eigene Welt der Ordnung und Funktionalität. Indem der Blick hinter die Grenze (des Eigenen) auf die Fremde zum Genuss und zum käuflichen, kalkulierbaren Abenteuer wird (die Reise etwa führt weit weg - und rundum versichert wieder zurück), integrieren und funktionalisieren Tourismus und der an Produkte gekoppelte Erfahrungskonsum das, was zuvor von der Moderne als unzivilisiert und unbrauchbar ausgegrenzt wurde. Der touristische Umgang mit Fremden und das Einschreiben ihrer vermeintlichen Fertigkeiten und Leidenschaften in Produkte schaffen einen Flickenteppich von Kultur-Landschaften, eine mentale Landkarte, die zur Befriedigung eigener Sehnsüchte nach Bedarf herangezogen werden kann.

An die Stelle der Abgrenzung des Eigenen gegen einen unendlichen Raum wilder Fremde, der für die Moderne und den Kolonialismus typisch war, tritt die Integration dieser Fremde in den ganz und gar beherrschten Raum. Es entsteht eine speziell für und durch den Tourismus gemachte Landkarte, deren Orte der Andersartigkeit durch den auf ethnische und hybride Akzente kaum mehr verzichtenden Tourismus geschaffen werden. In diesem Sinne spielt Tourismus eine Pionierrolle: die hierarchische Rollenverteilung in der Gesellschaft und zunehmende soziale Polarisierung weltweit ist ohne Frage das Ergebnis einer ökonomischen Globalisierung nach neoliberalen Vorgaben – und doch nicht ohne die kulturalistischen Muster auf der Bilderebene denkbar, die ganz wesentlich der Tourismus kreiert und lebendig hält.

FernWeh 2004




»Ich reise, um zu leben«

von Rosaly Magg

Frauenreiseliteratur der 90er Jahre zwischen Flucht und Abenteuer

Seit einigen Jahren sind die Buchläden voll von »abenteuerlichen« Reisebeschreibungen »mutiger« und »außergewöhnlicher« Frauen, die allein in entlegenste Gebiete »vordringen« konnten und somit eine »bedeutende Bastion männlicher Alleinherrschaft« eroberten. Moderne Frauenreiseberichte wie der Bestseller »Die weiße Massai« von Corinne Hofmann beschwören die Besonderheiten des »weiblichen Aufbruchs« in die Fremde. Allein die Tatsache, dass Frauen reisen, wird hierbei als emanzipatorisch bewertet. Welche anderen Potentiale und Problematiken darin verborgen sind, wird meist übersehen oder geleugnet.

Reisen heißt Differenz herstellen. Die Fremde dient dabei der Abgrenzung vom Eigenen und wird zum Ort, an dem das reisende Subjekt über sich selbst und seine Welt nachdenken kann. So besteht Reisen aus einem Zusammenspiel daraus, wie das Ich sich selbst und andere, also die Fremde wahrnimmt. Die Kriterien für die verschiedenen Wahrnehmungen können sich überlappen und widersprechen. Die Konstruktionen der Fremde und des Selbst bedingen sich in diesem Prozess gegenseitig. Fremdheit ist Ausdruck dieses Beziehungsverhältnisses. Fremde ist in der reisenden Wahrnehmung Diskontinuität, das Nicht-Eigene. Es kann nur zusammen mit dem Selbst gedacht und durch Abgrenzung (Ein- und Ausgrenzung) definiert werden.1 Reisen ist eine Form des Kulturkontaktes, bei dem die individuelle Persönlichkeit der Reisenden eine gewichtige Rolle übernimmt. Das Selbst ist im Kontext der Reise vor allem durch die Faktoren Geschlecht, kulturelle Identität, soziale Herkunft und Einstellungen bestimmt und muss in der Fremde einen Umgang mit kultureller Differenz finden. Wie dieser gestaltet wird, hängt von der Interaktion von Fremd- und Selbstwahrnehmung ab.

Reiseliteratur kann nicht als bloßes Ergebnis einer Reise gehandhabt werden, sondern muss im Licht aktueller Diskurse gesehen werden. Es gibt auch innerhalb der Reise kein herrschaftsfreies Vakuum. Die Produktion von Diskursen hängt nach Foucault mit Institutionen der Macht2 zusammen, Orte, an denen bestimmt wird, auf welche Art worüber gesprochen, geschrieben oder gedacht wird oder eben nicht. Diese Diskurse bestimmen auch die jeweilig bestehenden Weiblichkeitsmuster. Die Ursachen für unterschiedliche Wahrnehmungsstrategien reisender Frauen liegen in eben diesen Definitionen von Macht und Weiblichkeit. Sowohl Fremde als auch Weiblichkeit werden seit Jahrhunderten mit Urzustand, Wildheit und Naturhaftigkeit in Verbindung gebracht.3 Indem die Reisenden kulturell bestimmten Weiblichkeitszuschreibungen genügen sollen, rücken sie in die Nähe der bereisten Fremde. Die Fremde selbst wird aus eurozentrischer Sicht sexualisiert, sie wird zu einem Frauenkörper, der entdeckt und erobert werden ‘muss’. Reisende Frauen betreten nun das »jungfräuliche Land« der Fremde, das Ziel der Entdeckung ist. Gleichzeitig sind die Frauen selbst das unentdeckte Mysterium männlicher Gedankenwelten. Somit wird reisenden Frauen ein neuer Platz im sexualisierten Bild von Frauen zugewiesen. Ihre Reiseberichte zeichnen sich dadurch aus, dass die Beziehung zu den dominanten Diskursen variiert, denn die reisenden Frauen sind Teil des »weiblichen« Diskurses, nehmen jedoch gleichermaßen an Fremdheitsdiskursen teil. Sie grenzen sich damit zusätzlich (als Unterdrückte im Heimatland) gegenüber dem Fremden durch mehr oder weniger extreme (Vor-)Urteile ab oder meinen sich – als selbst Unterdrückte – mit dem »Anderen«, den ebenfalls Unterdrückten, identifizieren zu können.4 Diese Verschmelzungsversuche sind meist zum Scheitern verurteilt.

Der Blick auf aktuelle Frauenreiseliteratur und auf die Besonderheiten »weiblichen« Schreibens zeigt, dass der Umgang mit der Fremde und der eigenen Kultur und Identität fast durchgängig im Vordergrund steht. Die Fremde als Projektionsfolie wird von reisenden Frauen unterschiedlich genutzt, die Sichtweise auf andere Kulturen wechselt oft zwischen Idealisierung und Zivilisationskritik. In aktuellen Frauenreiseberichten lassen sich die unterschiedlichsten Umgangsweisen mit fremden Kulturen finden, die alle einen ganz persönlichen Zugang zur jeweils bereisten Fremde erahnen lassen. In der Analyse von sechs ausgewählten Frauenreiseberichten möchte ich diese unterschiedlichen Herangehensweisen verdeutlichen. Wurde bislang in der Frauenreiseliteraturforschung zumeist die befreiende und emanzipatorische Grundhaltung in Frauenreiseberichten betont, so möchte ich diese Beurteilung in Frage stellen oder zumindest relativieren.


Ein ganz persönlicher Zugang

Reiseschriftstellerinnen wie Bettina Selby »Timbuktu! Eine Frau in Schwarzafrika allein mit dem Fahrrad unterwegs«5 oder Lieve Joris »Mali Blues«6 nehmen zum einen einen verklärenden Blick auf die fremde Kultur ein, indem sie deren Werte und Traditionen in den Vordergrund stellen, zum anderen aber projizieren sie in ihr Bild von der Fremde unreflektierte Rassismen. Ihr Fremdbild ist von »weiblichen« Sehnsüchten und eurozentrischen Stereotypen geprägt, die aus dem Selbstverständnis als reisende Vertreterin der westlichen Welt gespeist werden. Bettina Selby ist laut Klappentext »mit dem roten Fahrrad zu uralten Kulturen« unterwegs und meistert alle sich ihr stellenden Gefahren bravourös, da es »das oberste Gebot eines Reisenden ist, alle Gefahren zu überleben, wenn er seine Geschichte erzählen will«. Einerseits schwärmt sie für die Traditionen schwarzafrikanischer Ethnien, andererseits bezeichnet sie alles, was nicht in dieses Schema passt, wie am Straßenrand stehende Bettler, als hinderlichen »Afrika-Faktor«. Selby ist auf der Suche nach »echtem« Kontakt zu den Nomadenvölkern, aber dieser lässt sich kaum finden, da sie mit der Nomadenkultur Freiheit, Wildheit und Urzustand verbindet. »Eine gewisse Eigenart schien sie zu umgeben, ganz ähnlich wie das Rotwild in den Bergen – etwas Freies und Wildes – aber im wesentlichen Unbedrohliches.« Oft stehen in Reiseberichten Wunschbilder anstelle von realistischer Begegnung. Sobald die Realität diesen Bildern widerspricht, wird sie abgelehnt oder verworfen. Blanker Rassismus steht demzufolge eng neben exotistischen Projektionen, die den Urzustand der Fremde glorifizieren.

Lieve Joris geht auf ähnliche Weise wie Bettina Selby auf die sie faszinierende Seite Afrikas ein. Im ersten Teil ihrer »afrikanischen Notizen« ist sie um eine intensive Auseinandersetzung mit den gegensätzlichen Wertvorstellungen von Senegalesen und Franzosen bemüht, doch im zweiten Teil ihres im Tagebuchstil geschriebenen Berichtes stellt sie sich die scheinbar unabdingbare Frage, ob sie doch »vielleicht nur auf der Suche nach dem edlen Wilden« sei. In »Mali Blues« schildert Joris das Zusammenleben mit dem bekannten Sänger Kar, über den sie eine Art Biographie schreiben will. Schreibend greift sie in sein Leben ein, denn durch diese »Jagd nach Geschichten« sieht sie sich in der Lage, eine ganz persönliche Bindung zum bereisten Land herzustellen. Durch die spezielle Bindung an das Schicksal Kars hat sie »das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu sein«, obwohl sie »hier so weit vom Weltgeschehen entfernt« ist. Joris Schreiben kreist letztendlich nur um sich selbst, denn sie selbst ist das Zentrum der Wahrnehmung, unabhängig von der von ihr beschriebenen Kultur. Die von ihr wahrgenommene Nähe entpuppt sich als Vereinnahmung des »Fremden«, als Aneignung von dessen Geschichten für das Selbst.

Bettina Selby und Lieve Joris versuchen auf unterschiedliche Art und Weise, körperliche und imaginäre Grenzen zu überwinden, um die Authentizität ihrer Reisen zu untermauern. Selby begibt sich dabei neben ihren Radtouren durch weite Wüstenabschnitte auf extreme Kanutrips in bisher nicht von EuropäerInnen befahrenen Gewässern. Joris ist während ihres gesamten Afrika-Aufenthaltes auf der besagten »Jagd nach Geschichten« menschlicher Leidenswege. Bei der Durchquerung von Räumen sind sowohl Selby als auch Joris auf ihre eigene Körpererfahrung zurückgeworfen, sie kommen an ihre Grenzen oder überschreiten diese durch körperliche Selbstüberwindung. Reisende Frauen überschreiten zusätzliche Körper- und Geschlechtergrenzen, die auf die Besonderheit weiblicher Erfahrungswelten zurückzuführen sind, wie in den folgenden Beispielen deutlich wird. Moderne Frauenreiseberichte orientieren sich an einer »neuen« Form des Reisens. Im Vordergrund steht dabei kein neokolonialistischer Kulturexport, sondern die Überschreitung von Grenzen auf der Reise. Vor allem über den Körper kann ein neuer Zugang zu fremden Kulturen gesucht werden. Auf Grund ihres Geschlechts bewegen sich Frauen auf Reisen immer im doppelten Diskurs. Frauen sind als Reisende Subjekt und gleichzeitig Objekt, indem sie als Projektionsfläche für Zuschreibungen und Geschlechterstereotype in der eigenen und in der fremden Kultur dienen.


Geschichten von mutigen Frauen

Der Faktor Geschlecht markiert besonders bei Corinne Hofmanns Bestseller »Die weiße Massai«7 die Ausgestaltung der Fremderfahrung. Hofmann reist nach Afrika und heiratet einen »schönen Massai, ihren Krieger«. Ihre romantisierte und kitschige Sichtweise der fremden Kultur wird auf das Geschlechterverhältnis übertragen. Hier wird die Exotik des Reisens mit der Erotik des Reisens verbunden – und somit eine Nähe zur Fremde erreicht, nach der sich Reisende sehnen. Das Verschmelzen mit der Fremde soll durch eine romantische Beziehung vollzogen werden. Dabei überschneiden sich jedoch die Machtverhältnisse: als weiße Frau nimmt Hofmann eine privilegierte Stellung gegenüber den Massai ein. Gleichzeitig ist sie nach ihrer Heirat die »Unterlegene« im Geschlechterverhältnis. Reisende wie Hofmann können weder die kolonialistischen Weiblichkeitsbilder umkehren noch stellen sie rassistische Konstruktionen der Fremde in Frage. Durch ihre romantische Sehnsucht nach dem »edlen Wilden« reproduzieren sie diese ständig neu.

Marlo Morgans »Traumfänger«8 repräsentiert eine völlig neue Stilrichtung innerhalb der Reiseliteratur. Es handelt sich hierbei um einen »fantastischen« Reisebericht, der Märchen und Mythen der Aborigines zum Gegenstand eines auf Tatsachen beruhenden Romans nimmt. Morgans Ökotourismus-Botschaft ist mit ihrem eigenen esoterischen Weltbild eng verbunden. Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Strukturen westlicher Industrienationen finden durch eine körperlich extreme Fremderfahrung im australischen Outback statt. Wieder verspricht der Klappentext eine »Geschichte einer mutigen Frau, die mit den Aborigines wanderte und die wundervollen Geheimnisse und die Weisheiten eines sehr alten Stammes erfuhr«. Das festgeschriebene Ziel dieser Wanderung ist die Befreiung vom Sein und die Belehrung der »westlichen Welt«, die Zerstörung der Erde aufzuhalten. »Die Weisheit dieses Volkes erstaunte mich immer wieder aufs Neue. Wenn doch nur sie es wären, die die Welt regierten, wie anders würden die Menschen miteinander umgehen.« Auch hier scheint das »edler-Wilder-Syndrom« einer sich als Ökologie-Botin auserwählt fühlenden Reisenden ganz deutlich durch. Morgan will eine Botschaft vermitteln und sie lässt die LeserInnen von dieser Botschaft kosten, bis sie daran ersticken. Letztendlich flüchtet sich Morgan in eine ganz persönliche Traumwelt, deren Grenzen innerhalb der eigenen Erfahrungen und Geschichte liegen.


Im Traumland verschwunden

Selbstverwirklichung und Abenteuersehnsucht, Entdeckung und Grenzüberschreitung sind Paradigmen der Fremderfahrung. Sara Wheelers9 Antarktisreise steht beispielsweise für eine dieser ultimativen Herausforderungen, denen reisende Frauen sich stellen. In »Terra incognita« schreibt sie über den einzigen nicht von »Einheimischen« bevölkerten Raum der Erde. Diese »Fremde pur« ist für Wheeler reines Abenteuer ohne den »Störfaktor« Mensch. Als Frau in dieser Eiswüste unterwegs zu sein, ist ein ganz besonderes Privileg. »Ich betrat angestammtes männliches Territorium – es kam mir vor wie ein Männerclub, wie eine Fortsetzung der Internatsschule und der Armee«. Die Einsamkeit der Antarktis bringt Wheeler zum Nachdenken über die Gründe ihrer Reisesehnsüchte. Sie stellt sich die Frage, ob sie nun auf der Flucht vor etwas oder auf der Suche nach etwas sei. »Reisen bedeutete entweder Entdeckung, ein Überschreiten von Grenzen aller Art oder aber es war ein bequemes Hintertürchen, durch das man in ein Traumland verschwinden konnte.« Reisen gehören zum »lifestyle« moderner Frauen, denn sie verhelfen zu einem von patriarchalen Machtdiskursen befreiten Selbstbild. Der freie Zugang zur Mobilität ist für die reisenden Frauen des 20.Jahrhunderts eine vollkommen neue Erfahrung. Selbst eine Reise in die Antarktis wird denkbar. Selby kann die »letzte große Reise antreten, die dem Menschen noch bleibt, denn heute ist die Welt geschrumpft, und ich war in der Lage, bis an ihre entlegenste Stelle zu gelangen«. Damit knüpft Selby schließlich nahtlos an die Eroberungsmetaphern männlicher »Entdecker« an.

Frauen erfinden sich neu in ihrer Rolle als schreibende Touristinnen, können Abenteuer bestehen und der Welt davon erzählen. Sowohl Wheeler als auch Morgan sind davon überzeugt, eine Botschaft zu vermitteln – sei es die von der Flucht in den letzten unbewohnten Fleck dieser Erde oder die Botschaft einer vom Untergang bedrohten Welt. Diese Eindrücke schreibend zu verarbeiten, ist der Gattung Reiseliteratur eigen. Sobald Frauen jedoch ihre Selbst- und Fremderfahrungen beschreiben, strukturiert der Faktor Geschlecht und die daraus resultierenden Sonderformen der Wahrnehmung die Reiseberichte. Die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit manifestiert sich in den Reisen aller AutorInnen. So erkennt Wheeler beispielsweise, dass »die Freiheit mir wichtiger war als ein Partner oder Kinder, und unterwegs war ich frei«; und Morgan wurde von »ihrem« Stamm als Botin erwählt, um der Welt mitzuteilen, dass die Aborigines diese Erde verlassen, bevor diese untergeht. Eine Reflexion der Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer diese Reisen stattfinden, fehlt diesen Berichten gänzlich.

Die flüchtige Wahrnehmung des Fremden auf der Reise ist der Stoff, aus dem Reiseliteratur geformt ist. Es ist schwer, eine Abgrenzung zwischen Reiseliteratur und Reisetagebuch vorzunehmen. Lieve Joris afrikanische Notizen stellen eine solche Zwischengattung dar. Sie stellt ihre eigenen Wahrnehmungsmuster vor und hat gleichzeitig den Anspruch, Menschen und ihre Geschichten zu beschreiben. So werden Touristinnen zu Autorinnen und nehmen dabei eine Abgrenzung ihrer Reisen von touristischen Reisen vor. Auch wenn Joris Mali verlassen wird, ist sie »froh, keine Touristin zu sein, sondern zu den Menschen zu gehören, die drinnen im Hof beieinander sitzen.« Am Realitätsgehalt dieser Illusion zweifelt auch selbst Selby nicht, wenn sie sich von außen in die »Rolle der Fremden gedrängt fühlt, die draußen steht und hereinschaut«. Ihr Selbstbild ist eben ein vollkommen anderes: Da sie sich für die Ursprünge und Traditionen der afrikanischen Kultur interessiert, fühlt sie sich nicht als Fremde. Reisende kommen an irgendeinem Punkt ihrer Reise zu der Erkenntnis, nicht mehr fremd sein zu wollen, es aber dennoch zu bleiben. Daraus können zweierlei Konsequenzen gezogen werden: Entweder die Reisenden kehren dahin zurück, woher sie gekommen sind oder sie bleiben und akzeptieren dieses Gefühl der letztendlichen Fremdheit.


Die Jagd nach Superlativen

Die Autorinnen von heutigen Reiseberichten versuchen mit unterschiedlichen Mitteln, die Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu überwinden.

Die Autorinnen von heutigen Reiseberichten versuchen mit unterschiedlichen Mitteln, die Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu überwinden. Sie beschreiben ihre ganz persönlichen Fremderfahrungen mit Hilfe neuer Reiseformen und Begegnungsweisen. Sie befinden sich auf der Jagd nach Superlativen. In Sara Wheelers Antaktisbericht ist die vermeintliche Attraktion die unbewohnte Weite, die menschenleere Fremde. Während bei Bettina Selby und Lieve Joris vor allem der Umgang mit fremden Kulturen im Vordergrund steht, dreht sich das Denken und Schreiben bei Corinne Hofmann, Lucy Irvine und Marlo Morgan um die Erfahrung des »weiblichen Ichs« in einer fremden und zugleich traumhaft anmutenden Wirklichkeit. Die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem wird bei allen diesen Reiseberichten von der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung überlagert. In der Auseinandersetzung mit der Fremde wechseln dabei die Perspektiven der Autorinnen auf ihr Selbst. Um aber die Unterscheidung von Fremdem und Eigenem beizubehalten, müssen die Reisenden herrschende Weiblichkeitsmuster und die persönliche Identifikation mit ihrem Geschlecht ständig in den Wahrnehmungsprozess miteinbeziehen. Die von Frauen entworfenen Fremdheitsbilder sind nicht weniger rassistisch oder unreflektiert und auf sich selbst bezogen als die der männlichen Reisenden, denn ihr Ursprung liegt in denselben kolonialen Herrschaftsdiskursen. Sie unterscheiden sich jedoch grundlegend durch die geschlechtsspezifische Wahrnehmung von Körper und Raum.

Anmerkungen
  1. Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt 1990; Robert Miles: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg 1991
  2. Michel Foucault: Die Ordnung der Diskurse, Frankfurt 1991
  3. Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990
  4. Sara Mills: Discourses of difference. An analysis of women‘s travel writing and colonialism, New York 1991
  5. Bettina Selby: Timbuktu! Eine Frau in Schwarzafrika allein mit dem Fahrrad unterwegs, München 1994
  6. Lieve Joris: Mali Blues, München 1998
  7. Corinne Hofmann: Die weiße Massai, München 1998
  8. Marlo Morgan: Traumfänger. Die Reise einer Frau in die Welt der Aborigines, München 1995
  9. Sara Wheeler: Terra incognita. Reisen in die Antarktis, München 1999




Coloured Wildlife - Afrika in Reiseführern

von Tina Goethe

East Africa. Auf dem Buchdeckel des Lonley Planet Reiseführers ist der Kopf eines Schwarzen im Profil abgebildet. Die Silhouette ist dunkel, ohne jede Abstufungen. Sie dient lediglich als Kulisse für den aufwändigen traditionellen (?) Schmuck, den er an Ohr und Hals trägt. Unterm Foto ist zu lesen: »Includes 32-page colour wildlife guide«.

In Reiseführern werden in besonderem Maß Bilder und Projektionen präsentiert. Das beschriebene Cover des Ostafrika-Reiseführers aus dem lange als alternativ und anspruchsvoll geltenden Verlag lonely planet steht exemplarisch für die exotisierenden Darstellungen Afrikas und seiner Bevölkerung in dieser Literaturgattung wie in der Reisebranche allgemein.

Tourismus lebt von Klischees, bewirbt und verkauft Stereotype, Bilder und Projektionen der zu bereisenden Länder. Reiseführer nehmen neben Werbeprospekten und Reisekatalogen eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen Kunde (TouristIn) und Produkt (Reiseland) ein. Ihre Aufgabe ist es, Verbraucherinformationen für den erfolgreichen Verlauf (Konsum) der Reise (des Produkts) zu geben. Je nach Reiseform wird Reiseführern unterschiedliche Bedeutung zugestanden – am ehesten sind IndividualtouristInnen auf sie angewiesen. Und je nach Zielgruppe verfolgen sie unterschiedliche Ansprüche und differieren daher stark im Informationsangebot. Alle jedoch geben vor, (Hintergrund-) Wissen über Land und Leute zu vermitteln, das dem »Verstehen« und der Orientierung im fremden Land dienlich sein soll. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Reiseführer viel eher die Klischees der TouristInnen bedient, als dass sie anstrebten, einen differenzierten Eindruck über Land und Bevölkerung zu vermitteln. Reiseführer sind fast ausschließlich Fremddarstellung, in den seltensten Fällen Selbstdarstellung. Dargestellt wird, was Reisende sehen wollen und sollen, nicht was »Bereiste« zeigen wollen.

In der Studie »Vorbereitung für Verständigung« analysiert Anke Poenicke das Afrika-Bild in deutschen Reiseführern.1 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass insbesondere die fotografische Darstellung sich nur wenig von den typischen Bildern in der Reisewerbung unterscheidet. Gerade in Kenia-Reiseführern überwiegen die Klischees: Fotos von Löwen, Leoparden, Stränden und Hotelpools erwecken »beim schnellen Durchblättern den Eindruck relativ menschenleerer Gebiete, und wenn dann Menschen vorkommen, sind es meist Massai oder ähnlich traditionell gekleidete Menschen – Städter oder Städterinnen sind bei den Großaufnahmen rar.« Afrikanische Menschen sind meist schlecht zu erkennen, weil die Fotos zu dunkel sind bzw. aus zu großer Entfernung aufgenommen wurden. Demgegenüber treten TouristInnen in schicker europäischer Tropenkleidung auf, die mit ihrer selbstsicheren Haltung auch in ungewohnter Umgebung als Nachfolger der »Entdecker« und Kolonialisten wirken. Auch in Terminologie und Themenauswahl werden (rassistische) Stereotypisierungen, mal direkter, mal subtiler (re)produziert. »Üblich ist es, zuerst die Tiere und dann die Menschen abzuhandeln, meist mit einer Überleitung, die eine Parallele zieht zwischen der Vielfalt der Tiere und ‘Ethnien’.« Menschen und Tiere erscheinen so gleichermaßen als exotische Attraktionen. Gerade die Analyse der im Text verwendeten Terminologie macht deutlich, dass auch in der Reiseliteratur Afrika und Europa häufig mit unterschiedlichen Begriffen dargestellt werden. »Das führt fast automatisch dazu, dass Afrika dann wieder primitiv und im Vergleich unterlegen wirkt.« So ist in den Texten immer noch von Stämmen, viel von Ethnien und Völkern die Rede, die zudem meist mit verallgemeinernden Adjektiven versehen werden. Man erfährt von »flinken Kikuyus«, »stolzen Massai« und »kriegerischen Turkana«. »Kriegerisch scheinen aus deutscher Sicht überhaupt viele Kenianer zu sein, was aus der Geschichte der eigenen Gesellschaft einigermaßen bizarr anmutet.« Zusammenfassend kommt Poenicke vor allem in Bezug auf die Kenia-Literatur zu dem Schluss: »Das Bild, das bleibt, ist sonst weiterhin das eines Landes (bzw. in der üblichen Verallgemeinerung eines Kontinentes), in dem nur oder vor allem die Europäer agiert haben und agieren, die Kenianer (bzw. die Afrikaner) aber als passive und anonyme Masse in statischen Gesellschaften schon immer gelebt haben und am liebsten weiterhin leben.«

In den Büchern zu westafrikanischen Reiseländern wird ein etwas anderes Bild vermittelt. »Autorinnen und Autoren wie Reisepublikum scheinen hier weniger nach ‘Out of Africa’ dafür manchmal mehr nach ‘Ethnokleidung, -musik etc.’ (was immer darunter zu verstehen ist) zu suchen.« Mit der einzigen reiseführerischen ‘Selbstdarstellung’ gelingt dem Ghanaer Cobbinah2 ein herausragendes Positivbeispiel. Sein Reisebuch über Ghana schafft es, Menschen als aktive und unterscheidbare Personen darzustellen, die nicht vornehmlich als TrägerInnen einer dekorativen Tradition herhalten. Ghana erscheint als ein Land mit Geschichte und Gegenwart, mit Natur und Gesellschaft. »Cobbinahs oft humorvolle Kommentare erklären zum einen stimmig Dinge, die Fremde sonst nicht verstehen, also im doppelten Sinnen nicht »sehen« würden, und beherrschen dabei zum anderen die Kunst, über sich selber zu lachen.«

Anmerkungen:
  1. Vorbereitung für Verständigung? Deutsche Reiseführer zu Ländern Afrikas auf dem Prüfstand. Anke Poenicke, Pro Afrika e.V., im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission, Bonn.
  2. Jojo Cobbinah: Ghana. Praktisches Reisehandbuch für die »Goldküste« Westafrikas. Peter Meyer Reiseführer, Frankfurt 1999.




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