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Das Un-Behagen in den Kulturen

von Christopher Vogel

Multikulturelle Gesellschaft auf Reisen

Auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe in Kassel warnte mich kürzlich eine Lautsprecherdurchsage: »Seien Sie misstrauisch gegenüber Fremden, die Ihnen beim Einsteigen behilflich sein wollen!« – Was nun? Wer von den vielen Fremden um mich herum (ich kannte absolut niemanden auf dem gesamten Bahnsteig) würde es wagen, mir behilflich zu sein? Sollte ich die Security-Beamten rufen, sobald ein scheinbar freundlicher Mensch Anstalten machte, mein Fahrrad zu berühren, das ich nun mühsam in den Zug hieven würde?

Die Durchsage der Deutschen Bahn erinnert in vielerlei Hinsicht an die Warnungen in Reiseführern und von Reiseveranstaltern, die Urlauber vor fremden Einheimischen schützen wollen, wenn diese sich zu freundlich geben, ungefragt den Weg in preiswerte Hotels und Restaurants weisen oder gar Ware zum Verkauf anbieten. Vor solchen Schnäppchen solle man auf der Hut sein, denn hinter jedem Handel könnte ein Betrug stecken und hinter jedem freundlichen Fremden ein hinterhältiger Dieb.

Die Warnungen auf dem heimischen Bahnhof wie die im Reiseführer sind mehr als ein Tipp, wie man sich gegen Diebe und Betrüger schützen kann. Sie geben vor, Fremdheit identifizieren zu können. Und sie raten zu einer Skepsis gegen all diejenigen, die die Distanz nicht wahren, die das Fremdsein nicht akzeptieren und Kontakt suchen. Die Verdächtigen sind also nicht etwa die ganz offensichtlich Fremden, sondern vielmehr diejenigen, die der vermeintlich ›eigenen Kultur‹ nahe treten: Straßenhändler, die die Sprache der TouristInnen sprechen, Taxifahrer und Fremdenführer, die die Vorlieben ihrer Kunden kennen, oder eben ›die Fremden‹ im eigenen Land, die vorgeben, hiesige Anstandsregeln zu kennen und freundlich zu sein. Verdächtig ist offenbar, wer ›Kulturschranken‹ überwindet, wer sich aus den vorgegebenen Rastern heraus begibt. Die Kontaktsuche, so die Unterstellung, kann nicht selbstlos sein, der ›Fremde‹ versucht einen Gewinn aus der Begegnung zu ziehen.

Was ist es also, das die Angst vor dem ›Fremden‹ und die ›Fremdenfeindlichkeit‹ ausmacht – das Fremde selbst oder dessen Annäherung? Zuweilen scheint das gänzlich Andere, die ›fremde Kultur‹, weniger bedrohlich zu wirken als all das, was sich nicht klar zuordnen lässt, was ›zwischen den Kulturen‹ steht. Offenbar ist es wichtig zu wissen, mit wem man es zu tun hat: mit einem/einer Deutschen oder einem/einer Angehörigen einer anderen ›Kultur‹. Gefordert ist ein klares Bekenntnis zur ›Herkunft‹, zur ›Kultur‹, zur ›nationalen Identität‹. Wenn die fremde Kultur auf Distanz bleibt und ihre Eigenheiten wahrt, bietet sie konsumierbare Exotik. Das zeigt sich in der multikulturellen Gesellschaft wie im Tourismus: Traditionelle Musik, exotische Tänze und typisches Essen sind für hier lebende MigrantInnen wie für die Bereisten in Touristengebieten gute Geschäfte, für die Mehrheitsgesellschaft und für TouristInnen ein Reiz von Exotik. Das Geschäft in der multikulturellen Gesellschaft beinhaltet einen Zwang zum Anderssein.

Dies steht im Gegensatz zum Zwang zur Anpassung, der in der Debatte um eine deutsche Leitkultur immer wieder zum Vorschein kommt. Hier erscheint das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität oder Herkunft in der Bundesrepublik aufgrund kultureller Unterschiede konfliktbeladen. Symbole fremder Kulturen wie Kopftücher, Moscheen und fremde Sitten bieten immer wieder Anlass für hitzige Kontroversen. Während also die einen Respekt für die Fremden lehren und AusländerInnen als dringend notwendige Bereicherung darstellen, behaupten andere die Unvereinbarkeit mit deutschen Gepflogenheiten.

Nur im Tourismus scheinen sich alle einig: Hier ist das Kennenlernen von fremden Kulturen ein entscheidender Faktor zur Gestaltung der schönsten Wochen des Jahres. Und es sind gerade die zu Hause strittigen Symbole nichtdeutschen Alltagslebens, die wichtige Attraktionen in der Urlaubsgestaltung sind: Der Moschee-Besuch in den Türkei-Ferien, vermeintlicher Müßiggang und ein anderes Zeitgefühl der Einheimischen. Doch scheint dies keine Auswirkungen auf die Weltoffenheit der deutschen »Reiseweltmeister« zu haben. Im Gegenteil: Obwohl (oder vielleicht gerade weil) diese immer mehr und immer weiter in der Welt herum kommen, werden die Verhältnisse hierzulande eher rassistischer: Europa schottet sich ab, AusländerInnen werden als Gefahr für die innere Sicherheit dargestellt und sollen sich anpassen. Und obwohl (oder vielleicht gerade weil) die multikulturelle Gesellschaft als wünschenswertes Ziel propagiert und der Beitrag ausländischer Küche und Kultur zum deutschen Einerlei gelobt wird, erscheinen gleichzeitig AusländerInnen als eine Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft. Warum sollen sich die selben Menschen, die stellvertretend für schöne Urlaubserinnerungen und das Andersartige in Küche, Musik und Lebensauffassung stehen, nun plötzlich an die deutsche Kultur anpassen?


Sind wir nicht alle ein bisschen fremd?

Die Begriffe ›fremd‹ und ›Kulturen‹ sind klärungsbedürftig. Fremd ist etwas nur im Verhältnis zum Eigenen. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass in der Entwicklung des Individuums das Fremde schon sehr früh konstruiert wird. Demnach ist das Fremde zunächst alles, was das Individuum nicht der Mutter und deren Umfeld zuordnen kann. Es erfüllt folgende Funktion: Das Bild vom Selbst wird in Abgrenzung zu Anderen hergestellt. Anfangs auf die Familie beschränkt, lernt das Individuum spätestens in der Pubertät, sich als Teil einer Gruppe zu betrachten und diese im Gegensatz zu den »Fremden« zu definieren. Alles Positive wird dem Eigenen zugeschlagen und eigene unerwünschte Anteile und Ängste werden verdrängt, abgespalten und auf andere projiziert. Als Ergebnis erzeugt dieser Abspaltungsprozess Angst und Aggression, aber auch Faszination und Neugierde. Dies gilt aber nur für Fremde als abstrakte Wesen, sie bieten sich als Projektionsfläche an. Ihnen können alle möglichen negativen Eigenschaften, die man an sich selbst nicht wahrnehmen möchte, bzw. verdrängt hat, angedichtet werden. Gleichzeitig ist Fremdes auch spannend, neu und will ›entdeckt‹ werden.

Obwohl zwei Seiten derselben Medaille, überwiegen meist die negativen Projektionen. Die Rufe nach Integration zeugen davon, dass Anderssein nicht erwünscht, bzw. nur schwer aushaltbar ist. Wenn ich mich schon den gesellschaftlichen Zwängen und Ansprüchen untergeordnet habe, sollen das die anderen gefälligst auch tun. Dabei erfüllt das Bild des Fremden auch gesellschaftlich die Funktion, durch Ausschluss eine Gemeinschaft zu produzieren. Im gesellschaftlichen Diskurs erscheinen die Fremden als Masse, die ›unserer‹ Gesellschaft äußerlich sind. Und nur auf dieser abstrakten Ebene kann dieser Ausschluss funktionieren. Denn sobald es um den konkreten Fremden geht, der als Individuum handelt und sich verhält, wird es schwierig, die verbreiteten Horrorszenarien auf ihn zu projizieren. Dann ist er/sie ArbeitskollegIn oder NachbarIn, dem/der man nicht unterstellt, Bombenanschläge zu planen oder aus dem Kiez einen orientalischen Basar machen zu wollen. Diese persönliche Ebene muss aber keinesfalls zwingend in ein toleranteres Verhalten führen, denn auch der überzeugteste Rassist kann einen netten Filipino kennen und ihn zumindest in seinem Umfeld akzeptieren.


Leitkultur, Subkultur, Kulturbeutel

Dabei ist es weder zufällig, was und wer als fremd definiert wird, noch handelt es sich um eine rein individuelle Entscheidung. Hier kommt die Gesellschaft oder wenn man so will die Kultur ins Spiel. Würde ich mich nun dazu hinreißen lassen, sagen wir mal die Gruppe der Bayern als die Fremden zu outen, weil sie eine komische Religion, noch viel seltsamere Sitten haben und außerdem uns Preußen mit ihren PolitikerInnen unterwandern wollen, so würde ich mich in weiten Teilen der Bevölkerung lächerlich machen. Sage ich dasselbe über Türken, werde ich wohl in vielen Eckkneipen auf ein Herrengedeck eingeladen. Die Konstruktion des Fremden ist also kein Selbstzweck oder irrationale Verfehlung, sondern dient entscheidend der Konstruktion einer eigenen (Gruppen-) Identität. Im Gegensatz zu früher, wo vor allem körperliche Merkmale das Hauptkriterium zur Unterscheidung zwischen ›denen‹ und ›uns‹ waren, ist heute die ›Kultur‹ die Unterscheidungskategorie – zumindest offiziell. Denn würde sich eine Farbige in oben erwähnter Eckkneipe über die Türken auslassen, so könnte sie nicht unbedingt mit Zustimmung rechnen. Kultur hat also Rasse nicht einfach als Abgrenzungskriterium abgelöst, trotzdem sind die Inhalte der Differenzierung heute eher kulturalistisch geprägt. Das wirft die Frage auf, was denn mit Kultur überhaupt gemeint ist.

Eine allgemein anerkannte Definition von Kultur existiert meines Wissens nicht. Brauchbar erscheint mir in diesem Zusammenhang die Position, wie sie von VertreterInnen der Cultural Studies wie z.B. Stuart Hall eingenommen wird. Demnach umfasst Kultur die Bedeutungen und Werte von verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen auf der Basis ihrer historischen Bedingtheit und Beziehungen und die gelebten Traditionen und Praktiken, durch die diese gemeinsamen Werte und Bedeutungen ausgedrückt und verkörpert werden. Kultur existiert nicht einfach, sondern entwickelt sich sozial und geschichtlich und wird von ihren Angehörigen auch immer wieder reproduziert. Kultur ist nichts Statisches, schon gar nicht in größeren Einheiten, wie man sich das bei Nationen oder gar ›Kulturkreisen‹ vorstellt.

Ausdifferenzierungen innerhalb einer Gesellschaft wie unterschiedlichste Subkulturen, Milieus, Stadt- und Landunterschiede werden gerade in Deutschland zugunsten der Vorstellung einer Kulturnation, die seit dem 19. Jahrhundert existieren soll, unterschlagen. Wenn also Deutsche darüber schwadronieren, wie Goethe und Schiller ihre Kultur prägen, wird davon ausgegangen, dass Kultur einmal entstanden, einfach so fortbesteht. Abgesehen davon, dass nur die Wenigsten die beiden Herren gelesen haben dürften und der Bezug auf mehr als hundert Jahre alte Literatur wenig über den Alltag einer Büroangestellten im 21. Jahrhundert aussagt, wird vergessen, dass man durch alltägliche Praktiken und Einstellungen an einer Kultur beteiligt ist und sie auch verändert. Kultur, zumindest die fremde, wird auf Folklore und verallgemeinernde Eigenschaften reduziert und eine einheitliche, geschichtlich gewachsene Gesellschaft imaginiert. Die AusländerInnen, die sich an die deutsche Kultur anpassen sollen, stellt dies vor unüberwindbare Hindernisse. Sie können zwar die Symbole deutscher Tugendhaftigkeit reproduzieren (was sie offenbar auch tun, man schaue sich z.B. die Arbeitsethik oder die Quote von Bausparverträgen und Girokonten von ausländischen ArbeitnehmerInnen an), aber die Anpassung der Zugewanderten an eine Alltagskultur ist da schon schwieriger. An was bitte schön sollten sie sich auch anpassen? An den Lebensstil des französisch geprägten Hamburger Bürgertums, an die bei jungen Deutsch-Türken beliebte Hip-Hop-Kultur in Frankfurt oder an die Werte von kurzhaarigen Jugendlichen in den sogenannten national befreiten Zonen der östlichen Bundesländer oder die Bräuche bayrischer Landwirte?

Mittlerweile wird Herkunft kaum noch mit ›Rasse‹ begründet, sondern mit kulturellen Eigenschaften verbunden, die einer Gruppe oder Nation zugeschrieben werden. Das Zusammenleben von verschiedenen ›Kulturen‹ wird problematisiert. Das reicht von der Kulturalisierung von sozialen Konflikten in städtischen Quartieren wie der (Um-) Interpretation von Nachbarschaftsstreitigkeiten zu angeblich kulturell bedingten Auseinandersetzungen bis hin zur Ethnisierung von Kriegen und Bürgerkriegen.

Dem Ganzen liegt ein essentieller Kulturbegriff zu Grunde, nach dem Menschen durch ihre Herkunft geprägt sind und dieser auch nicht entrinnen können. Mit dem Reden über den Erhalt kultureller Eigenarten zum Schutze der eigenen Identität kleidet man den eher abstoßenden »Ausländer Raus« – Slogan in ein akzeptables Gewand. Auf diese Ebene begeben sich auch die Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft, indem sie sich positiv auf die Kulturalisierung des Fremden beziehen. Denn die Begründungen für eine multikulturelle Gesellschaft berufen sich fast ausschließlich auf vermeintlich bereichernde Eigenschaften der Fremden, die jedoch immer wieder bei Essen, Musik und Folklore stehen bleiben. So versichert z.B. die »Initiative für ein friedliches Miteinander« aus Kassel den »lieben türkischen und arabischen Nachbarn«, dass sie auch nach den Anschlägen in New York hierzulande noch willkommen sind, folgendermaßen: »Ihre Lebensfreude, Ihre Speisen und Ihre Musik ergänzen unsere eigene Kultur. Viel Arbeit würde ohne Sie liegen bleiben, und wer das Gespräch sucht, wird Bereicherndes über Ihr Land erfahren«. Kultur ist demnach, was ›uns‹ nutzt und was konsumierbar ist. Die realen Lebensbedingungen der MigrantInnen bleiben dabei ausgeblendet.

Zwei Aspekte machen das Dilemma dieses multikulturalistischen Blicks deutlich: Zum einen verlässt auch der kulturalisierende Blick mitnichten den Rassismus. Spätestens dann, wenn der oder die Fremde alle Folklore abgelegt hat, also ohne Kopftuch, ohne Dialekt und ohne Volkstanz auftritt, wird sein/ihr Anderssein wieder über die Hautfarbe hergestellt. Das mag ein Grund sein für die Verunsicherung, wenn ›Ausländer‹ sich wirklich anpassen: Sie zeigen, dass hinter dem kulturalistischen Deckmantel zur Identifizierung alles Fremden nichts weiter als der blanke Rassismus steckt. Zum anderen sorgt der multikulturalistische Blick dafür, dass das Fremde auch fremd bleibt. Es geht eben nicht darum, die Konstruktion differenzierender Kategorien zu überwinden, sondern andere, fremde Kulturen kennen zu lernen. Paradebeispiel ist hier die so genannte »interkulturelle Pädagogik«. Sie wird gezielt nachgefragt, wenn Konflikte zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Abstammung in Schulen, Jugendzentren oder anderen Orten auftreten. Problematisch ist hier schon die Ausgangsannahme. Unter den verschiedenen Identitätsmerkmalen wird eines herausgegriffen, nämlich die Herkunft, und problematisiert. Jugendliche ausländischer Herkunft haben und machen Probleme, weil sie »zwischen den Kulturen« aufwachsen. Der Blick richtet sich auf die Abweichung vom ›Normalen‹ und das ist das nichtdeutsche Elternhaus. So erklärt sich anmachendes Machogehabe eines arabischen Jungen aus dessen Kultur, wo die Frauen ja besonders unterdrückt sind, während dasselbe Verhalten seines deutschen Altersgenossen sicher nicht unter dieser Perspektive betrachtet würde. Jugendliche werden zu ExpertInnen ›ihrer‹ Kultur, obwohl sie vielleicht die gleichen Pubertätsprobleme, Hobbys und Vorlieben haben, wie ihre deutschen AltersgenossInnen.


Kulturen der Reisenden und Bereisten

Dieser Normalzustand spielt gerade auf Fernreisen eine entscheidende Rolle. Denn kein Mensch fährt als unbeschriebenes Blatt in den Urlaub. Warum auch sollten die daheim bewährten Kategorien in der Ferne keine Gültigkeit mehr haben? Vor allem, wenn TouristInnen unter sich bleiben – und dies gilt wohl für die Mehrheit der Reiseformen, sei es in der Hotelanlage oder im Backpacker-Hostel – erscheinen die Bereisten als eine kulturell homogene Masse. Begegnungen mit einzelnen Menschen des Gastlandes werden dann schnell zu Kulturkontakten aufgebauscht. Im Zentrum der touristischen Wahrnehmung steht die Differenz. Die Gemeinsamkeit reduziert sich – häufig unbewusst – auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, den Markt. Die kapitalistisch geprägte Form des Reisens bringt es mit sich, dass sich Reisende und Gastgebende vor allem über Geld verständigen. Die einheimische Kultur wird in diesem Kontext zur bezahlten Dienstleistung, die bei Tanz- und Musikveranstaltungen, Ausflügen und Kunsthandwerk-Ausstellungen geboten wird. Imaginiert wird jedoch statt der Dienstleistung eine authentische Kultur in einer fremden Welt.

Mehr noch als in der heimatlichen Multikultur fallen im Ferntourismus allerdings die Unterschiede in Bezug auf Etikette, Verhaltens- und Ausdrucksweisen auf, die Kulturstandards. Sobald diese den Alltag betreffen und damit nicht mehr nur als Teil des Anderen betrachtet werden können, kommt es zu Konflikten. Beim Essen, der Hotel-Ausstattung oder den Verkehrsmitteln hört der Wunsch nach exotischem Anderen auf, sind die eigenen Standards gefragt. Andererseits spielen bestimmte Kulturstandards eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion von Differenz im Tourismus. Reiseführer etwa leben davon, den TouristInnen die Unterschiedlichkeit der Menschen in den Zielländern zu erklären. Zu wissen, wie man sich wo die Hand schüttelt oder auch nicht, eine Mahlzeit einnimmt oder Ware käuflich erwirbt, scheint zum wichtigsten Handwerkszeug des Aufenthalts zu werden. Es geht also lediglich um kulturelle Symbole des Anderen, die in einer sich mehr und mehr angleichenden Welt des Tourismus das exotische i-Tüpfelchen einer jeden Reise ausmachen.

Die wachsende Zahl von last-minute Buchungen in den letzten Jahren macht deutlich, dass es den TouristInnen nicht auf die spezielle Eigenart eines Ziels ankommt, sondern vielmehr auf die Unterschiedlichkeit im Vergleich zur Heimat. Hauptsache exotisch und ursprünglich, weg vom entfremdeten und anonymen Leben zu Hause – das ist die Devise. Um dieses Bedürfnis im Reiseland zu bedienen, werden Traditionen zuweilen erfunden, um den Erwartungen der DevisenbringerInnen gerecht zu werden. So ist das Schuhplatteln fester Bestandteil von Folkloreabenden im österreichischen Bregenzer Wald, obwohl das Schuhplatteln kein allemannischer Tanz ist. In der Türkei wurden griechische Tempel in Touristenregionen wieder aufgebaut, die zuvor abgerissen worden waren, weil sie nicht ins Bild der türkischen Geschichte passten. Für die TouristInnen lässt man aber fünfe gerade sein, denn die Tempel gehören zum ›authentischen‹ Türkei-Erlebnis.

Zuweilen wird beklagt, dass der Tourismus die traditionelle Lebensweise und die ursprüngliche Kultur zerstöre. Tatsächlich ist es so, dass der weltweit erhobene Anspruch nach westlichen Standards und Normen erst die globale Verbreitung von überall gleichen Feriensiedlungen, McDonalds-Filialen oder Kino-Centern möglich gemacht hat. Solche Klagen über die Zerstörung alter Kulturen übersehen aber, dass jede Gesellschaft schon immer in Kontakt mit anderen Gesellschaften stand. Sie beziehen sich zudem nicht auf die Veränderungen im Alltag der einheimischen Bevölkerung. Bewahrt werden soll – wieder die Parallele zum Multikulturalismus – eine folkloristische Kultur. Die ›traditionellen‹ Bereisten sollen bitte schön so bleiben wie sie waren, Errungenschaften der modernen Technik stören die exotische Urlaubserwartung, d.h. die Illusion, man wechsle während der Reise nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit. Der Wunsch nach Ursprünglichkeit manifestiert sich im Genuss einer heilen Natur, die es bei ›uns‹ leider nicht mehr zu geben scheint und schließt auch die Bereisten mit ein, die ›noch‹ ein naturverbundenes Leben führen. Die sozialen und politischen Zustände werden als Ausdruck ›authentischer Kulturen‹ betrachtet, Armut wird als Abkehr von der Konsumgesellschaft verklärt. Die realen Auswirkungen des globalen Kapitalismus – Umweltzerstörung oder soziale Verelendung – treten hinter den Verlust an ›Kultur‹ zurück.

Wie im ›multikulturellen Miteinander‹ daheim ist Kultur im Tourismus ausschließlich das, was konsumierbar ist. Zu den Highlights des Urlaubs gehören Essen, der Erwerb von Souvenirs und Sightseeing/Naturerlebnis. Dieses touristische Konsumverhalten dient auch als Mittel zur Überwindung eigener Verunsicherung. Die Ankunft in einem fremden Land geht meist einher mit einem Gefühl der Unsicherheit und Unvertrautheit: Andere klimatische Verhältnisse, andere Kulturstandards und vor allem mangelnde Sprachkenntnisse nehmen den Reisenden die gewohnte Verhaltenssicherheit. Plötzlich ist in der Minderheit, wer zu Hause – wo nur die anderen ›ethnisch‹ sind – scheinbar keine Hautfarbe hat. Im Alltag vermittelt Sprache eine nicht wahrgenommene Sicherheit, für die eigene Mitteilung, aber auch zur Wahrnehmung des sozialen Umfelds. Gerade bei Fernreisen ist den meisten TouristInnen dieses selbstverständliche Mittel des Alltags genommen. Dies führt zum Rückgriff auf das einzig vertraute und überall praktizierbare Verhalten, den Konsum. So erlangen TouristInnen erst durch ihre privilegierte Finanzsituation die Kontrolle wieder. Der Konsum kulinarischer Angebote kann sowohl ein Gefühl der Vertrautheit vermitteln, sei es durch die allgegenwärtige Coca Cola, deutsches Bier oder Brötchen zum Hotelfrühstück, als auch kontrollierbare Erkundungen der ›fremden Kultur‹ ermöglichen. Auch der Erwerb von Souvenirs gibt nicht nur das Gefühl, authentische Waren einer Kultur mit nach Hause zu nehmen (auch wenn diese in Hongkong industriell produziert wurden), sondern birgt auch ein ökonomisches Herrschaftsverhältnis in sich.

Eine andere Möglichkeit, sich der Unsicherheit in der Fremde zu entziehen, ist der Rückzug in die sichere Touristenblase, d.h. die ›vertraute‹ Umgebung des Hotels, des Campingplatzes und des Backpacker-Hostels. In der Gesellschaft von Menschen, mit denen man sich verständigen kann und die sich in einer ähnlichen Lage befinden kann das Fremde aus sicherer Distanz betrachtet werden – und dies im wörtlichen Sinne. Denn der alltäglichen Deutungsmacht von Sprache und (Schrift-) Zeichen beraubt werden optische und akustische Eindrücke zu entscheidenden Faktoren der Wahrnehmung. Diese Aufwertung des Optischen verstärkt die Wahrnehmung der Differenz der anderen Hautfarbe, der anderen Kleidung oder einer fremden Architektur. Als Substitut für Sprache dient die Ansicht. Nicht zuletzt das Sightseeing vermittelt das Gefühl ein anderes Land zu erleben, ohne sich mit den BewohnerInnen beschäftigen zu müssen. Etwas zu betrachten, setzt Distanz voraus, die beim Besuch einer antiken Stätte, eines Nationalparks oder beim Fotografieren gewahrt bleibt. Die Realität bleibt äußerlich und lässt sich um so leichter kategorisieren. Alles wird begutachtet, verglichen und bewertet. Dies kann sowohl zu einer Idealisierung als auch zur rassistischen Abwertung der Fremden führen. Mit den Realitäten hat der oberflächliche Blick aber in den seltensten Fällen zu tun.

Selbst der so genannte Kulturaustausch, bei dem gerade der zwischenmenschliche Kontakt im Vordergrund steht, verfestigt eher, ganz wie die interkulturelle Erziehung, eine kulturalistische Wahrnehmung. Auch hier stehen die scheinbar fremden Anteile einer Gesellschaft im Vordergrund, sie werden lediglich positiv gedeutet, bzw. dienen als Interpretation von aufkommenden Schwierigkeiten. Wie kann man also unter diesen Umständen von einer kulturellen Erfahrung sprechen, wenn nicht nur die Voraussetzungen (der von einem kulturalistischen Rassismus geprägte Diskurs über die Fremden) schon problematisch sind, sondern auch die Reiseform und damit verbundene touristische Wahrnehmung der zwischenmenschlichen Erfahrung nicht gerade zuträglich sind?

Eine Veränderung im Kulturdiskurs und der Abbau rassistischer Stereotype kann nicht im Tourismus ansetzen. Vielmehr bedürfte es grundlegender Veränderungen in den westlichen Gesellschaften und dem ihnen inhärenten und für sie funktionalen Rassismus. Doch kann dies kein Freibrief für eine verzerrte Wahrnehmung von Menschen der Reiseländer und keine Rechtfertigung für den kritischen Verstand beleidigende Urlaubserzählungen à la »Ach wie lebensfroh sind doch die Kubaner« sein. Vielleicht sollten wir uns (genau wie die übrige westliche Welt) erst mal um die Zustände im eigenen Land kümmern, Voraussetzungen schaffen, die erholsame Lebensumstände vor der eigenen Tür ermöglichen und im Alltag den Blick über den Tellerrand wagen.

Quelle: Im Handgepäck Rassismus. Beiträge zu Tourismus und Kultur. FernWeh 2004
Literatur




Die Erfindung des Fremden

von Martina Backes

Eigentlich ist es offensichtlich: Das Bild von Thailand als Land des Lächelns ist ein europäisches Konstrukt. Dahinter steht ein Menschenbild der Tai, das in Europa über Jahrhunderte geprägt wurde: Freundlich, unbeschwert, liebenswert, höflich – das sind die Attribute, mit denen die Bevölkerung Thailands wahrgenommen wird. Die Rest & Recreation Aufenthalte der amerikanischen Soldaten in den 60er Jahren haben dieses Bild noch verstärkt. Dabei weiß eigentlich jeder um das Klischeehafte solcher Vorstellungen. In der Werbung funktioniert der Mythos trotzdem: »Wenn es irgendwo auf der Welt ein Land des Lächelns gibt, dann muss Thailand gemeint sein« (TUI), oder: »In seiner Gastfreundschaft ist Thailand unergründlich wie das sprichwörtliche Lächeln Asiens« (Meiers Weltreisen). Tourismus erfindet die Eigenschaften der Fremde und der Fremden selbst. Touristinnen prägen die Symbole ihrer Reiseziele. Tibet, seit 400 Jahren Ziel westlichen Pilgerschaft und Forschungsreisender - der Vorhut des modernen Tourismus -, wird mit den Gaben des Sakralen und Spirituellen versehen, ist Gleichnis von Weisheit und Glück. Das Sinnbild von der Wiege des Transzendenten findet sich noch heute in der Tibetwerbung. Seit Ende der 60er Jahre steht Tibet für den Ort, der einzig vom Kampf zwischen geistiger Freiheit und materieller Macht bestimmt scheint. Die sehr weltlichen Motive hinter dem Machtstreben ehemaliger tibetischer Monarchen und ihr diskriminierendes Verhalten gegenüber Frauen fallen aus dieser Wahrnehmung heraus.


Der Tourismus schafft sich seine Fremde selbst

Metaphern wie das »Dach der Welt« oder das »Land des Lächeln« sind in der Semiotik des Reisens eigentlich ein alter Hut. Dijeridoo, Sushi und Gebetsfahnen gehören zu den neuerlich inszenierten Erkennungsmerkmalen von Reisezielen und einer einheitlich gedachten Kultur seiner BewohnerInnen. »Japan – von Sushi bis Sony«, so wirbt ein Veranstalter für eine Reise ins »Land der aufgehenden Sonne«. Damit wird ein Bild über Japan und die japanische Bevölkerung angesprochen, das ganz und gar anschlussfähig ist: arbeitsame Menschen einerseits, eingebunden in die Maschinerie einer mächtigen Industrienation – mythischer Zauber andererseits, der mit Sushi und Teezeremonie den Gegensatz zum Westen symbolisiert.

Das »Kennenlernen fremder Kulturen« (Studiosus) steht im Tourismus derzeit hoch im Kurs, je fremder desto besser. Der Konkurrenzkampf im touristischen Geschäft zwingt Reiseveranstalter zu immer ungewöhnlicheren Angeboten. Urlaubsparadiese nach dem Muster »Sonne Sand und Palmenstrand« trifft man fast überall im Süden - die Inflation der Angebote macht den Wunsch nach Exklusivität zur unternehmerischen Notwendigkeit. Hier bietet sich Kultur als unerschöpflicher Fundus für Fremdheit und Unbekanntes an. Der Begriff »Kultur« verspricht an sich schon Differenz, unkopierbare Andersartigkeit, unvergleichbare Einzigartigkeit. Der Test der Fernsehzeitschrift TV-today vergibt die besten Noten an jene Fernsehreisemagazine, die für die abgelegensten Winkel jenseits der Katalogidylle werben. Doch mit jeder Urlaubssaison rückt das unbekannte Fremde dem schon Bekannten und Gefundenen näher. So muss Fremde – in der Funktion des Besonderen einer Reise jenseits der universellen Standards - immer neu inszeniert werden.


Das Fremde als Spielgel des Eigenen

Der Tourismus bezieht sich bei der Schaffung der Symbolik seiner Orte auf Deutungen und Muster, die seiner eigenen Kultur entlehnt sind: der koloniale Blick auf Afrika hat die Menschen eines ganzen Kontinents mit den Charakterzügen des Archaischen und der Vitalität betitelt. Auch das Kriegerische ist in Afrika edel, solange die Gedanken um den Urlaub kreisen: speertragende, Maasai dekorieren in aller Regel die Prospekte über Kenia. Sie stehen als Synonym für Wildnis. Traumbilder der Aborigines zieren fast alle Reiseangebote nach Australien. Verbunden wird mit der Kultur der Aborigines ein Ursprungsmythos, der keine strikte Grenzziehung zwischen Kultur und Natur kennt. Die im eigenen Alltag empfundenen Defizite werden in andere Gesellschaften hineininterpretiert. »Auf den Spuren von...« - diese recht beliebte Wendung in der Reisewerbung meint nur vordergründig die Pfade der Inkas oder die Karawanenwege der Tuareg. »Heimatkunde« titelt ein Journalist seinen Bericht über die Maasai in der Serengeti und trifft damit den Kern: die Motive für das Reisen zu den edlen Fremden sind eine Suche nach dem ursprünglich Eigenen der TouristInnen selbst. Es geht nicht um das Unbekannte im eigentlichen Sinne. Als Sammelbecken für nicht gelebte Möglichkeiten und Wünsche der eigenen Gesellschaft werden Menschen anderer Länder zu Symbolträgern für die eigenen Reisemotive - alles Fremde wird zur Gegenwelt der europäischen Zivilisation stilisiert.

Fremd heißt anders, und anders meint das Gegenteil vom Eigenen. Fremdheit meint nicht das Fremde als das Andere seiner Selbst, vielmehr ist das Andere unserer selbst im »edlen Wilden« verkörpert: frei von zivilisatorischem Balast und von selbstquälerischer Reflexion über das eigene Tun, unbestechlich, unschuldig und glückselig. Im Topos vom »edlen Wilden« drückt sich die Sehnsucht nach Verlorengegangenem aus und ist zugleich Folge der Angst vor den apokalyptischen Konsequenzen der modernen Zivilisation. Das Bild sagt mehr über die geistige Verfasstheit seines Betrachters denn über den Betrachteten. Die Attribute sind dabei den Reiseberichten der Entdeckungsreisenden entnommen oder sie stammen aus Romanen und ethnologischen Dokumentationen, Filmen und Bildbänden, die nach dem Raster »Menschen, Länder, Abenteuer« die Symbolik von fremden Orten und »Völkern« immer wieder neu produzieren. Die Anderen sind primär Produkt des europäischen Denkens und der im Alltag nicht gelebten Emotionen, die im rationalen Handeln und in einem am Materiellen orientierten Leben keinen Platz haben.


Pauschale Vielfalt

Die vielfältigen Beweggründe für das »Weg von« und »Hin zu« der Reisen in die Ferne sind zunehmend in die Darstellungen fremder Kultur und vorzugsweise der indigenen Bevölkerung eingeschrieben. Die Fremden werden zur Spielwiese, auf der sich ausgesperrte Sehnsüchte und Fantasien austoben. Dabei fällt das Augenmerk auf alle, die unter dem Stichwort »vergessene Kulturen« subsumiert werden – gemeint sind besonders weit vom westlichen Entwicklungsmodell entfernt geglaubten Dörfer. Intakt und anziehend wirkt, wer möglichst vorindustriellen Tätigkeiten nachgeht: Reisbauer, Fischer, Viehhirte, Töpfer, Schmied oder Kamelzüchter. Fremdheit scheint an optisch einprägsamen Äußerlichkeiten wie Schleier, Schmuck und Körperbemalung messbar. Sie treten an die Stelle biologistischer Merkmale, mit denen Menschen in Rassen eingeteilt wurden. Obwohl nach dem immer gleichen Muster verfahren wird und die Darstellungen über grobe Pauschalisierungen kaum hinaus kommen, funktioniert diese Strategie. Dabei sind die Darstellungen »anderer Kulturen« in der Reisewerbung eigentlich viel zu plakativ, um glaubwürdig zu sein. Auch reichen sie kaum aus, um überzeugend für eine Reise zu motivieren. Der Reiz des Kennenlernens anderer Kulturen wird nicht alleine in der Reisewerbung produziert. Er beruft sich auf eine ganze Palette diskursiver Bausteine, die Informationen, Bedeutungen und Wissen transportieren: Filme und Reisemagazine, informierende Medienprodukte wie politische Reden, Sachbücher und Zeitungsreportagen. Auch scheinbar belanglose Botschaften ergänzen das allgemeine Verständnis von Fremde und fremder Kultur: So zieht sich die Vermarktung fremder Kultursymbolik zunehmend durch die Produktwerbung.

Die Automobilindustrie ist da besonders kreativ: Ein lebenserfahrener alter Inuit in der ewigen Eiswüste erkennt die Reifenspur von Audi Quadro und gibt sein Wissen an seinen Sprößling weiter. Der Moment, indem die Spur identifiziert wird, wird von einer ehrfurchtvollen Geste bestimmt. Die Audi Technik, so die Botschaft des Werbespots, beherrscht unwirtliche Welten und wird sogar von einer weisen Kultur, die dieser Unwirtlichkeit seit Ewigkeit trotzt, in besonderem Maße geehrt. Noch unmittelbarer macht sich Renault ein Set von Eigenschaften, die einem bestimmten Menschenbild zugeschrieben werden, zu Nutze: Die Moderne Technik des Renault Clio wird selbst von jenen begehrt, die Inbegriff von Bedürfnislosigkeit und der Erleuchtung nahe sind: tibetische Mönche, den (Auto-)Schlüssel reichend, vermitteln die Botschaft: Vergiss nie, den persönlichen Werten den Vorzug vor den materiellen zu geben. Clio ist das passende Auto dazu, das die Reichtümer der Eliten bietet, aber ohne ihre Maßlosigkeit.

Die beständige Präsenz von paradiesischer oder heldenhafter Fremde in der Produktwerbung, verbunden mit der Präsenz des betörend reizvoll und anmutig inszenierten Fremden in den Ferienkulissen, trägt dazu bei, dass ein latentes Bedürfnis nach Fremdheit und Ferne stetig wachgehalten wird – erscheint doch ihre Erfüllung so greifbar nahe. Die entsprechenden Bilder sind dabei nicht nur in der Reise- und Produktwerbung anzutreffen. Vielmehr greift die kulturindustrielle Schaffung einer Nachfrage nach Fremdheit und fremden Kulturen auf eine ganze Palette kultureller Events und sachlich-unterhaltsamer Medienprodukte zurück.

So hat der Film Buena Vista Social Club von Wim Wenders die Kubawerbung nachhaltig geprägt. Mit der Reisewerbung vieler Veranstalter wird ein Gefühl revolutionärer Romantik konserviert, das ein sachlich geschriebener Reiseführer kaum bieten kann. Engagierte Reiseerzählungen, die aus allen Ecken der Ferne die Büchertische und Bestsellerlisten füllen, verfangen sich häufig in der Hingabe an die eigenen Sehnsüchte und blenden in ihren emphatischen Begegnungen mit Fremden die unterschiedliche Herkunft aus. Seit den 80er Jahren, als Reiseveranstalter zunehmend aus Fremdheit eine Tugend machten und die Fernreisen zunahmen, werden eigentlich antiquierte Reiseberichte Entdeckungsreisender des vorletzten Jahrhunderts vielfach neu aufgelegt – von Humboldts Tagebüchern (Verlag) über »die große Reise« eines Heinrich Barth (Thienemann) oder die Begegnung von Stanley und Livingstone (Ulstein Abenteuer). Das ganze Repertoire kolonialer Wahrnehmungsmuster vom bösen bis zum edlen Wilden erlangt mit den Tagebüchern der alten Tage eine lebendige Renaissance – denn das Damals wird als ganz und gar authentisch angesehen. Aber auch bisher wenig rezipierte ethnographische Zeugnisse erscheinen auf dem Bücher- und Zeitschriftenmarkt. Die so gesammelten Information über fremde Kulturen werden mit zeitgenössischen Reportagen – häufig in Form von Info- oder Edutainment – ergänzt: Fernsehsendungen nach dem Muster »Menschen, Länder, Abenteuer« und Zeitungsmagazine füllen die Vorstellung über die Fremde mit visueller Buntheit.

Eingebunden in den Alltagsdiskurs über den »Dialog mit den Kulturen« gerade auch in politischen Debatten, erzeugen die Kultur- und Medieninformationen eine Wahrnehmung ihrer Rezipienten, in der die Kategorie des Fremden einen hohen Stellenwert erhält. Politisches Engagement für eine Selbstbestimmung der Bevölkerung in den ehemaligen Kolonien ist längst über die engen Kreise Befreiungsbewegter hinausgewachsen und mit der Menschenrechtsdebatte in das öffentliche Bewusstsein der hiesigen Gesellschaft eingedrungen. Es trifft sich mit der konservativen Äußerung vom Wert der unterschiedlichen Kulturen und dem reaktionären Bemühen um kulturelle Differenz und Andersartigkeit. Dieser ethnopluralistische Blick ist populär genug, um werbewirksam eingesetzt zu werden. Die Welt wird zunehmend mit dem Raster ethnischer Differenz wahrgenommen. Zwar gehört das »Kennen- und Verstehenlernen fremder Kulturen« heute zur political correctness - bei bewusst und anders Reisenden allemal. Die gut gemeinte Absicht braucht diese Anderen jedoch geradezu zwingend für ihren eigenen Erfolg und klammert sich leicht an die Idee über eine in sich geschlossene kulturelle Gemeinschaft. Der Wert, den die westliche Gesellschaft der Ent-Fremdung der Welt einräumt, umfasst nicht nur das antirassistisch motivierte Infragestellen von Grenzen. Die multikulturalistische Brille, die primär ethnische Vielfalt erkennt, hat sich von der Idee des Eroberns und Vereinnahmens kaum gelöst. Verstehen und Erobern, Entwickeln und Integrieren bilden ein Kontinuum, das mit dem kolonialen Verhältnis zum Fremden keineswegs bricht.


Hauptsache »authentisch«

Dabei stehen das Archaische und Authentische im Tourismus besonders hoch im Kurs. Diesem Denken liegt nicht nur ein starres Kulturverständnis zugrunde, es ist auch von Machtkomponenten durchdrungen. Primitivität und das Archaische sind verwandte Kategorien, die sich hauptsächlich durch ihre Art der »Wertung« unterscheiden: Während man sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch ein Zur-Schau-Stellen von Zurückgebliebenheit bei Hagenbecks Südseeinsulanern (Weltausstellung in Paris 1931) des technischen Fortschritts und der eigenen Größe und Macht vergewisserte, werden heute gerne vorindustrielle Tätigkeiten als Tugenden von »Naturvölkern« zum Sinnbild für den fast verlorengegangenen Naturbezug des »modernen« Menschen. Diese Umbewertung vom ehemals nutzlosen Primitiven zum positiven Vorbild des naturharmonischen Lebensstils ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich beide Begriffe gleichermaßen aus einem Überlegenheitsgefühl herleiten. Selbst in der positiv gemeinten Rezeption erscheinen die Menschen in einem Zustand des Noch-Nicht: Die wahrgenommene Harmonie der Fremden im sozialen Miteinander und im Umgang mit der Natur ist als früher Zustand der Geschichte gedacht, als ein bloßes Fehlen von Zivilisationserscheinungen. Die Wahrnehmung des Fremden ist in ein Geschichtsbewusstsein eingebettet, dem der Gedanke einer evolutionistischen Weiterentwicklung bis heute inhärent ist. Für die kapitalistische Expansion ist die heutige Zensur mit positivem Vorzeichen genauso hilfreich wie die alte: Während früher die Segnungen technischen Fortschritts in die (Lebens-)räume der Bevölkerung einbrachen, werden indigene Kulturen heute zum Werbeträger technischen Fortschritts: Drei schmucke Samburu Krieger schweben neben einem Opel Frontera stolz und kraftvoll in der Luft – der Legende nach, klärt der Werbetext auf, finden die schnellsten Samburukrieger in dem Allrad-Wagen ihre Reinkarnation. Gedachte Eigenschaften einer Kultur werden quasi in Produkte eingeschrieben, die käuflich und konsumierbar sind. Wer einen Opel Fronetra fährt, kann sich der versprochenen Qualität bemächtigen – längst hat man das Verlorene in die hergestellten Waren zurückgeholt.

Doch wenn es hier vornehmlich um Symbole und zudem mehr um das (verlorene) Eigene geht, was ist am Konsum dieser Kultursymbolik dann eigentlich das Problem? Reisewerbung, die mit ethnischer Vielfalt wirbt und damit das Bedürfnis nach läuternder Fremdheit bedienen, reduziert nicht nur gesellschaftliche Leistungen auf wenige Attribute. Was hinter einer solchen selbstbezogenen und kolonial geprägten Wahrnehmung verschwindet, ist das Individuelle. Die Einladung in eine Hütte eines Reisbauern wird als Freundlichkeit der thailändischen Landbevölkerung und nicht als Angebot eines Einzelnen gewertet, Menschen interessieren immer nur als Vertreter ihrer Kultur und nicht als Persönlichkeiten. Diese unbewusste Verweigerung gegenüber dem Individuum macht ein Kennenlernen der Anderen recht schwierig.


Kultur kaputt?

Immer wieder beklagte die Tourismuskritik eine kulturzerstörende Wirkung des Tourismus. Durch den Kontakt der Reisenden mit den Menschen in den Destinationen und durch die touristische Erschließung immer neuer Reiseziele – Trekking bei den hilltribes in Thailand ist ein vielzitiertes Beispiel – drohe die Kultur stark verändert und vom konsumorientierten Verhalten des Westens verdorben zu werden. Das Eindringen in »traditionelle und autochthone Kulturen«, die dann eine zivilisatorische Entfremdung von der Natur oder das Zerstören des sozialen Miteinanders auslöst, ist aber keineswegs zwingend. Im einen Fall können kulturelle Praktiken und Kategorien gestärkt werden, im nächsten Fall werden kultureller und sozio-ökonomischer Wandel durch andere Einflüsse wie der Auseinandersetzung mit der westlichen und urbanen Welt des eigenen Landes oder durch Markteinbindung über ganz andere Kanäle als über den Tourismus eingeleitet. Offensichtlich entfaltet der Tourismus sowohl traditionserhaltenden als auch modernisierenden Einfluss. Zudem treffen diese Wirkungen nicht alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichermaßen. Wer wieviel Vor- oder Nachteile durch einen Wandel oder auch durch verfestigte Strukturen erfährt, in wie weit Macht- und Unterdrückungsverhältnisse für die einen oder andren verschoben, gestärkt oder abgebaut werden, sind die eigentlich entscheidenden Fragen.

Die nachteiligen Folgen oder Errungenschaften des Tourismus für marginalisierte oder indigene Bevölkerung können offensichtlich nur von Fall zu Fall bewertet werden. Eine pauschale Vorsicht mag hier zwar angebracht, darf aber angesichts des legitimen Bedürfnisses der Gemeinden im Süden, am touristischen Geschäft teilhaben und verdienen zu wollen, nicht überstrapaziert werden. Jenseits der konkreten Geschehnisse in den einzelnen Ferienorten geht es vielmehr um den Einfluss, den die im Tourismus und rund um das Reisen verwendete Symbolik auf die Verfestigung einer ethnisierenden Wahrnehmung ausübt. Das problematische am Fremden als Spiegel des Eigenen, als Sammelbecken für Sehnsüchte und Begierden, die sich im Hier nicht verwirklichen lassen oder aus dem rationalen Alltagsleben verbannt wurden, ist ihre rassistischer Denkstruktur. Der Andere wird nicht nur als Individuum übersehen, sondern als Projektionsfläche missbraucht. Der inflationäre Gebrauch von Bildern vermeintlicher Fremde institutionalisiert nicht nur bestehende Machtverhältnisse, indem edle Wilde als geschichtslose oder hilfebedürftige Wesen erscheinen. Darüber hinaus ignoriert diese Form der Wahrnehmung des Fremden alle, die in der heute rege interagierenden Welt ihre Herkunft aus verschiedenen Orten oder kulturellen Zusammenhängen definieren und sich dennoch den indigenen Gemeinschaften zugehörig fühlen. Dass jedoch der Student im Trainingsanzug auf dem Busbahnhof in Nairobi der gleiche sein kann wie der stolze Krieger vor der Maasai Mara Lodge im Safaripark, kann die auf exotische Fremdheit geprägte Sicht des Touristen nicht erkennen. Völlig blind wird die Sicht für die Müllsammler in der Innenstadt – egal ob in Nairobi, Bangkog oder Sidney - oder für die Landlosen an den Peripherie der Metropolen. Die auf Exotik gerichtete Suche nach Andersartigkeit ist blind für die Tatsache, dass soziale und materielle Ursachen - viel mehr als kulturelle Prägung - tiefe Diskrepanzen zwischen Reisenden und Bereisten schaffen. Der Konsum exotischer Symbolik im Tourismusgeschäft verstärkt weitgehend die Ignoranz und Blindheit für die an ökonomische Prozesse gebundene Macht, die den Müllsammler in der Großstadt erst schafft.

FernWeh 2002
Literatur




Tourismus als Motor globaler Klassenbildung

von Hito Steyerl

»wonach alle Neger stinken«

Immanuel Kant, »Von den verschiedenen Rassen der Menschen«

»Die Kenntnisse, welche die neuen Reisen über die Mannigfaltigkeiten in der Menschengattung verbreiten, haben bisher mehr dazu beigetragen, den Verstand über diesen Punkt zur Nachforschung zu reizen, als ihn zu befriedigen.« So beginnt Immanuel Kants Traktat Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse. Schon im ersten Satz werden Reise und Rasse miteinander in Beziehung gesetzt. Anhand der Schilderungen verschiedenster Forschungsreisender über die von ihnen angetroffenen Bevölkerungen unternimmt Kant 1775 den Versuch der Konstruktion eines Begriffes der menschlichen Rasse. Im späten 18. Jahrhundert wird dieser Begriff zunehmend ‘verwissenschaftlicht’ und dient als zentrales konzeptionelles Instrument der Kategorisierung von Menschen. Biologische, theologische und milieutheoretische Begründungen fließen in die Herstellung dieses rassistischen Weltbildes ein. Dessen Funktion ist die Begründung der Überlegenheit von Weißen über alle anderen, wofür die Berichte der so genannten Forschungsreisenden als Belege verwandt wurden. Forschungsreise und Rassenforschung werden somit zu einer Einheit verquickt. Der Begriff der Rasse lässt sich nicht ohne denjenigen der Reise denken.


Universell rassistisch

In den Berichten der Forschungsreisenden erschienen die ’Anderen’ entweder als kannibalische Untermenschen oder aber im Gegenteil als Überbleibsel eines in Europa verloren gegangenen »Goldenen Zeitalters«, also als edle Wilde. Diese ambivalente Einschätzung, in der sich Faszination und Ekel miteinander verbanden, war Bestandteil einer umfassenderen Bewegung gleichzeitiger Ein- und Ausgrenzung von Ethnisierten.

Zum gleichen Zeitpunkt, als die Welt (vom westlichen Standpunkt aus gesehen) im Rahmen kapitalistischer Kolonialisierung durch zunehmende Reiseaktivitäten geographisch mehr und mehr entgrenzt wird, wird eine neue Kategorie der Abgrenzung zwischen Menschen kanonisiert: die Rasse. Im Kontext der ökonomischen Expansion des Westens entstanden mehrere kulturelle Ideologien, die die Ausplünderung und Unterwerfung anderer Territorien legitimieren sollten. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Weltbilder von Rassismus und Sexismus, die ihre Durchschlagskraft allerdings erst in Verbindung mit dem auf den ersten Blick dazu im Widerspruch befindlichen Glaubenssystem des Universalismus entfalteten. Im Gegensatz zu den partikularisierenden Weltbildern des Rassismus und Sexismus versprach der Universalismus die nie erfüllte Einheit und prinzipielle Gleichheit aller – kraft ihrer Eigenschaft als Menschen. Beide Tendenzen spiegelten sich in den Berichten der Forschungsreisenden wider. Einerseits die rassistische und sexistische Abwertung der Anderen als stinkende, liederliche und hinterhältige Faulpelze. Andererseits eine universalistische Emphase, welche die ursprüngliche »Brüderlichkeit« der Menschheit gerade in den als »Paradies« verklärten indigenen Lebenswelten auffinden wollte.

Tatsächlich divergierten beide im Grundsatz nicht. Denn die Menschheitsschwärmer begrenzten das Areal der Gleichheit grundsätzlich auf Männer und identifizierten darüber hinaus alle Nicht-EuropäerInnen grundsätzlich mit Natur. So wurde der Bereich von Zivilisation, Kultur und Fortschritt gänzlich durch westliche Männer besetzt und die bis heute wirksamen dichotomen Kategorien von Natur versus Kultur, Barbarei versus Zivilisation, infantile Ungebildetheit und Grausamkeit versus besonnene und rationale Aufgeklärtheit konstruiert. Der gleichzeitige Ausschluss der Nichteuropäer als Barbaren und ihr Einschluss als Angehörige des Menschengeschlechts reflektierte die realen praktischen und ideologischen Erfordernisse der westlichen Expansion: die Annektion sowie die Vereinheitlichung riesiger Territorien – bei gleichzeitiger, rassistisch und sexistisch abgestufter Unterdrückung und Ausbeutung ihrer nicht-europäischen EinwohnerInnen. Die aufgrund von Berichten der Forschungsreisenden verbreiteten Stereotypen menschlicher »Rassen« dienten somit der Herstellung dynamischer Produktionsverhältnisse, welche die Umgestaltung existierender Produktionsweisen nicht nur legitimierten, sondern von Grund auf prägten und durchdrangen. Die Stereotypen wurden also nicht nur selbst hergestellt, sondern funktionierten als ideologische Produktionsmittel der Herstellung von Klassen, Rassen, Ethnien, Stämmen und normierter heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit, die ihrerseits die Grundlagen für die Teilung der Arbeit entlang internationaler Hierarchien abgaben.

Insofern entstehen Tourismus und Rassismus aus derselben Wurzel. Die von Kant zitierten »Forschungsreisenden« des 18. Jahrhunderts liefern durch ihre Berichte nicht nur Material für das eben entstehende Konzept der Rasse. »Auch die Ursprünge des heutigen Ferntourismus (Kreuzfahrten, Afrika-, USA-, Südsee-, Karibik-, Asienreisen u.a.) liegen in dieser Zeit,« schreibt schwärmerisch der Freizeitforscher Horst Opaschowski über diese »wagemutigen Leute«, die »neue interessante Reiseziele eröffnet, und der sich ausbreitenden Touristik manchen Anreiz geboten« hätten. Es seien »große kosmopolitische Seelen«, wie Rousseau sie nannte, »die die eingebildeten völkertrennenden Grenzen überschreiten und ... das ganze Menschengeschlecht in ihr Wohlwollen einschließen.« Hans Magnus Enzensberger bezeichnet sie dementsprechend auch als »Touristen avant la lettre« – Touristen, die schon vor der Erfindung dieses Begriffes existierten. Insofern durchdringen sich Tourismus und Rassismus in der dialektischen Verschlingung emphatischer aufklärerischer Sehnsucht nach kosmopolitischer Völkerverständigung und der gleichzeitigen Erfindung ‘rassischer’ Begründungen für die Ausdehnung westlicher Klassenhierarchien über den ganzen Erdball.


Rassistisches ›Wissen‹

Tourismus und die ›wissenschaftliche‹ Verfestigung des Begriffs der Rasse sind nicht nur in derselben Zeit im Kontext einer immer weitere Teile der Welt umfassenden Kolonialisierung durch den Westen entstanden. Die frühen Reisen markierten auch eine bedeutsame Verbindung zwischen den Konzepten von partikularen ›Kulturen‹ und universal gültigem ›Wissen‹. Beide spielen eine wichtige Rolle in der Herausbildung globaler Klassenverhältnisse: Die Beschreibung anderer Kulturen fand implizit auf einer Skala der ›Entwicklung‹ statt, deren Kriterien durch einen objektivierten Kanon von ›Wissen‹ festgelegt wurden. Diese Skala reichte von ›Primitivität‹ bis zur ›Zivilisation‹, von ‘Natur’ zu ›Kultur‹, von ›Aberglaube‹ zu ›Wissenschaft‹ und legitimierte sich durch sogenannte Objektivität und Wissenschaftlichkeit. Selbstredend kulminierten innerhalb dieser Logik sowohl kulturelle Entwicklung als auch wissenschaftliche Objektivität in Gestalt der westlichen Zivilisation.

Der Vergleich möglichst vieler verschiedener Kulturformen wurde als Voraussetzung des Erwerbs eines universalisierbaren Wissens angesehen, als Überwindung der Relativität der Erkenntnisse. Die ›Reise‹ war das Privileg der Mobilität zum Erwerb möglichst universeller Erfahrungen, und damit das Vehikel bürgerlicher Klassenbildung. Dies galt sowohl gegenüber weniger privilegierten Europäern, denen der Aufstieg in die Klasse der Gebildeten verwehrt blieb, als auch vor allem gegenüber den Nicht-Europäern, die durch diese Reisen zu Objekten eines ›Wissens‹ gemacht wurden, das ihre Unterdrückung und Ausbeutung legitimierte. Als Avantgarde der herrschenden Klassen konnten dabei die Reisenden angesehen werden, die sowohl das Geschäft der Kolonialisierung besorgten als auch die Bereitstellung eines ›Wissens‹, das diese legitimierte.

Es ist wenig erstaunlich, dass die ›wissenschaftlich‹ begründeten Hierarchien exakt entlang der Hierarchien internationaler Arbeitsteilung verliefen. An ihrer unterster Stelle rangierten Sklaven aus Afrika, dann kamen leibeigene Osteuropäer und lateinamerikanische Ureinwohner. Die herrschenden Klassen kamen aus Europa. Genau dieselbe Rangordnung wurde von der ›Wissenschaft‹ der Rasse übernommen und als natürlich bzw. milieubedingt ausgegeben. So konstatiert sogar der Kritiker kolonialer Gewalttaten Kant ungerührt, dass in Surinam die Einheimischen nur zu Hausarbeiten herangezogen würden, »weil sie zur Feldarbeit zu schwach sind, als wozu man Neger braucht.« Es sei eine Mischung aus Luftsäuren und »laugenhaft-gallichten Säften«, die die »halb erloschene Lebenskraft« der Amerikaner bedinge, wohingegen das rätselhafte Element »Phlogiston« nicht nur die Hautfarbe und den Geruch, sondern auch die körperliche Stärke der Schwarzen zur Folge habe, so Kant. Auf diese Weise wurden auch die brutalsten Gewaltverhältnisse der internationalen Arbeitsteilung mit ›wissenschaftlichen Erkenntnissen‹ naturalisiert.


Im Imaginären vereinigt

Derselbe Kant wandte sich in einer seiner »universalistischen« Schriften für die Installation eines Weltbürgerrechts empört gegen die koloniale Barbarei in Indien und der Karibik. Seine kosmopolitischen Aufrufe zur Vereinigung der Menschheit im Namen der Vernunft (= Weltbürgerrecht) koexistieren nicht nur mit der Naturalisierung von Unterdrückung im Begriff der Rasse – sie bedingen sich gegenseitig. Die pathetische Rhetorik universeller Menschheit über die aufklärerische Wirkung des gegenseitigen Verkehrs, also des Kulturkontakts und der Völkerverständigung, schaffen eben jenen einheitlichen Rahmen des Welt-Marktes, innerhalb dessen erst mit Hilfe rassistischer Hierarchien eine internationale Arbeitsteilung installiert werden konnte. Während einerseits durch universalistische Vorstellungen die Welt im Imaginären vereinigt wurde, wurden gleichzeitig innerhalb dieser Einheit Hierarchien installiert. Sie beruhten auf der Abwertung aller Personengruppen, die nicht dem Ideal der Krone menschlicher Schöpfung – dem weißen heterosexuellen Mann – entsprachen. Den abgewerteten Menschen wurden die minderbewerteten Arbeiten zugewiesen, wobei von einem Arbeitsverhältnis bei Sklaverei oder anderen Zwangsarbeitsverhältnissen nicht mehr die Rede sein kann. Auch andere Arbeiten wie die Subsistenzproduktion, nicht-westliche Gemeinschaftsarbeiten spiritueller oder sozialer Art, sowie Reproduktionsarbeit insgesamt wurden einerseits aus dem Register anerkannter Arbeit verbannt, fanden andererseits jedoch innerhalb eines einheitlichen Rahmens des Weltmarkts statt. Der Weltmarkt wurde damit zur selben Zeit vereinigt und unterschichtet. Zur Vereinigung brauchte man die Emphase der einigen Menschheit, zur Unterschichtung und Abgrenzung das Fantasma der Rasse und biologistische Geschlechtsvorstellungen. Es ist gerade die universalistisch-exotisierende Verschmelzungsphantasie, aus der im Gegenzug rassistische Segregation und sexistische Unterdrückung entstehen.

Auch im modernen Tourismus hallt das Pathos universalistischer Völkerverständigung fort – ebenso wie deren Wechselwirkung mit der Konsolidierung rassistischer Verhältnisse. Der Tourist sei ein Botschafter, verkündete Papst Pius XII. 1952, der über andere Völker bei seiner Rückkunft »eine gerechtere Meinung und eine günstigere Einschätzung« verbreite. »Tourismus ist ein Weg zum Frieden«, meinten 1972 auch die Vereinten Nationen, die dieses Jahr zum »Jahr des Welttourismus« ausriefen. Auch als Botschafter ihrer eigenen Nation seien Touristen geeignet, finden 1993, im Jahr der brutalen rassistischen Morde von Mölln und Solingen, ganze 67 Prozent der Deutschen. Touristen sind ihrer Auffassung nach »die besten Botschafter für Ausländerfreundlichkeit und gegen Ausländerhass« (Opaschowski). An diesem seltsamen Raisonnement zeigt sich deutlich, dass diese Auffassung kosmopolitischer Völkerverständigung äußerst kompatibel mit der Aufrechterhaltung rassistischer Gewaltverhältnisse ist. Denn folgt man dieser Argumentation, wird die ‘Ausländerfreundlichkeit’ der Deutschen hauptsächlich im Urlaub unter Beweis gestellt.

Opaschowski argumentiert weiter auf dieser Linie: Dass im gleichen Jahr aufgrund eben dieser rassistischen Gewalttaten ein Einbruch der Gästezahlen nach Deutschland registriert wird, ist für ihn nicht etwa ein Grund, Maßnahmen gegen rassistische Gewalt zu fordern. Er fordert hingegen die deutsche Tourismuswerbung auf, diese Entwicklung im Ausland mit »Positivkampagnen« zu kontern. Dabei kommt es allerdings auch immer wieder zu diplomatischen Peinlichkeiten – etwa als bekannt wird, dass die deutsche Touristikwerbung in Amerika sich gezielt an weiße AmerikanerInnen wendet. Protest erhebt sich hingegen darüber, dass manche amerikanischen Reiseführer den Besuch einiger deutscher Städte für Nicht-Weiße und Angehörige sonstiger Minderheiten wegen massiver rechtsradikaler Gewalttaten nicht empfehlen mögen. Die betreffenden Städte halten die Berichte für übertrieben und verweisen auf ihre »Ausländerfreundlichkeit« (Spiegel 24/2000).

Tourismus wird somit zur Ersatzhandlung, die real existierenden Rassismus kompensieren soll – diesen damit aber konsolidiert. Die seltsame Fusion aus universalistischer Rhetorik und rassistischer Gewalt, aus überschwänglicher Umarmung und ökonomischem Würgegriff, aus Begehren und Abscheu im Kontext einer nachgerade autistischen Mobilität prägt auch heute die Einstellung vieler westlicher FerntouristInnen.


Authentizitäts-Erfindungen

Ein besonderer Aspekt ist dabei die Fiktion der Kultur. Im Kontext von Tourismus bedeutet ›Kultur‹ oftmals den Genuss des Touristen an einer als authentisch erscheinenden paradiesischen Parallelwelt. Diese Authentizitätserfindung erweist sich als besonders attraktive Ware. Tourismus erzeugt damit eine ›Indigenisierung‹ der Bevölkerung, mit der exotische Phantasien der TouristInnen über möglichst ›traditionelle‹ Kulturen bestätigt werden sollen. Die ›Selbstethnisierung‹ der Bevölkerung als genießbares Differenzspektakel kann als Teil des touristischen Standortwettbewerbs betrachtet werden. Dabei wird unterschlagen, dass eben diese als ›ursprünglich‹ markierten Kulturen ebenfalls Produkte des kapitalistischen Welt-Systems sind (Wallerstein) und als Schöpfungen der modernen Welt zu verstehen sind. Wie Anil Jain anmerkt, nimmt die Nachfrage nach solchen Kulturen auch im jüngsten Globalisierungsschub immens zu, da der Prozess der Globalisierung selbst von lokalen Differenzen gespeist wird. Lokale Differenzen werden produziert oder ›aufgefunden‹, um gleich darauf als neues Differenzklischee verwertet zu werden. Jain bezeichnet dieses Verfahren der Verdinglichung des Exotischen als »eklektischen Imperialismus«.

Die Träger dieser eingebildeten Kulturen werden entweder exotisch romantisiert oder als primitiv und fundamentalistisch verabscheut. Der Begriff der Kultur ergänzt dabei sukzessive einen biologischen Begriff der Rasse. Im Rahmen des sogenannten Neorassismus werden biologistische Zuweisungen zunehmend durch kulturelle ersetzt. Es liegt nun nicht mehr an den Genen, dass bestimmte Personen als minderwertig erachtet werden, sondern an deren zurückgebliebener und fanatisch-irrationaler Kultur. Diese Verschiebung in der ›Argumentation‹ ändert für die Betroffenen jedoch meistens gar nichts, da weiterhin die gleichen Gruppen diskriminiert werden, bloß jetzt nicht mehr aufgrund ihrer ›Rasse‹, sondern aufgrund ihrer ›Kultur‹. Die Kulturalisierung populärer Rassismen dient damit ebenso als Instrument der Herausbildung globaler Hierarchien. Die Zugehörigkeit zur globalen Bourgeoisie bleibt weiterhin durch den Zugang zu einer möglichst großen Anzahl sogenannter Kulturen bestimmt, also durch das Privileg der Mobilität. Laut Zygmunt Bauman ist diese Stratifizierung der Mobilität im globalen Raum Ausdruck der Polarisierung der Weltbevölkerung in globalisierte Reiche und lokalisierte Arme: »Globalisierung und Lokalisierung mögen untrennbare Seiten derselben Medaille sein, aber die zwei Teile der Weltbevölkerung leben auf verschiedenen Seiten und sehen nur eine Seite – so wie die Menschen auf der Erde nur eine Seite des Mondes sehen und beobachten. Einige bewohnen den Globus, andere sind an ihren Platz gefesselt. (..) Man könnte sagen Globalisierung ist ein Prozess weltweiter Neu-Stratifizierung, in dessen Verlauf eine neue, weltweite, soziokulturelle, sich selbst reproduzierende Hierarchie aufgebaut wird. (..) Die an beiden Polen der entstehenden Hierarchie, an der Spitze und am Boden sich ablagernden Welten unterscheiden sich dramatisch voneinander und sind zunehmend voneinander abgeschirmt wie Verkehrswege, die von den mobilen und reichen Bewohnern der heutigen Städte genutzt werden, die »no go Areas« abgrenzen und sorgfältig umgehen.« (zit. n. Beck: S. 101ff)

Insofern ist der zeitgenössische Tourismus auch als Symptom einer umfassenderen Reorganisierung von Konzepten von Raum und Zeit im Rahmen des jüngsten Globalisierungsschubs zu sehen. Touristen besitzen das Privileg jener Mobilität, die den Zutritt zur Klasse der Globalisierungsgewinner reguliert. Sie verfügen über den globalen Raum, d.h. die privilegierten Pässe, die diesen Raum erschließen und zugänglich machen, und erwerben durch ihre Reisen universalierbares kulturelles Kapital. Diese Bewegungsfreiheit ist keineswegs selbstverständlich, sondern das Privileg einer Minderheit. Für den Rest stellt sich der globale Raum als ein Geflecht schwer passierbarer Grenzen und Absperrungen heraus. Sie bleiben auf lokale und partikulare Strukturen verwiesen, an den Ort fixiert, der Bewegungsfreiheit beraubt.
Und so wie die Bewohner des globalen Raums die Touristen sind, sind deren unsichtbarer Konterpart die MigrantInnen, die sich im Gewirr lokaler Grenzen verheddern. Beide Gruppen tun zwar dasselbe: Sie bewegen sich – jedoch in ganz verschiedenen Schichten einer globalen Klassengesellschaft, die weiterhin auf Rassismus und Sexismus gegründet ist. Die einen tun es im universalen Register der Reise, die anderen im partikularen Register der Rasse.

Auszug aus: Reise und Rasse. Tourismus als Motor globaler Klassenbildung. Zuerst erschienen in: Im Handgepäck Rassismus. Beiträge zu Tourismus und Kultur, Hrsg. Martina Backes u.a., FernWeh / iz3w, Freiburg 2002, Seite 29–42.
Literatur




Reisebilder außer Plan

Postkoloniale Kunst irritiert den touristischen Blick

Wer in Urlaub reist, hat auch schon eine Idee von der Rückkehr nach Hause. Doch was, wenn das Unterwegssein die Möglichkeit einer Heimreise nicht kennt? Die Werke zweier KünstlerInnen zeigen, wie fundamental der Dualismus von Reise und Rückkehr den westlichen Blick bestimmt – und wie das Fehlen dieses Selbstverständnisses mit ihm bricht.

von Christian Kravagna

Reisebilder sind eine paradigmatische Kategorie jener Bilder, die Konzepte von Identität und Differenz festigen oder untergraben. Sie füttern Exotismen und Rassismen, können ihnen aber auch den Boden entziehen. Die Arbeiten von Vivan Sundaram und Lisl Ponger sind Beispiele einer zeitgenössischen künstlerischen Bildpolitik. Sie veranschaulichen die postkoloniale Neuverhandlung von Identitätskonzepten anhand von Reisebildern.

Im Unterschied zur Reisepraxis moderner KünstlerInnen, deren Differenzbegehren sich »da draußen« mehr oder weniger erfüllt, jedenfalls aber unter weitgehender Ausblendung des Subjekts der Reise und des Begehrens, rückt Lisl Ponger in ihren Arbeiten das Subjekt der Fantasie in den Fokus der Betrachtung. Ihre fotografischen Reisebilder setzen häufig die Künstlerin selbst als Protagonistin ins Zentrum der Szenerie.

In ihrem Bild »Out of Austria« (2000) wird schon im Bildtitel, der sich unmissverständlich von »Out of Africa« ableitet, eine kritische Bewegung heimwärts angedeutet. Die Reise beginnt zuhause, in einem Raum der Imagination, der von Bildern und Geschichten durchsetzt ist. Die Tropenreisende, mit ihrem Lilienstrauß einem historischen Foto von Tania Blixen nachempfunden, blickt in eine afrikanische Landschaft mit schneebedecktem Berg im Hintergrund. Aus dieser kommen einige schmächtige Träger auf sie zu, nur mit Lendenschurz gekleidete, doch mit Ohrring und Armreif geschmückte Schwarze, deren Gesichter im Schatten ihrer Lasten unsichtbar bleiben. Nur ihre übertrieben gezeichneten lachenden Münder markieren diese sonst entindividualisierten Gesichter.

Die Reisende ist in ein Gewand gekleidet, dessen Muster auf dem »Mohren« einer österreichischen Kaffeemarke beruht. Gehüllt in die Bilder des Anderen, die sie von zuhause mitbringt, begegnet sie den infantilisierten Trägern im Sinne eines Wiedererkennens eben jener mitgebrachten Vor-Bilder. Ponger unterstreicht diese zirkuläre Wahrnehmungsstruktur durch die roten Kopfbedeckungen des Meinl-Mohren, den gleichfarbigen Tropenhelm der Frau und das Rot der Last auf dem Kopf des die Gruppe anführenden Trägers. Das Afrikabild selbst ist die gemalte Vergrößerung der Schachtel eines Kinderspiels aus den 50er Jahren, der Zeit der Kindheit der Künstlerin, und wie der »Meinl-Mohr« ein Verweis auf eine lokale Variante des unbewussten Erlernens von Stereotypen. Nur die fehlende Hauptfigur des Bildes, der männliche Reisende, an dessen Stelle nun die Künstlerin getreten ist, markiert die Differenz zur Vorlage: ein bärtiger weißer Abenteurer, dessen Individualität im signifikanten Kontrast zu den stereotypen Afrikanern stand. Im Austausch der Protagonisten wird deutlich, wie die vor der Folie des Stereotyps inszenierte Individualität des weißen Reisenden einem Muster entspricht, das präexistenten Bildern von Differenz geschuldet ist. Lisl Ponger wendet in diesem und anderen Bildern eine Darstellungstechnik an, die auf die fotografischen Konventionen früher ethnografischer und populärkultureller Repräsentationen von »fremden Menschen« in »natürlichen Umgebungen« verweist. Deutlich machen das hier die realen Pflanzen, die zwischen den gemalten Pflanzen und der Reisenden zur Herstellung der Illusion eines homogenen Bildraums eingesetzt sind.

Der in »Out of Austria« eliminierte bärtige Weiße am Fuße des Kilimandscharo, als den man den schneebedeckten Berg unweigerlich identifiziert, hätte ohne weiteres Ernest Hemingway sein können, dessen afrikanische Geschichten etwa Leni Riefenstahl in den 70er Jahren zu ihren fotografischen Expeditionen nach Afrika inspirierten. Ihr monumentaler Fotoband über die Nuba zählt noch immer zu den populärsten Vermittlern pseudo-ethnografischer Afrika-Bilder. Hierbei handelt es sich nur um einen der in Pongers Bild angelegten historischen Verweise auf fiktive Vor-Bilder als Ausgangspunkt von Reisen.


Gespiegelte Stereotypen

In einem weiteren Werk von Lisl Ponger werden die Motive und Begehrensstrukturen der Reisenden präsent. »Gone Native« (2000) folgt wie »Out of Austria« dem inszenierten Charakter der Studiofotografie, deren Künstlichkeit es allerdings stärker betont. Vor dem Hintergrund einer Meinl-Mohrentapete sitzt die »afrikanisch« gekleidete weiße Frau neben einer Schaufensterpuppe in Gestalt eines jungen Schwarzen in »westlicher« Kleidung. Geschichten kolonialer Begegnung tauchen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Alltagskultur und deren Rassismen auf. Der Ausdruck »going native« meint historisch die Annahme von Lebensgewohnheiten und Kleidung von »Eingeborenen«, bei denen man lebt. In Pongers Bild treffen allerdings gegenläufige Praktiken der Mimesis an die jeweils andere Kultur aufeinander, wodurch divergente Sprachregelungen für offensichtlich ähnliche Techniken der Assimilation vor Augen treten.

In einem historischen Zusammenhang, etwa der Negrophilie der 20er Jahre, ließen sich die ungleichen Hintergründe solcher Praktiken mit den Begriffen Aneignung und Anpassung, Notwendigkeit und spielerische Freiheit bezeichnen. Während sich Kreise der Avantgarde und des mondänen Pariser Bürgertums ihrer Exzentrik durch die Verfolgung ihrer Idee von »schwarzer Kultur« in Inneneinrichtung, Mode und Frisuren versicherten, folgten die in Paris lebenden Schwarzen einer Politik der Assimilation an europäische Konventionen, um das Stigma der Andersheit zu mildern. Pongers Foto der gegenübergestellten mimetischen Praktiken ermöglicht allerdings auch eine Übersetzung in zeitgenössische Parallelen, wenn man etwa die Gleichzeitigkeit von modischem Ethnoboom oder Bestsellern wie »Die weiße Massai« und politischen Forderungen der kulturellen Assimilation von MigrantInnen in Betracht zieht.

Lisl Pongers künstlerische Praxis steht für ein kritisches Abtragen jener Determinationen, die ein westliches Subjekt in Bezug auf seine Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Phantasien des Anderen formen. Abtragen heißt hier zunächst einmal Wiederauffinden in jenen oft unsichtbaren Lernprozessen, denen wir von Kindheit auf unterliegen, und in einem zweiten Schritt Sichtbarmachen durch Inszenierung.


Back to the Routes

Die mit der kolonialen Weltordnung verknüpfte Rollenverteilung in reisende und bereiste Kulturen, in Subjekte und Objekte der Repräsentation, verliert seit den Jahrzehnten der Dekolonisation und der damit einhergehenden Vervielfältigung von Motiven und Routen des Überschreitens von Grenzen und Durchquerens von Räumen an Schärfe. In diesem Zusammenhang zeigt sich – hier am Beispiel der künstlerischen Arbeit von Vivan Sundaram – die Bedeutung von Reisen und ihren Darstellungen für die Prozesse der Dekolonisation.

Die digitalen Fotomontagen von Sundaram artikulieren sich vor dem Hintergrund einer indischen Gegenwart des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts. Der wenige Jahre vor der Unabhängigkeit Indiens geborene Sundaram hat in seiner Kunst die Widersprüche dieser Gesellschaft immer wieder an die Periode der Entkolonialisierung und die mit ihr verbundenen Entwürfe von Selbstbestimmung, Freiheit und Modernität rückgebunden. Auch eines seiner jüngsten Projekte handelt von einer paradigmatischen Geschichte des Aufbruchs in die Moderne, die an eine Reiseerzählung gekoppelt ist. »Re-take of Amrita« (2001), eine vielteilige Fotoarbeit, beruht auf einer über 20jährigen Beschäftigung mit dem Familienarchiv mütterlicherseits. Die digitalen Fotomontagen dieser Serie setzen Motive aus dem Sher-Gil Archive zu konstruierten Bildern und re-konstruierten Szenen aus einer Familiengeschichte zusammen, deren Protagonisten eine exemplarische Verschiebung von Identitätskonzepten und Subjektmodellen in der späten Kolonialzeit verkörpern.

Das verwendete Bildmaterial stammt hauptsächlich vom Großvater des Künstlers, Umrao Singh Sher-Gil. Zu den zentralen Motiven einer über 60jährigen fotografischen Praxis, die er 1892 begonnen hatte, zählten Umrao selbst und seine Tochter Amrita, die Tante von Vivan Sundaram. Erst in den Montagen kommen die Selbstporträts des indischen Gelehrten und die Aufnahmen der Tochter, einer der bedeutendsten KünstlerInnen der indischen Moderne, zusammen. Ihre Kommunikation eröffnet einen narrativen Raum, in dem sich persönliche Beziehungen – »two asymmetrical life-journeys« – in Relationen von Verortung und Entortung, von Traditionsbindung und Identitätssuche übersetzen. »Re-take« bedeutet soviel wie: eine Szene noch einmal drehen. In Bezug auf Geschichte heißt das, ausgewählte Momente neu zu beleuchten, sie aus einem gegenwärtigen, interessierten Blickwinkel zu imaginieren.

In Sundarams Wiederaufführung der Geschichte einer bürgerlichen indischen Familie übernimmt zunächst Umrao den Part eines kolonisierten Subjekts, das eine selbstbewusste Position gegenüber der Fremdherrschaft bestimmt. Als »einer der ‚unsichtbaren’ Pioniere der modernen indischen Fotografie«, wie ihn Sundaram bezeichnet, setzt Umrao dem kolonialen Bild des indischen Untertan die Version eines sich in seiner bürgerlichen Lebenswelt selbst repräsentierenden Individuums entgegen. Die Posen, in denen er als Yoga-Praktizierender in sich versunken, doch in voller physischer Präsenz erscheint, und diejenigen, die ihn als versonnenen Sanskritgelehrten ausweisen, zeigen einen Mann, für den Selbstbestimmung in der Vergewisserung und Behauptung seiner »eigenen« Kultur zu finden ist. Er repräsentiert ein widerständiges Subjekt, das der kolonialen Fremdbestimmung mit einem Konzept von Identität antwortet, das sich – entsprechend der allgemeinen Tendenz der Frühphase antikolonialistischer Identitätspolitik – auf kulturelle Wurzeln und Traditionen gründet, die von der kolonialen Politik zerstört oder erniedrigt wurden.


Brüchiges Spiegelbild

Vivan Sundarams Fotomontagen demonstrieren dieses kulturelle Beharren am deutlichsten in jenen Bildern, auf denen Umrao – der in den 20er und 30er Jahren gemeinsam mit der Familie, seiner ungarischen Frau und seinen beiden Töchtern, mehrfach zwischen Indien, Ungarn und Paris (wo Amrita Malerei studiert) pendelt – zusammen mit den anderen etwa in der Pariser Wohnung als jemand erscheint, der in und mit seiner Kultur auch an andere Orte reist. Im Unterschied zum Vater verkörpert Amrita eine mehrfach konditionierte und in Bewegung begriffene Identität. Umrao ist immer er selbst, sein jeweiliger Aufenthaltsort hat kaum darauf Einfluss. Amrita dagegen schlüpft während ihres Unterwegsseins zwischen Kulturen beinahe unentwegt in verschiedene Rollen. Sie kleidet und frisiert sich indisch, ungarisch und im mondänen Stil der Pariser 30er Jahre. Eine irgendwie geartete Vorstellung von fixer Identität scheint der jungen Frau nicht zu entsprechen. Im Gegenteil, sie performt geradezu ein von Verwandlung und Maskerade getragenes Selbstbild, einen scheinbar freien Umgang mit kulturellen Signifikanten. Dieses entortete, sich an verschiedene Umgebungen anpassende Subjekt im Wandel hat zweifellos einen kosmopolitischen Charakter. Ein Zuhause, wie es Umrao benennen und anscheinend auch mitnehmen kann, ist ihr fremd.

Sundarams Bilder zeigen aber auch, dass ihm nicht an einer bloßen Feier dieses dezentrierten Subjekts gelegen ist. Wenn etwa die »indische« Amrita in den Spiegel blickt, und sie dabei auf ein zweifaches Ich trifft, so hat diese Szene auch etwas Unheimliches. Die »ungarische« Amrita steht in diesem Fall unwirklich, geisterhaft neben dem »indischen« Spiegelbild; der ernste Blick dieser Schattenfigur, die wie aus einem anderen Raum aufzutauchen scheint, ist beunruhigend. Amritas wandelbare Identität wird hier auch als Konflikt und Spaltung lesbar, jenseits eines reinen Spiels mit Signifikanten. Dass Vivan Sundaram diese Einstellung nicht zufällig gewählt hat, unterstreicht ihre Wiederkehr in dem durch mehrere Blickachsen strukturierten großen Familienpanorama. Hier sehen alle Personen in einen Spiegel, wobei allein Amrita aufgespalten in jene Doppelfigur erscheint.

Sundaram arbeitet seine Hauptdarstellerin innerhalb der Familiengeschichte als jene exemplarische Figur heraus, deren Entortung zwar ein Talent zur Übersetzung fördert, zugleich aber ein Moment der Krise mit sich bringt. Als eine Künstlerin, die sich vorbehaltlos der Moderne öffnet und auch dem Leben in der westlichen Metropole einiges abgewinnen kann, fragt sie dennoch nach dem Ort ihres Handelns und reflektiert ihre Herkunft. So zum Beispiel in einem offensichtlich nach einer Fotografie gemalten Selbstporträt, in dem sie sich gegenüber der Vorlage durch das Tragen eines Turbans orientalisiert. Amritas Reise ins Zentrum der künstlerischen Moderne führt auch zur Konfrontation mit dem verzerrten Spiegelbild der europäisch-männlichen Imagination des Anderen.

In einem weiteren Bild zeigt Sundaram, wie Amrita derartige Begegnungen in malerische Versuche überträgt, die – wie in »Two Girls« – einer weiblichen und nicht-westlichen Vorstellung von kultureller Kommunikation verpflichtet ist. Das dunkel- und das hellhäutige Madchen, in der Montage verdoppelt durch Amrita auf der »europäischen« und ihre Schwester auf der »asiatischen« Seite, lassen eine postkoloniale Subjektivität des »double consciousness« erkennen, wie sie von W.E.B. Du Bois schon vor einem Jahrhundert beschrieben wurde: »Stets fühlt man seine Zweiheit (...) Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren.«

Sundaram entwirft mit »Re-take of Amrita« nicht nur die Wiederaufführung einer exemplarischen Migration aus der Kolonie ins westliche Zentrum und zurück, einer Reise, deren Stationen Modifikationen des persönlichen und künstlerischen Selbstentwurfs erfordern. Letztlich handelt es sich auch um eine in der Familiengeschichte wiedergefundene Reiseroute des postkolonialen Künstlers, in der das Dilemma steckt, die divergierenden Möglichkeiten und Erwartungen von westlicher Kunstwelt und Herkunftsgesellschaft für sich auszuhandeln.


Reisen ohne Heimatadresse

Zu den grundlegenden Veränderungen, die im späten 20. Jahrhundert durch Prozesse der so genannten »Globalisierung« hervorgebracht wurden, gehört die Destabilisierung von Oppositionspaaren wie Heimat und Fremde, Hier und Dort, Zentrum und Peripherie, Wohnen und Reisen. Weltweite Migration und globaler Tourismus, der transnationale und transkulturelle Flut von Bildern, Ideen und Waren unterziehen die Begriffe und die mit ihnen verbundenen Praktiken des Unterwegs-Seins der Notwendigkeit einer Überprüfung und Neuverhandlung. Solange die neuzeitliche Welt der imperialen Kluft zwischen dem Westen und dem Rest noch »in Ordnung« schien, waren es auch die Muster, nach denen die Praxis des Reisens sich zu dominanten Vorstellungen von Identität und Differenz verhielt. Reisebilder fütterten das kollektive Imaginäre eines heimatlichen Publikums mit Anschauungsmaterial für Alterität. Konstruktionen von kultureller Identität und Differenz stützten sich auf Bilder, die ihre Überzeugungskraft zum großen Teil dadurch gewannen, dass sie unterwegs – »da draußen« – produziert wurden.

Unter postkolonialen Bedingungen lässt sich für die Frage von kulturellen Identitäts- und Differenzkonzepten mit James Clifford eine Verschiebung vom Paradigma der Verwurzelung (roots) zu dem der selbstgewählten oder erzwungenen Dislozierung (routes) konstatieren. Die Vielfalt der unterschiedlichst motivierten Migrations- und Reiserouten im späten 20. Jahrhundert lässt das einfache imperiale Reisemuster – vom westlichen Zentrum in die Peripherie und retour – als nur eine, wenn auch privilegierte Variante von vielen erscheinen. Die von diesem Reisetypus hervorgebrachten Bilder rücken als Besonderheiten in den Blick, deren Aufschwung zur Selbstverständlichkeit sich allein ihrer engen Verbindung mit einem historischen Herrschaftsgefüge verdankt. Diese Bilder werden von Ponger und Sundaram einer neuen und kritischen Betrachtung zugeführt, die ihre Allianz mit kolonialen Praktiken und Denkmustern untersucht, einschließlich ihres Beitrags zum Fortleben entsprechender Vorstellungen über den historischen Kolonialismus hinaus.

Die Partikularität der modernen westlichen Reiseerzählung erscheint als solche im Licht der Präsenz und Artikulation hunderter anderer Erfahrungen. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Formen des Unterwegsseins, denen die Idee von Zuhause oder die Möglichkeit der Rückkehr nicht immanent ist, treten auch aus der Vergangenheit unterschiedliche Reisepraktiken und -richtungen heraus, die von den machtvollen Repräsentationen der rekursiven Bewegung der modernen westlichen Reisenden, denen die Heimat das Ziel darstellt, überlagert wurden. Offensichtlich spielen Reisen und ihre Bilder nicht nur für die Errichtung und Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung sondern auch für das postkoloniale Aufbrechen dieser Ordnung eine entscheidende Rolle.

Christian Kravagna ist Kunstkritiker und lebt in Wien. Der hier stark gekürzte Text erschien zuerst in Die Visualität der Theorie vs. Die Theorie des Visualität, Revolver Verlag Frankfurt.
Literatur:




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