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Goa, Kathmandu, Sinai, Ko Samui, Bali sind weltweit bekannte Meilensteine des Rucksacktourismus. Obwohl in ganz unterschiedlichen Ecken der Welt angesiedelt, findet sich an all diesen Orten die gleiche Infrastruktur und identische Angebote: Pancakes und Milkshakes, kaltes Bier und Internet-Cafes, billige Hostals und Palmhütten sowie englischsprachiges freundliches Service-Personal. Touristische Seifenblasen, Travel Bubbles, in denen sich die globale Community der Backpacker trifft, um die neuesten »Insidertipps« auszutauschen Der Bezug zum jeweiligen Ort des Geschehens erschließt sich in diesen Travel Bubbles ausschließlich über die Motive und Projektionen der Reisenden: der Thrill des Rafting (etwa am Zambesi), die Entdeckung der eigenen Spiritualität (Goa), die einsamen Strandparadiese (Thailand)...





Seifenblasen in Ägypten

von Heba Aziz

Der »Lachende Buddha«, »Die Kämpfenden Kängurus«, »Eldorado«, »Al Capone« und »Das Ende der Welt« sind nicht Titel von Kinofilmen oder Romanen, sondern eine Reihe von Cafés, die sich am Strand der Stadt Dahab im südlichen Sinai entlang ziehen und jedes Jahr fast 50.000 Rucksacktouristen versorgen.

Nachdem der Sinai an Ägypten zurückgegeben und ein gewisses Maß Frieden und Sicherheit in der Region erreicht worden war, nahm die Zahl der Touristen zu. Im Gegensatz zu anderen Orten im Süden des Sinai behielt Dahab seine Rolle als spezifisches Reiseziel für junge Rucksacktouristen.

Noch vor 20 Jahren gab es in Dahab nur leere Strände. Obwohl es damals im südlichen Sinai wenig herkömmlichen Tourismus gab, leben die Beduinen von Dahab schon seit Mitte der 60er Jahre mit einer wachsenden Zahl von Reisenden. Damals kam der Sinai unter israelische Herrschaft und Dahab wurde zum Rest- and Recreation-Ressort für die israelische Armee. Die israelischen Soldaten kamen mit ihren eigenen Vorräten und Zelten zu einem Kurzurlaub und für die Beduinen waren diese jungen Besucher eine profitable Einkommensquelle. Was sie bisher traditionell Gästen angeboten hatten, boten sie nun gegen Geld an: Gastfreundschaft. Die Mehrzahl der Strände war allerdings weiterhin frei zugänglich und »unentwickelt«, weder die Touristen noch die Beduinen waren ständig dort. Die Beduinen waren Nomaden; im Sommer lebten sie in der Nähe des Strandes, um fischen zu können – ein integraler Bestandteil ihrer Ernährung und Lebensweise.

Seit Ende der 80er Jahre boomt der Tourismus im südlichen Sinai und die Beduinen waren direkt und indirekt gezwungen, sich fest anzusiedeln und ihre Landrechte zu sichern (der Grund war die inzwischen bereitgestellte Infrastruktur, vor allen Dingen Schulen und die neuen Regelungen für den Landbesitz). Den Soldaten sind inzwischen gewöhnliche Reisende gefolgt – meist Leute, die ihre Arbeit im Kibbuz in Israel durch einen Urlaub unterbrechen oder RucksacktouristInnen. Der goldene Sand ist unter den Serviceeinrichtungen verschwunden und nur noch solche Beduinen gelangen an die Küste, denen es gelungen ist, einen Arbeitsplatz im Tourismus zu finden.


Backpacker unter sich

Für mich ist es seltsam, dass es dort ein festetabliertes Milieu von Rucksacktouristen gibt – besonders weil sie neben den Beduinen und Ägyptern leben und weitgehend von ihnen versorgt werden. Ohne Unterschied von Nationalität oder gesellschaftlicher Herkunft, des Bildungsstands und der wirtschaftlichen Verhältnisse hören alle TouristInnen eine ständig den Ort beschallende Mixtur von Reggae, Hiphop und Rak aus den 70ern, tragen gebatikte T-Shirts, nehmen Drogen und verbringen ihre Tage und Nächte zwischen den höhlenartigen Cafés mit dicken Kissen, Wasserpfeifen und den aus Löschkohle gebauten Herbergen (Campsites). Das Essen in den Coffeeshops ist in ganz Dahab identisch – Pizza, Pfannkuchen und Milchshakes – ägyptisches Essen ist kaum zu finden.

Obwohl nebeneinander existierend, leben die örtliche Beduinengemeinschaft und die Gemeinde der RucksacktouristInnen in unterschiedlichen Welten. Der Strand wurde zur Welt der TouristInnen, eine unwirkliche Welt, in der alles erlaubt ist. Der Versuch der TouristInnen, »allem zu entkommen«, indem sie sich einer Reihe von Aktivitäten widmen, die sie in ihrem Alltag zum Teil ablehnen, bestätigt die Vorurteile über das Leben im Westen. Das gilt gerade für weibliche Reisende, die Affären mit Ägyptern haben.

Das Verhältnis der Beduinen zu den TouristInnen bleibt eine Hassliebe: Sie sind auf die TouristInnen finanziell angewiesen. Das gilt auch für Kinder, die mehr als alle anderen Mitglieder der Beduinengemeinschaft ständig Kontakt zu den TouristInnen haben. Ihre Begegnung beschränkt sich aber auf das rein Kommerzielle, weil die Kinder, wie es von ihnen erwartet wird, zum Einkommen ihrer Familien beitragen sollen. Insgesamt lehnen die Beduinen das Benehmen der TouristInnen ab, weil es dem immer noch festgefügten moralischen Wertesystem widerspricht.


Touristenblasen

Obwohl die Rucksacktouristen als Individuen dauernd wechseln, sind sie als Gemeinschaft immer vorhanden. Man könnte zwar sagen, dass die Anwesenheit der Rucksacktouristen in Dahab (wie an anderen Orten) vorübergehend ist, aber sie hat eine stabile Kultur hervorgebracht. Dadurch wird die Vorstellung von Rucksacktouristen als Menschen, die sich treiben lassen und als Entdecker, die sich von den Koffertouristen des Mainstream absetzen wollen, in Frage gestellt. Die Rucksackkultur ist heute in Dahab so etabliert, als ob sie darauf wartete, bei Ankunft konsumiert zu werden. Bisher war »Touristbubble« ein Begriff, der die Umgebung beschreibt, in der Pauschaltouristen leben möchten. Mir erscheint es offensichtlich, dass die Rucksacktouristen in Dahab in ihrer eigenen »beweglichen Luftblase« leben, einer Luftblase, die mit ihnen reist und die Symbole dieser neuen Rucksackkultur mit sich führt. Ein Beispiel: das Freundschaftsarmband, ein buntes gewebtes Armband, das Rucksacktouristen gerne kaufen. Clevere Beduinenkinder haben herausbekommen, dass dieser Gegenstand bei Reisenden populär ist, sie setzen ihr ganzes Erspartes, ihren Erfindungsgeist und – in Ermangelung eines Webstuhls – ihre Zehen und Finger ein, um die Wolle darum zu wickeln, weben die Armbänder und verkaufen sie an Rucksacktouristen. Das Paradoxe daran ist, dass die Reisenden weder ein ägyptisches Souvenir kaufen, noch eines der Beduinen, sondern ein Souvenir ihrer eigenen internationalen Rucksackkultur.

Ägypter oder Beduinen, die Dahab besuchen, bekommen ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit. Ein älterer Mann, den ich in Dahab traf, drückte das so aus: »Ich habe in dieser Stadt nie eine Hochzeit oder eine Beerdigung gesehen. Es ist eine merkwürdige Atmosphäre – als ob dort überhaupt keine wirklichen Menschen leben würden.«

Die Realität der Rucksacktouristen ist ebenfalls widersprüchlich. Sie sind lange als nonkonformistische Reisende dargestellt worden – als solche, die »das Andere« erforschen wollen und sich auf die örtliche Kultur einlassen. Aber nur sehr wenige der Rucksacktouristen in Dahab treffen Einheimische in einer nicht-kommerziellen Umgebung. Die Ausbreitung von Reiseführern, die sich speziell an Rucksacktouristen richten, wie Lonely Planet, The Rough Guide und andere, haben tatsächlich eine andere Form des institutionalisierten Tourismus geschaffen: Rucksacktouristen treffen sich in Restaurants, Internetcafés, Herbergen und sogar Schönheitssalons, die in diesen Führern empfohlen werden. Obwohl die landläufige Vorstellung von Rucksacktouristen dahingeht, dass sie Begegnungen mit anderen Touristen scheuen, habe ich einen gegenteiligen Eindruck – Rucksacktouristen schließen sich zu einer Art Gemeinde zusammen und leben in einer Luftblase, in der sie gemeinsame Werte und Verhaltensmuster teilen.

Worauf ich hinaus will ist, dass dies der Vorstellung, ein unabhängiger Reisender zu sein, widerspricht. Der Drang der Rucksacktouristen »jungfräulichen« Boden zu entdecken hat dazu geführt, dass auf ihrem Weg um die Welt bekannte Meilensteine entstanden sind: Goa, Kathmandu, Dahab usw. Ihre Anwesenheit wird so dominant, dass die Kultur, die die Rucksacktouristen repräsentieren, bekannter wird, als die örtliche Kultur, die sie ursprünglich entdecken wollten.

Gekürzte Fassung aus: FernWeh – Die Jugendbroschüre, Freiburg 2000




Drei Jahrzehnte Alternativtourismus in Südostasien

von Günter Spreitzhofer

Mariam Subadra ist müde. Mitternacht ist lange vorüber, ihr Lokal gerammelt voll, kein Ende abzusehen. Die feuchtfröhliche Runde ist bester Stimmung. »Three more banana mueslis and one whiskey« - man bestellt auf englisch, manchmal auch in deutsch: »Dalli, dalli«. Denn das Endspiel AC Milan gegen Ajax beginnt in Kürze, live aus Wien. All das ist eigentlich nicht selbstverständlich hier. Bali ist nicht Europa, und Fußball hier nicht gerade Nationalsport. Satellitenfernsehen ist ein Luxus, Müsli keineswegs das Nationalgericht und Alkohol im Moslemstaat Indonesien eigentlich verpönt. Kein Zufall, dass einheimische Gäste im Eldorado Coffee Shop kaum vertreten sind. Eigentlich nirgendwo in Kutas Lokalszene, dafür sorgen schon die grimmigen Türsteher mit den dunklen Sonnenbrillen. Gefragt ist westlicher Lebensstil vor exotischer Kulisse, Lokalbevölkerung unerwünscht, lediglich in der Dienerrolle akzeptiert. Quasi eine geschlossene Gesellschaft, die Freizeitgesellschaft der Anti-Touristen, der Backpacker und Traveller, die einer hedonistischen »Have-a-good-time«- Mentalität frönen.

Wirtschaftswunder, Kapitalismus, Konsumgesellschaft - der Protest gegen das nachkriegszeitliche Establishment gipfelte Ende der 60er Jahre in der Suche nach einer besseren Welt. Hippies wurden zu ideologischen Wegbereitern des Alternativtourismus, ohne Touristen sein zu wollen. Die Stützpunkte der Blumenkinder auf ihren Überlandfahrten nach Asien blieben bis heute bestehen: Kathmandu (Nepal), Goa (Indien) oder Kuta (Bali/Indonesien) wurden übergangslos auch zu Zentren des Rucksackbooms der Gegenwart. Waren es in den 70er Jahren lediglich punktuelle Freakzentren, überziehen Travellerenklaven mittlerweile die gesamte Region mit einem Netz westlicher Backpackerburgen: Eintrittskarte Rucksack. Kao San Road (Bangkok), Jalan Jaksa (Jakarta) oder Bencoolen Street (Singapur) sind klingende Namen in Insiderkreisen, seit langem Mikrokosmen des Billigtourismus, die die Travellerströme überregional leiten und binden. Der Individualtourismus hält in vielen Regionen bereits einen Marktanteil von gut 50%, Tendenz steigend.


Anders reisen?

Das Gegengesellschafts-Motiv der 60er und 70er ist ersetzt durch ein Aussteigen auf Zeit, ohne die westliche Welt gänzlich abzulehnen. Vergessen und Verdrängen von Alltagsfrust und Berufsstress scheinen dabei umso einfacher, je größer die räumliche Distanz zur westlichen Heimat wird. Billig soll es sein, tropisch vielleicht, exotisch auf alle Fälle, doch nicht zu abenteuerlich, politisch stabil, ohne sprachliche Probleme. Geblieben ist die Selbsteinschätzung als Nicht-Touristen, als bessere, ja elitäre Anders-Reisende: Nur weg von den Pauschaltouristen, den vielgelästerten Neckermännern, die die Strände Europas zu gesichtslosen Satellitensiedlungen und die Kulturstätten der Welt zu Self-Service-Imbißbuden umfunktionierten. »Die Touris machen alles kaputt«, darüber ist sich die jugendliche Birkenstock-Generation in Mum’s Guesthouse einig...

Der Subkulturcharakter des Alternativtourismus ist Vergangenheit. Die von ihm ausgefüllte Marktlücke garantiert heute bereits einen Umsatzanteil von über 20%. Unter dem Zauberwörtchen ›alternativ‹ lässt sich alles verkaufen - warum nicht auch Reisen? Ein Blick in den Reiseanzeigenteil der alternativen Berliner tageszeitung spricht Bände. Die ersten handgeschriebenen Insider-Tipps geschäftstüchtiger Hippies haben umsatzträchtigen ›Alternativ-Verlagen‹ Platz gemacht. Die marktregulierende Position der einschlägigen Reiseführer steht außer Zweifel, was auf der Gastgeberseite kritiklos akzeptiert wird - und wohl auch werden muss. Jede Auflehnung gegen das eurozentrierte Empfehlungssystem subjektiver Travellertipps würde die Eliminierung der gängigen Individualreiseliteratur bewirken und den ökonomischen Ruin einleiten. Heimische (Individual-) Reiseführer sind nicht auf dem Markt, wie auch asiatische Backpacker, von Japanern abgesehen, nur höchst sporadisch auftauchen. Die neue finanzkräftige Mittelschicht Asiens kann dieser Reiseform auch Mitte der 90er noch nicht viel abgewinnen.


Rucksack-Rausch und Freizeitwahn

Die alternativtouristische Infrastruktur entlang der Trampelpfade boomt weiterhin, und mit ihr die Zahl derer, die sich ihr Stück am Traveller-Kuchen sichern wollen. Der Trend zur Niveau-Erhöhung durch westliche Toiletten und Duschen ist offenkundig - Fahrradverleih, Wäscheservice und handgezeichnete Ortspläne inklusive. Dies reflektiert den Übergang zu einem neuen Backpacker-Publikum, das auf westlichen Basiskomfort Wert zu legen scheint. Die kleinen Familienbetriebe der Anfangsjahre weichen zunehmend Bettenburgen wie dem Mae Sai Plaza an der burmesischen Grenze Nordthailands, wo Hunderte buntbemalte, pseudo-authentische Bungalows die einstige alternative Vision des Wohnens in landesüblichen Unterkünften in Frage stellen. Je länger die alternativtouristische Tradition in den Reisezielen, desto stärker ausgeprägt scheint nicht nur die Spezialisierung auf Billigreisende, sondern auch der Einfluss allgemein-touristischer Infrastruktur. Ob die gut dreißig Wollpullover-Shops in Thamel (Kathmandu) oder die ›Armani‹-Läden der Kao San: Die Angebotspalette ist maßgeschneidert für ein Publikum, das mit der konsumverachtenden Gegenwelt-Ideologie nur noch wenig anfangen kann. Kreditkartenbesitz, und sei es nur als eiserne Reiseversicherung, kennzeichnet nach meinen Untersuchungen etwa drei Viertel der Südostasien-Backpacker. Billiges Reisen, Wohnen und Essen bedeutet heute längst nicht mehr zwangsläufig den Verzicht auf (gefälschte) Designkleidung für die bürgerliche Zeit danach.

»Es ist touristisch hier, aber du triffst eben alle anderen nur hier« bringen Pam und Benny, die Australier im Ethno-Look, die Rolle der meist städtischen Travellerzentren auf den Punkt: Aktuelle Information bietet einzig der Kontakt mit ›fellow travellers‹. Über den Schwarzmarkt in Rangoon zum Beispiel, die geheimen Nacktbadestrände auf Goa oder die neue illegale Absteige in Singapur. Natürlich geht es auch um Drogen. Doch eigentlicher Reisesinn und Reisemotiv sind die ›Gräser des Ostens‹ schon lange nicht mehr.


Keine wahre Liebe...

Wie reagieren die bereisten Länder auf die Alternativtouristen? Man hat leben gelernt mit dem unsteuerbaren Ansturm, doch die wahre Liebe ist es nicht. Dass Rucksacktourismus weniger Devisen bringt als teurer Pauschal-Tourismus, ist dabei wohl das kleinere Problem der bereisten Länder. Weit schwieriger ist der soziokulturelle Aspekt des unkontrollierbaren westlichen Vordringens in (massen)touristisches Neuland. Die Kluft zwischen den wenigen Gewinnern aus der boomenden Backpackerflut, wie z.B. die Guides zu den »primitive people« auf Siberut (Sumatra), und der schweigenden, als fotogene Kulisse missbrauchten Mehrheit klafft oft bedrohlich auseinander. Wenn Möchtegern-Makler der Authentizität alte Traditionen zu Geld machen und reichlich obszöne Tätowierungs-Feste wie in Kuta die kulturellen Höhepunkte einer fun-orientierten Gegenwart darstellen, wachsen die Spannungen in den besuchten Gesellschaften. Und wenn Billig-Bungalows wegen Drohungen der Dorfbevölkerung mit versperrbaren Türen versehen werden müssen, wenn Lokalverbot für Einheimische verhängt wird, wenn der Ausverkauf von Original-Hilltribe-Schmuck zur kurzfristigen Lebensgrundlage wird, wenn US-$ die Insider-Währung bilden - spätestens dann frisst der gefräßige Raubfisch Tourismus die vortouristischen gesellschaftlichen Strukturen auf. Diese sind trotz der sicherlich auch in ihnen vorhandenen Probleme den meisten Einheimischen allemal lieber, als die Veränderungen durch den Tourismus. »Vor 10 Jahren war Kuta o.k., heute halte ich es kaum aus«, erklärt Aya, die junge einheimische Reisebüroangestellte, die den Rucksacktourismus für Drogenkonsum und Prostitution verantwortlich macht und die Preisinflation für ihre Familie beklagt. Nicht nur auf Bali, das die längste touristische Tradition Südostasiens aufweist, ist die erste Euphorie über neue Einnahmemöglichkeiten vielfach längst von apathischer Resignation bis aktiver Opposition abgelöst.

Auch wenn die Rucksackträger der 90er nur in den seltensten Fällen dem Hippie-Schema der Anfangsjahre entsprechen, bestätigen sie doch allein durch ihre Anwesenheit das Klischee einer erstrebenswerten Lebensweise in einer besseren, sorgenfreien Welt. Die hedonistische Vorbildwirkung auf die gleichaltrige, junge Bevölkerung der Travellerzentren Asiens, Afrikas und Südamerikas gilt als unaufhaltsam. Der Demonstrationseffekt des freien, pflichtenlosen, zeitlich und finanziell ungebundenen Jungvertreters einer begehrenswerten Welt der Statussymbole (Sony-Walkman, Minolta-Kamera, Reebok-Schuhe) ist umso verheerender, je weniger er bewusst reist - und das ist selten genug der Fall. Ein Bier, importiert selbstverständlich, kostet oft den halben Monatslohn des vietnamesischen Kellners; und es bleibt selten bei einem. Allein der Flugticketpreis setzt die finanzielle Hierarchie zwischen ach so armen Backpackern und Einheimischen gewaltsam ins rechte Lot. Die hehre These der ‘Völkerverständigung’ nach der Devise »Arm sind wir alle« gerät ins Wanken. Der Wert eines Rucksacks, scheinbar synonym für besseres Reisen, entspricht nicht selten dem Jahreslohn des indischen Rikscha-Fahrers.


Magisches »How much?«

In der Regel sind die Kontakte von Einheimischen zu Individualreisenden intensiver als die zu Pauschaltouristen. Erstere bleiben im Normalfall länger an einem Ort, nützen die landeseigene Infrastruktur und weisen durch die insgesamt höhere Reisedauer generell eine größere Zahl von Sozialkontakten mit der Lokalbevölkerung auf. Aber diese These bedarf der Relativierung: Sämtliche Untersuchungen belegen die Kurzzeitigkeit der Alternativaufenthalte an einem Ort. Möglichst viel soll möglichst rasch und möglichst billig gesehen werden. Statt wirklicher Begegnung wird das dauernde Feilschen um Pfennigbeträge mit fortschreitender Reisedauer zur gängigen Praxis. Das magische ‘How much?’ ist Begrüßungsformel Einheimischer wie anderer Traveller gleichermaßen. Jede interkulturelle Kommunikation bedarf einer gemeinsamen Kommunikationsbasis - im Falle Südostasien die Verkehrssprache Englisch, da die Kenntnis der jeweiligen Landessprachen in Backpackerkreisen selten über grundlegende reisetechnische Phrasen hinausgeht. Die Zahl potentieller Kontaktpartner ist somit sehr begrenzt und umfasst im wesentlichen Arbeitnehmer der touristischen Infrastruktur (Souvenirhändler, Guides, Reisebüroangestellte, Kellner, etc.). Leute aus dem Tourismusbusiness also, deren Kontakte zwangsläufig geschäftlicher Natur sind. Sie werden oftmals zu Repräsentanten der Gesamtbevölkerung, was falsche Eindrücke hervorruft.


Sehen als (Miss-)Verstehen?

Die wenigen, die die Trampelpfade verlassen und sich auf die Suche nach den weißen Flecken der Tourismuslandkarte begeben, halten die Teufelsspirale mit ihren Berichten von »noch unberührteren Paradiesen« in Gang. Sie versorgen die Traveller-Szene mit Geheimtipps, die selten lange geheim bleiben, und tragen so zur unaufhaltsamen und selten erwünschten Erschließung bei. Selten dauert es länger als ein paar Jahre, bis der unorganisierte und organisierte Massentourismus Einzug hält, wie das Beispiel Ko Samui zeigt. Noch vor fünfzehn Jahren absoluter ‘Geheimtipp’, verfügt die thailändische Insel heute zwar über kaum einen freien Zugang zum Meer, dafür aber stolz über einen neuen Flughafen! Die Flucht der alternativen Alternativen zu anderen Inseln war unausweichlich: »Let’s party somewhere else«...

Sämtliche Szenarien touristischer Zukunftsentwicklung machen deutlich, dass sich der Trend zum lustbetonten, egozentrierten Individualtourismus weiter verstärken wird. Auch in der Dritten Welt. Aber: Ein Rucksack allein bedeutet noch kein anderes, besseres, landesverträglicheres Reiseverhalten, sondern nur die Billigvariante des kritisierten Massentourismus, der Ferien der Reichen in den Ländern der Armen. Gleichberechtigte Begegnung? Wir, die anders Reisenden, wollen eigentlich gar nicht; und sie, die Bereisten, können nicht. Woher auch, wenn das Europa-Bild von Take That, Techno und Birkenstock geprägt ist, von westlichen Freizeitmenschen auf Besichtigungstrip von exotischer Armut? Mehr als kaleidoskopartige, zusammenhanglose Bilder von konträren Lebenswelten sind selten möglich. Sie scheinen »arm, aber glücklich«, wir dagegen »reich, ohne zu arbeiten« - kopfschüttelnd und verständnislos gehen wir auseinander, im gegenseitigen Glauben, den anderen jetzt endlich zu begreifen: Sehen als (Miss)Verstehen?

Rucksacktourismus ist keine Alternative zum Massentourismus, sondern lediglich eine Unterform auf Niedrigpreisebene mit ähnlichen Erscheinungsformen. Vom vielgerühmten ‘Sanften Tourismus’, der Sozial- und Umweltverträglichkeit kombiniert, kann keine Rede sein. Ob unorganisiert oder pauschal, ob Exklusivtrekking oder gutgemeinte Projektreisen - der Alternativtourismus ist lediglich für die Reisenden alternativ, nicht jedoch für die Bereisten! Lichtjahre liegen zwischen ihrer und unserer Welt, nicht nur Flugstunden. Es gibt sie wieder, die Kolonien, nur heute sind es die Kolonien der Freizeitgesellschaft der westlichen Hemisphäre.

Stark gekürzte Fassung aus: Christian Stock (Hrsg.): Trouble in Paradise. Düsseldorf 1997




Jamaika pauschal

von Deborah McLaren

Mein ganzes Leben lang hatte ich schon von Jamaika gehört und war sehr gespannt, einmal dorthin zu reisen. Als Kind hatte ich Super-8-Filme meines Großvaters gesehen, der als Missionar auf dieser Insel gearbeitet hatte. Ich erinnere mich besonders an einen Film, in dem ungefähr zwanzig Leute unter Bäumen tanzten; am meisten beeindruckte mich ihre Ausstrahlung und Lebensfreude.

Mein Interesse an der jamaikanischen Kultur erlebte mehrere Wandlungen. Während der 70er Jahre, als ich in einer Kleinstadt in den USA aufwuchs, machten Freunde von mir eine Band auf und spielten die Reggae-Songs von Bob Marley. Da ich in einer wirtschaftlich benachteiligten Region lebte und mich mit persönlichen sozialen Problemen herumschlug, konnte ich mich mit dem Kampf der Rastas identifizieren. Mehr als zehn Jahre später, mit einiger Lebenserfahrung und genug Geld ausgestattet, reiste ich idealistisch nach Jamaika, um den dortigen revolutionären Geist besser verstehen zu können. Was ich vorfand, unterschied sich stark von dem, was ich erwartet hatte. Ich hatte das Ausmaß des Kampfes gegen Rassismus und Unterdrückung, die alltägliche blanke Armut, in der viele Jamaikaner lebten, und die historische Unterdrückung der jamaikanischen Kultur nicht realisiert. Ich hatte schlichtweg über das meiste davon hinweggesehen. Ich hatte mir den Traum gekauft, nach Jamaika als Pauschaltouristin zu gehen und dabei intensive Kontakte mit den Einheimischen zu haben.

Intensive Kontakte hatte ich, nur nicht die, die ich mir vorgestellt hatte. Als das Flugzeug in Montego Bay gelandet war, wurde ich sofort von Straßenhändlern und »Hustlern« belagert – selbsternannte »Kleinstunternehmer«, deren wirtschaftliche Lage direkt mit dem Tourismusgeschäft zusammenhing. Ich hatte nicht mal Zeit, mich umzusehen, während ich meinen Willkommensdrink leerte, so beschäftigt war ich mit den Hustlers: »Magst erst mal'n Bier, Alte?«, »Du brauchst'n Typ wie John, der dir alles zeigt«.


Ein sorgenfreies Ferienparadies

Ich war in einer Hotelanlage untergebracht, von der es in der Werbung geheißen hatte, sie sei in einer traditionsreichen Plantage des »Old Jamaika« gelegen. Die Zäune und der Golfplatz erinnerten tatsächlich an die Kolonialzeit – Symbole einer Zeit, die für einige nie vorüber gegangen zu sein schien. Die schöne, am Strand gelegene Anlage bot allen, aus der Heimat importierten Komfort, während die Einheimischen den Strand nicht betreten durften und in einem behelfsmäßigen Bediensteten-Dorf auf der anderen Seite der Strasse lebten. Die T-Shirts im Souvenirshop wurden aus den USA importiert, die Lebensmittel für das Restaurant kamen per Schiff aus Florida.

Ich hatte nicht viel Gelegenheit, auf der »Alten Plantage« Einheimische kennen zu lernen. Sie waren zu sehr mit ihrer Arbeit als Service-Personal beschäftigt. Eines Morgens beschloss ich, die ursprünglichere Seite des Insellebens zu entdecken und überquerte die Hauptstrasse, um einen Nahverkehrsbus nach Montego Bay zu nehmen. Die Wächter am Tor der Hotelanlage beäugten mich misstrauisch. Einige Frauen, die auf den Bus warteten, warfen amüsierte Blicke in meine Richtung. Ein runtergekommener Schulbus hielt, und ich stieg zusammen mit den Frauen ein. Meine Erfahrungen an diesem Tag beschränkten sich auf Hustler, Drogendealer und noch mehr Hustler. Ich konnte nicht herumlaufen, ohne dass mich ein »Guide« ansprach, ich etwas zum »Rauchen« angeboten bekam oder ein Geschäft mit Holzschnitzereien anschauen sollte. Es war außerhalb der Saison. Die vom Tourismus abhängige Wirtschaft war an ihrem Tiefpunkt und die Leute waren dementsprechend verzweifelt.

Eines Abends fuhr ich nach Montego Bay, um Reggae-Musik zu hören. Nach langer Suche fand ich einen kleinen Club für Einheimische. Während wir der Musik lauschten, strömte eine Busladung Touristen herein und beschwerte sich sofort beim Discjockey über die Musik. Schon bald liefen Michael Jackson und Madonna. Nach einer Stunde gingen die Touristen und die amerikanische Popmusik hörte auf, bis die nächste Busladung erschien. Die Songs von Bob Marley hatten keinen Platz in diesem sorgenfreien Ferienparadies für wohlhabende Ausländer.


Besser vorbereitet sein...

Während meines restlichen Aufenthalts auf Jamaika versuchte ich, Einheimische zu treffen, die nicht im Tourismusgeschäft aktiv waren. Aber entweder landete ich in anderen Ferienanlagen oder an Orten wie dem Dunn-Wasserfall, wo ich nur Touristen antraf. Die sozialen Unterschiede zwischen Touristen und Bevölkerung wurden mir immer deutlicher vor Augen geführt. Ich bemerkte, wie die Jamaikaner mich als wohlhabende Touristin wahrnahmen, die Geld wie Heu hat. Ich bemerkte, wie eine künstliche touristische Kultur errichtet wurde, die mit der Kultur Jamaikas nichts zu tun hatte. Die Hotels wurden fast ausschließlich von Briten oder Amerikanern gemanagt. Ich bemerkte die absterbenden Riffe, die von den ungeklärten Hotelabwässern verschmutzt wurden, die stinkenden Müllhaufen hinter den künstlichen Hotelanlagen und das fruchtbare Land, das für neue Touristenunterkünfte gerodet wurde.

An meinem letzten Tag traf ich an einem Pferdestall Joseph, einen Reiseführer. Während wir durch Dörfer ritten, die nichts mit den Hotelparadiesen gemein hatten, in denen ich lebte, erzählte er ein bisschen von sich. Er war auf Jamaika aufgewachsen und hatte lange auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet. Joseph war sehr an Menschen interessiert. Er wollte die Welt sehen, insbesondere die USA, wo »die Leute gute Jobs haben und nicht in Armut leben müssen wie auf Jamaika«. Er erzählte mir, wie niederschmetternd es für ihn war, als er seinen Job auf dem Kreuzfahrtschiff ausgerechnet dann verlor, als eine Fahrt Richtung USA bevorstand. Er hatte auf diese Reise seit Jahren gewartet, und seine Enttäuschung war noch immer spürbar. Trotzdem war sein Interesse an den USA noch gestiegen. Als wir durch eine Barackensiedlung ritten, machte er eine Bemerkung, die mich sehr berührte: »Na gut, ich werde mich besser vorbereiten, damit ich über alles Bescheid weiß, wenn ich dort bin«.

Mein Zusammentreffen mit Joseph ist eine meiner besten Erinnerungen an die Reise: Es war eine menschliche Begegnung, auch wenn die ungleiche Beziehung zwischen Tourist und Führer eine wirkliche Freundschaft verhinderte und wir beide vorurteilsbeladene Bilder voneinander hatten. Die Natur des Tourismus rief in uns idealisierte Bilder von der Kultur des jeweils anderen hervor: Meine Wahrnehmung von Jamaika bestand aus fröhlichen Revolutionären, seine von den USA aus wohlhabenden Freizeitmenschen, die zuhause keine Verpflichtungen haben. Die Tourismusindustrie verstärkte diese Distanz und führte bei Joseph zu einem negativen Selbstbild. Ich wollte Joseph sagen, dass die USA nicht das Paradies waren, für das er sie hielt, aber konnte ich mir das anmaßen? Ich entschied mich, zukünftig besser vorbereitet zu sein, wenn ich eine andere Kultur bereise, und Wege zu finden, ein realistischeres Bild von mir zu zeichnen.





Fun forever? – Rafting in der »Dritten Welt«

von Steffen Schülein

»Noch mit schwerem Kopf (waren es doch gestern mit den netten Mädels wieder ein paar Bier zuviel) quäle ich mich zur Lunch-Bar, hole mir ein paar Sandwichs und steige in den Bus. An der Schlucht angekommen, checke ich kurz meine Ausrüstung. Mein Träger kommt und sagt mir, dass mein Boot unten am Einstieg für mich bereit liegt. Ich beeile mich, um vor den Rafts noch mit meinem Kajak in den Wellen zu surfen. Ich genieße das warme Wasser und tüftle an einem neuen Move. An Rapid N° 5 ›Stairway to Heaven‹ muss ich einige Kunden aus dem Wasser fischen. Ansonsten gibt es keine Probleme und ich genieße Wildwasser pur. Am Ausstieg angekommen, bin ich froh, mein Boot dem Träger zu überlassen. Es ist heiß, der Aufstieg aus der Schlucht anstrengend. Ich beeile mich trotzdem, denn mein Durst ist groß. Ich gehe zum Buffet und schwatze nach dem Essen noch mit einigen anderen Guides, bevor wir abends die Bars unsicher machen.«

So beschreibt Nico Chassing, französischer Safety-Kayaker seinen Tagesablauf am Zambezi. Unterhalb der Victoria Fälle zwischen Zambia und Zimbabwe gelegen, ist der Zambezi das neue Mekka der Kajak- und Schlauchbootfahrer. Perfekt für alle, denen der Grand-Canon des Colorado zu teuer, die Wartezeiten zu lang und die strengen Vorschriften zu ätzend sind.

Ziele in der Dritten Welt eignen sich perfekt als Spielwiese für freiheitsliebende Traveller. Alles steht quasi zur freien Verfügung. Nico fühlt sich als König in »Afrika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Fun ist angesagt. Rafting steht als touristisches Freizeitvergnügen hoch im Kurs. In Europa geht der Trend zum Betriebsausflug im Schlauchboot, in Ländern der Dritten Welt wird das Geschäft mit den Rucksacktouristen gemacht.

Dabei ist Rafting in der Dritten Welt nicht unbedingt billig. Die gleichen Traveller, die beim Feilschen mit den Einheimischen jeden Pfennig umdrehen, greifen für ein paar Spritzer Zambezi-Flusswasser tief in die Tasche. Die gutbezahlten Guides sind zum großen Teil Europäer, Amerikaner oder Australier, in seltenen Fällen Einheimische mit Fremdsprachenkenntnissen. Die schlechtbezahlten und körperlich anstrengenden Jobs bleiben der lokalen Bevölkerung überlassen.

Durch das große Einkommensgefälle kann sich jeder Rucksacktourist Träger und sonstige Dienstboten leisten. Das Diener-Herr-Verhältnis aus kolonialen Zeiten lebt so, getarnt durch eine moderne Abenteuerkulisse, in neuer Form wieder auf. Dabei lebt die Spaßfraktion unbekümmert und unkritisch gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen vor Ort in den Tag hinein.

Rafting ist In. Wer in der Dritten Welt eine Rafting-Tour gemacht hat, ist zu Hause der Held. Starkes authentisches Erlebnis, gute Stories und Fun ohne Ende werden den Rafting-AbsolventInnen unbesehen geglaubt. Was hat es damit auf sich? Rafting spielt mit der Gefahr zu ertrinken, mit der Ohnmacht gegenüber der Kraft der Wassermassen. Der Nervenkitzel gibt in Kombination mit der physischen Aktivität die Illusion einer aktiven Gefahrenbewältigung.

Die Aufgabe des Raft-Guides ist es, dieses Erleben auszureizen. Mit Geschichten über die Gefahren des Flusses, über tödliche Unfälle oder Verletzungen wird die Konzentration der Kunden geschärft und die sekundenschnelle Gehorsamkeit gegenüber den Befehlen des Raft-Guides aktiviert. So wird die Illusion einer unmittelbar drohenden Gefahr erzeugt, um den Kunden den Adrenalin-Kick zu besorgen. Der Verkauf von Erlebnissen geht dabei weit über die Flussbefahrung hinaus. Inzwischen wird mit Videos gearbeitet, die, blitzschnell geschnitten, in den Traveller-Bars gezeigt und verkauft werden. Auf riesigen Leinwänden kann sich jeder Rafting-Kunde noch einmal im Kampf mit dem wilden Element bestaunen. Das wirkt!

Der vielgerühmte Kick ist aber nicht die einzige Motivation. Organisierte Funsport-Trips sind eine Gelegenheit, die Verantwortung für das Gelingen des Urlaubs in die Hände der Organisatoren zu geben und sich dem individuellen Entscheidungszwang beim Reisen auf eigene Faust zu entziehen. Der kleine Pauschalurlaub für Individualtouristen: Kein Feilschen, keine Hotels, kein Diebstahl zu befürchten... . Die Befahrung des Flusses weckt als reelle Aufgabe das Gefühl von Nützlichkeit. Ihre Bewältigung gibt ein konkretes Ziel vor. Außerdem kann das vom Überfluss an Reizen abgestumpfte Traveller-Hirn durch das Springen auf ein neues Erlebnis-Niveau wieder angeregt werden.

Rafting und andere Aktivitäten des Abenteuer-Naturtourismus (wie Trekking, Freeclimbing oder Para-Gliding) versprechen den Ausbruch aus dem Reisealltag. Bestärkt wird diese Hoffnung dadurch, dass die Aktivitäten in wenig eroberten Räumen stattfinden, wo die Natur (inklusive der wenigen Bewohner) als ursprünglich gilt. So wertet die Umgebung das Abenteuer zwar auf, wenn eine Schlucht besonders tief, ein Berg besonders abgelegen und schwer zugänglich ist. Das Naturerlebnis ist dennoch zweitrangig. Der Raftingreisende nimmt nur den Ausschnitt wahr, der einer Steigerung des erträumten Kicks dienlich ist. Der Rest wird ausgeblendet – Müll, Lärmverschmutzung, zertrampelte Ufer spielen keine Rolle. Eine intakte Natur ist für den Adrenalin-Kick keine notwendige Voraussetzung.

Die etwas abseits lebende Bevölkerung profitiert oft überhaupt nicht vom Abenteuer-Tourismus. Im Gegenteil. Am Inka-Trail nach Machu Picchu (Peru) beschweren sich die Dorfbewohner, dass sie »jugo de gringo« (Gringo-Saft) trinken müssen, seitdem die Touristen das Wasser durch Waschmittel, Duschgels, Sonnencremes und Fäkalien verunreinigen. Nicht selten toben die Adventure-Fans in Gebieten von hoher kultureller Bedeutung für die lokale Bevölkerung. So bei einer Raftingtour in der Schlucht des Apurimac in der Nähe der Backpacker-Hochburg Cuzco in Peru. Die Einheimischen werden nicht gefragt, was sie davon halten, wenn johlende und kreischende Horden von Rucksacktouristen auf Schlauchbooten durch den für sie heiligen Ort treiben (Apu ist auf Quechua ein gottesähnlicher Berggeist).

Für die Bewohner bleiben verschmutztes Wasser, Müllberge und durch Scheißhaufen verminte Ufer-Camps. Die Idee Rafting sei ökologisch, da die Fahrt auf dem Wasser keine Spuren hinterlasse, ist einfältig. Rafting-Touristen machen Lärm, stören die Tierwelt, verbrauchen Feuerholz. Dass es ökologisch schädlichere Aktivitäten gibt, muss fairerweise eingeräumt werden. Da es sich bei diesen bislang relativ ungestörten Gebieten aber häufig um sehr sensible Ökosysteme handelt, ist eine Schädigung unvermeidlich.

Mit steigender Touristenzahl und wachsendem Komfortbedürfnis können die ökologischen Konsequenzen des Abenteuer-Natur-Tourismus die Lebensbedingungen der Einheimischen stark beeinträchtigen. Der Versuch, die negativen Folgen zu begrenzen, führt zu den strengen Auflagen, die z.B. in den USA existieren. Genau diese Reglementierung will der Rucksack-Tourist auf der Suche nach Freiheit, Ursprünglichkeit und Abgrenzung gerne vermeiden.

Das Gefühl, wenn schon nicht der erste Mensch am Ort zu sein, so doch zumindest zu den Pionieren des Extremen zu gehören, verspricht das ›Anders-Sein‹ als die vielen anderen Touristen. Die Jagd nach dieser Illusion hetzt unzählige ›Pioniere‹ in die »abgelegensten« Winkel der Erde. Nur um dann festzustellen, dass alle das gleiche Ziel haben und längst schon da sind oder zumindest dahin unterwegs.





Ein Besuch im indischen Esoterik-Projekt Auroville

von Steffen Schülein

Fleißig sind sie, die Bewohner von Auroville. Überall auf dem weitläufigen Gelände finden sich kleine Läden, in denen Souvenirs verkauft werden. Man fährt an Orten mit klangvollen Namen vorbei, etwa an Aurelec, dem Computerzentrum, am Landwirtschaftsprojekt Discipline, an der Solarküche Aurosol oder der Souvenirmanufaktur Fraternity. Unübersehbar werben Plakate für Kurse über Heilungs- und Meditationsmethoden.

Das internationale Aussteiger-Projekt an der Ostküste des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu hat unverkennbare Ambitionen. Es »ist der Ort materiellen und spirituellen Suchens nach einer lebendigen Verkörperung wirklicher menschlicher Einigkeit und Harmonie (Human Unity). Auroville ist niemandes Besitz, ... gehört der gesamten Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man ein williger Diener des göttlichen Bewusstseins sein«, informiert die Auroville Charta.


Progressive Harmonie

Die Siedlung wurde 1968 als alternatives Projekt von ›The Mother‹ entworfen, der Lebensgefährtin Sri Aurobindos. Dieser Heilige aus Pondicherry genoss wegen seines Humanismus und seiner Rolle bei der Entkolonialisierung Indiens ein hohes Ansehen und wird noch heute verehrt. Zusammen hatten ›The Mother‹ und Sri Aurobindo die Idee, ein »kollektives Experiment ins Leben zu rufen ... mit dem Zweck, einen Brückenkopf zu schaffen für ein neues Bewusstsein, welches sich in der Welt zu manifestieren suchte«. Auroville versteht sich als »internationales Experiment, in dem Menschen in Frieden und progressiver Harmonie über alle Glaubensgrenzen, Nationalitäten und Politik hinweg zusammen leben.«


Hip im Auro-Chic

Ursprünglich sollten hier bis zu 50.000 Menschen leben. Heute sind es knapp 1.500. Zwei Drittel der Aurovillaner kommen aus dem Ausland, zumeist aus dem ›Westen‹. Ökologiebewegte Aussteiger sind ebenso vertreten wie New Age-Anhänger, die Szene reicht vom extrovertierten Hippie-Chic bis zum introvertierten Asketen. Die über hundert kleinen, unter dem Label Auroville zusammengefassten Ansiedlungen sind von den angrenzenden Dorf- und Tempelländereien getrennt, in denen ca. 35.000 Menschen leben.

Die Architektur von Auroville orientiert sich an dem von ›The Mother‹ entworfenen Galaxien-Modell. Mehrere Siedlungskomplexe sind sternförmig um das Heiligtum angeordnet, das Matrimandir. Als Sehenswürdigkeit mit spirituellem Flair zieht das Matrimandir auch viele indische TouristInnen an. Auroville erscheint als Insel des sight-seeing und life-seeing, als sonderbarer Ort inmitten des so gänzlich anderen Alltags der umliegenden Dörfer.

Mittlerweile leidet Auroville unter dem Ansturm der TouristInnen, die aber eine wichtige Finanzierungsquelle darstellen. Auf dem Parkplatz reihen sich täglich die Reisebusse, 300 Meter Warteschlange vor der Ticketkasse für den Besuch des Matrimandir sind die Regel. Streitigkeiten darüber, ob das Heiligtum für TouristInnen gesperrt werden soll, wurden vorläufig beigelegt: Das Matrimandir bleibt den Touristen zugänglich, aber es gibt Schonzeiten für die BewohnerInnen. Ob ähnliches auch den geplanten Länder-Pavillons bevorsteht, in denen einzelne Nationen ihre spezifische spirituelle Kultur ausstellen sollen, bleibt abzuwarten.


Klassen und Kasten

Touristen, die morgens aus der idyllischen Pfahlhäuschen-Unterkunft treten, kann es passieren, dass sie in eine Grube fallen. Es handelt sich, der Form nach unverkennbar, um frisch geschaufelte Gräber. Das Gelände mit den Guesthouses ist der Friedhof desjenigen Teils der Dorfbevölkerung, der in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten steht: die Dalits, die ehemaligen ›Unberührbaren‹. Es wird erzählt, ein Dorfchef habe das Gelände einst ›The Mother‹ geschenkt und sich dabei als Höherkastiger (die ihre Toten verbrennen) über die Praktiken der Kastenlosen hinweggesetzt. Da genießen die Touristen ihre Ferien also tatsächlich auf den sterblichen Überresten der Ahnen der Dorfbevölkerung. Entsprechend konfliktgeladen ist die Atmosphäre. Doch lediglich die durchaus existenten esoterik-kritischen Aurovillaner sagen unverblümt: »Die Beziehung zur Dorfbevölkerung ist einer der Knackpunkte«. Die euphorisch angegangenen Projekte der Aurovillaner liefen nicht so wie gedacht und Konflikte mehrten sich. Ein Sicherheitsdienst zur Überwachung der Straßen habe eingesetzt werden müssen, »nur um Präsenz zu zeigen«. Zudem wurde der Appell lanciert, alle ›Aurovillians‹ sollten nur Personal aus den unmittelbaren Nachbardörfern einstellen, da es zu Streitigkeiten zwischen BewohnerInnen verschiedener Dörfer gekommen sei. Doch auch diese wohlgemeinten Ruhigstellungsmethoden sind noch keine Lösung. Bei einem Workshop zum Thema Rural Development wurde die Erkenntnis festgehalten: »So lange es zwei getrennte Klassen in Auroville gibt – (westliche) Arbeitgeber und (lokale indische) Arbeitnehmer – so lange kann das Ideal von Auroville nicht Wirklichkeit werden.«

Der Einblick in die Begegnungen von Esoterik-TouristInnen, Auroville-BewohnerInnen und der Bevölkerung der umliegenden Dörfer hinterlässt Unbehagen. Denn die innerhalb der indischen Gesellschaft bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsgefälle werden durch Auroville tendenziell verstärkt. Insbesondere der entwicklungspolitische Paternalismus gegenüber der Dorfbevölkerung, die teilweise im Dienstleistungsbereich für Auroville, teilweise in Ökolandbau-Projekte zu ›ihrem eigenen Besten‹ eingebunden wird, hat neokolonialen Charakter.

Die esoterisch orientierte Fraktion der Aurovillaner richtet auf dem Weg zu einem höheren Bewusstseinsniveau den Blick eher nach innen als auf die gesellschaftlichen Beziehungen. Sich den Wunsch nach einem harmonischen, multikulturellen Neben- und Miteinander erfüllen zu wollen, gelingt auch hier nur mit entsprechend vielen Räucherstäbchen. Im aurovilleschen Cocktail aus Esoterik, Tourismus und Ökologie scheint die spirituelle Orientierung die Funktion einer rosaroten Brille zu übernehmen, welche die gesellschaftlichen Widersprüche und Ungleichheiten übersehen lässt. Aber vielleicht ist diese Brille unverzichtbar, soll ein Heile-Welt-Projekt wie Auroville über Jahrzehnte bestehen.





Der Trend zum Esoterik-Tourismus

von Eduard Gugenberger

Lange Zeit war der Ort Puttaparthi im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh ein kleines, verträumtes Provinznest. Bis im Jahr 1950 Sathya Sai Baba hier sein spirituelles Zentrum Prasanthi Nilayam, zu deutsch die »Wohnstätte göttlichen Friedens«, errichtete. Sai Baba ist seit den vierziger Jahren als Guru aktiv und gilt seinen AnhängerInnen als »göttlicher Meister, der vom Himmel fiel«. Er ist einer der gefragtesten und einflussreichsten »heiligen Männer« Indiens. Tagtäglich pilgern mehrere Tausend VerehrerInnen in die mittlerweile fünf Ashrams von Sai Baba. Ein großer Teil der Besucherschar, die an der Erleuchtung des Gurus teilzuhaben hofft, kommt aus Europa und Nordamerika. Die regionale Bevölkerung hat sich auf den Massenzustrom aus dem Westen eingestellt und versucht, sich auf verschiedenste Art am Profit daran zu beteiligen. Das kulturelle Leben im Umkreis der Ashrams ist heute ganz auf Sai Baba und seine Lehre ausgerichtet. Eine Entwicklung, die kein Einzelfall ist.


In die Ferne zur Erleuchtung

Esoterik-Reisen sind weltweit im Trend. Entsprechende Angebote finden sich nicht mehr nur in einschlägigen esoterischen Magazinen. GeoSaison, eine der wichtigsten Touristikzeitschriften, hat mittlerweile eine eigene Rubrik »Urlaub für die Seele« eingerichtet. Auf ihrer Suche nach Auswegen aus der tiefen Sinnkrise, in die unsere abendländische Gesellschaft geraten ist, verfallen immer mehr Menschen dem Reiz außereuropäischer Kulturen. Deren ‘Spiritualität’, d.h. ihre angenommene geistige Beziehung zur materiell nicht greifbaren Welt, wird als rein und unbelastet empfunden. Findige »göttliche Meister« und geschäftstüchtige Unternehmer haben das wirtschaftliche Potential dieser Sinnsuche, ja sogar Sinnsucht, schnell erkannt. Meditative Versenkungen, Yoga-Workshops, schamanistische Trance-Tänze, Feuerlaufrituale, spirituelle Einführungen und Einweihungen werden nicht mehr nur hier, sondern vermehrt auch in der Dritten Welt angeboten. Dabei gilt: Je exotischer desto geldträchtiger. Haben die Esoterik-Reisenden erst mal was Interessantes entdeckt, wird es oft gleich in Form von Reiseberichten publizistisch aufbereitet und als spirituelle Fern-Tour angeboten. Sogar esoterische Reiseführer sind längst auf dem Markt. Die Magisch-Reisen-Reihe des Goldmann-Verlages beispielsweise umfasst mittlerweile 18 gut verkaufte Bände, Tendenz steigend. Aus den anfänglichen esoterischen Einzelangeboten ist ein eigener, stetig wachsender und wohlorganisierter Tourismussektor geworden.


Die Angebote: Eso-Reisemüslis für’s Seelenheil

Die »ganzheitliche« Reisetradition geht zurück auf die sechziger Jahre, als die New Age-Bewegung noch in den Kinderschuhen steckte. Damals kam es - zunächst in den USA, mit Verzögerung auch im deutschen Sprachraum - in Mode, möglichst viele verschiedene esoterische Zentren aufzusuchen, um dort bei »spirituellen Meistern« sogenannte »Selbsterfahrung« zu sammeln. Und zwar konkret in Form von Workshop-Abendveranstaltungen, Wochenendseminaren, speziellen Ausbildungslehrgängen oder teuren Mitlebenserfahrungen. Dabei wurden von Anfang an auch größere Härten in Kauf genommen: kleine, schäbige, aber kostspielige Quartiere, Dienstergebenheiten und Gehorsam bis hin zur totalen Hingabe.

Erstes und wichtigstes Pilgerzentrum des neuen »Zeitalters« war das Ende der fünfziger Jahre im Bereich eines Militärstützpunktes von ehemaligen britischen Geheimdienstagenten gegründete Findhorn in Schottland. Die ehemalige New Age-Kommune ist heute ein weltweit agierendes Großunternehmen, das u.a. über eine große Hotelkette verfügt und ein eigenes Touristikbüro eingerichtet hat. Für 1997 werden hier Reisen angeboten wie eine Pilgerfahrt zum Mount Kailash, Heiliges Nepal oder Hawaii: Spirit of Aloha & Adventure. Das Grundmotto dabei lautet: »Abenteuer und Erleuchtung«.

Als weitere Pilgerzentren etablierten sich u.a. das Therapiezentrum Esalen in Kalifornien und der Eso-Treff Sedona im US-Bundesstaat Arizona. Hier sind nicht nur esoterische Meister persönlich anzutreffen, sondern auch indianische »Führer«, die den Zugang zur spirituellen Welt des »alten Amerika« zu öffnen versprechen. Einige der in dieser Region ansässigen New-Age-Unternehmen gehören zu den Pionieren im Bereich der sogenannten Mystic Journeys. Ursprüngliche Hauptreiseziele waren indianische Reservationen, wo man sich am »Bau eines Medizinrades auf indianischen Ritualfelsen« oder an »Meditationen auf alten Hopi-Felszeichnungen« und dergleichen mehr beteiligen konnte. Rücksprache mit den besuchten indianischen Gemeinschaften wurde dabei keine gehalten. Ein von den Basler Sphinx-Workshops angebotenes Mystic Journey Adventure beinhaltete zwar Meditationen, nicht aber Engagement für die örtlichen Ureinwohnergemeinschaften oder gegen den Kohle- und Uranabbau, der das »heilige Land« zerstört.

In den letzten Jahren als esoterisches Reiseziel immer bedeutender geworden sind die Kanarischen Inseln. Mitte der achtziger Jahre machten sich Schüler des deutschen Eso-Bestsellerautors Thorwald Dethlefsen daran, an einem beliebten Strandabschnitt von Lanzarote ein esoterisches Zentrum zu errichten. Der aus der Landschaft herausragende Pyramidenbau von Etora erregte die Gemüter der Inselbewohner so sehr, dass sie Protestaktionen gegen die Erbauer durchführten. Letztlich blieb jedoch ihr Widerstand gegen die Pyramide erfolglos. Der praktische Beitrag der Esoteriker zu der von ihnen proklamierten »Völkerverständigung« besteht seither darin, die »Gesetzmäßigkeiten ihrer kosmischen Ordnung« in kolonialistischer Manier auch auf anderen Kanarischen Inseln zu verbreiten. Hierro und Gomera sind zu In-Treffs esoterisch Interessierter geworden. Die einheimische Bevölkerung verhält sich eher distanziert und abwartend. Beklagt wird, dass sich esoterische Besucher gern in Landschaftsschutzgebieten breit machen, ohne Umweltauflagen zu respektieren.

Waren die Kanarischen Inseln schon im 15. Jahrhundert Ausgangspunkt für die Conquista und die weltweite Eroberungspolitik der europäischen Großmächte, so wurden sie während der achtziger Jahre zum Ausgangspunkt für eine neue, ‘spirituell’ untermauerte Kolonisierungswelle. Denn bald entstanden auch in Afrika, Asien und Lateinamerika Ableger europäischer esoterischer Zentren. In Ägypten zum Beispiel haben westlich-esoterische Schulen »pyramidal-energetisch« beeinflusste Niederlassungen eingerichtet. Experten für die »geistigen Geheimnisse« des Landes am Nil bieten hier »spirituelle Rundreisen zu ausgewählten Orten mit Seminar und eigenen Erfahrungen« an. Nach der Besichtigung altägyptischer Bauwerke kann u.a. ein »Einführungsseminar zur Seminarreihe ‘Der ganzheitliche Erfolgsmensch’« genossen werden. Und ein anderer Reiseveranstalter lockt mit der Aufforderung: »Entdecke das uralte Land Ägypten - eine Reise zum Fühlen der Seele und zu neuen Bewusstseinsebenen«. Die Bewusstseinsebene sozialen Erlebens bleibt dabei freilich ausgespart oder wird aus der Perspektive nobler Fünfsternehotels erlebt. Neben den ägyptischen Stätten sind auch der Sinai und die Sahara als esoterische Reiseziele attraktiv geworden. »Meditation und Selbsterfahrung in der Karawane« wird da zum Beispiel angeboten. Die Wüste, so verkündet ein Veranstalter, »hat das hellste Licht und den funkelndsten Himmel. Sie fördert alle Reflexionen und zeigt: Minimierung der Ansprüche ist Optimierung der Freiheit. Reduktion ist Gewinn.« Zumindest für Wüstenreiseveranstalter.

Als esoterisches Reiseziel bedeutender als Afrika und auch schon viel länger in Mode ist der indische Subkontinent. Schon vor hundert Jahren pilgerten Theosophen hierher, um bei Gurus und Yogis zu lernen, die Adivasi (Ureinwohner) zu studieren und sich schließlich im Land niederzulassen. Adyar, ein Vorort der Millionenmetropole Madras, wurde zum Weltzentrum der Theosophie. Seit den sechziger Jahren ist Indien, das »Ursprungsland von Mystik und Meditation«, zu einem wichtigen Reiseland der Freak-Szene geworden. Eines der wichtigsten Ziele in Indien ist der Ort Rishikesh. Seitdem die Beatles 1967 den dort lebenden Guru Maharishi Mahesh Yogi aufsuchten, haben Millionen WestlerInnen hier meditiert. Die vielen, speziell auf ihre Bedürfnisse hin eingerichteten Ashrams wurden vor allem mit den Geldern reicher, politisch meist im rechten Lager angesiedelter Hindus gebaut. Eine weitere »Wurzel spiritueller Kultur« wird in Auroville vermutet, wo 1968 nach einer Vision des Gurus Sri Aurobindo eine »Stadt der Zukunft« entstand. Bei der Eröffnung waren rund 5000 Menschen aus 124 Ländern anwesend, und der Besucherstrom reißt trotz zahlreicher interner Konflikte und Probleme bis heute nicht ab. Ebenso wenig wie der nach Poona, dem einstigen Mekka der Bhagwanis, das in letzter Zeit in modernisierter Form neu belebt wird. So spricht der mittlerweile verstorbene Meister nunmehr per Video zu einer wachsenden Pilgerschar. Die Zahl der BesucherInnen hat sich in den letzten vier Jahren vervierfacht.

Weil es nicht immer leicht ist, in der Masse »zu sich selbst« zu finden, weichen andere Esoteriker an unscheinbarere Orte aus. Eine dieser »heiligen Stätten« ist das indische Tempeldorf Hampi. 1967 wurde hier ein Ashram eingeweiht, der nach Jahren größeren Zustroms allmählich verkam, bis 1992 die Techno-Szene den Ort für sich entdeckte. Seither pilgern abgehalfterte Goa- und Indienfreaks ebenso wie jüngere AnhängerInnen der Rave-Generation hierher, um in der »skurrilen Landschaft« vor allem ihre Freiheit zu genießen, in örtlichen Cafes zu kiffen und bei den Vollmondpartys »in den Tempeln zu tanzen«. Gesucht wird »das kosmische Gesamterlebnis«.

Politisches und soziales Engagement gehört auch bei esoterischen Indienreisen, gleich ob individual oder organisiert, nicht zum Gesamterlebnis. In einer vom Zentrum Coloman organisierten Reise »zu den Ufern des Narmada« waren alle möglichen esoterischen Praktiken - vom Yoga bis zur Ayurveda-Heiltherapie - enthalten, nicht aber die Unterstützung der an diesem Strom lebenden Adivasi-Gemeinschaften. Diese wehren sich seit Jahren mit spektakulären Aktionen gegen die geplanten und teilweise schon errichteten Kraftwerksbauten, die Zehntausende Menschen heimatlos machen. Auch bei den angebotenen Meditations-Trekking-Touren durch den Himalaja wird ein Engagement für örtliche Aktionsgruppen wie die Chipko Andolan, die sich für den Erhalt von Umwelt und kulturellen Traditionen in den nordindisch-nepalesischen Bergen einsetzen, ausgeschlossen. Auf Anfrage hieß es, man wolle sich nicht in »interne Angelegenheiten« einmischen.


Esoterische Sinnsuche auf kolonialistischen Pfaden

Es wäre sicherlich falsch, den Esoterik-Touristen allen guten Willen abzusprechen. Trotzdem hat gerade der Esoterik-Tourismus spezifische Schattenseiten. Viele der Besuchten beklagen sich wiederholt über mangelndes Einfühlungsvermögen und die Egozentrik der Sinnsuchenden. Häufiger aber noch passen die bereisten Gesellschaften sich den Bedürfnissen der spirituellen Kundschaft an. In diesem Fall kommt es zu umfassenden Kulturwandelprozessen mit schwerwiegenden Konsequenzen. Denn die Vermarktung der eigenen überlieferten geistigen Kultur wirkt tiefer als die Vermarktung materieller (Kultur-) Güter, gilt erstere doch als weltanschauliche Identitätsgrundlage, deren Ausverkauf vielfach als geistige Prostitution empfunden wird. Der Esoterik-Tourismus greift somit stärker in traditionelle Kulturgefüge ein als herkömmliche Formen des Fremdenverkehrs. Entsprechende Studien fehlen bislang zwar, aber aus eigenen Beobachtungen lassen sich eindeutige Trends erkennen:

Esoterisches Reisen schafft tiefe Klüfte zwischen jenen, die sich in Besinnung auf traditionelle Kultur und ›Spiritualität‹ von den Touristen abgrenzen, und jenen, die sich dem neuen Markt durch Ausverkauf ihrer ›spirituellen‹ Güter und Werte öffnen. Dies hat z.B. in manchen indianischen Reservationen Nordamerikas, wie jenen der Hopi und Havasupai, schon zu Zerreißproben geführt.

Der Eso-Reiseboom lässt nicht nur europäische und nordamerikanische Organisatoren profitieren, er schafft auch ein spezifisches Unternehmertum vor Ort. Dieses ist üblicherweise eng mit den Herrschenden verknüpft und tendiert politisch zum Teil weit nach rechts.

Durch Esoterisierung, sprich kommerzielle Aufbereitung für den Eso-Touristikmarkt, werden herkömmliche kulturelle Werte vielfach zugunsten einfacherer Erklärungsmuster aufgegeben. So wird z.B. der Schamanismus durch Shamanic Societies in verklärter Form an ›wilde Kulturen‹ zurückgegeben. Er ist dann nicht mehr integraler Bestandteil der jeweiligen Gemeinschaft, sondern eine weltweite ‘Ur-Religion’ und Praxis, die als solche vor Ort von Touristen erlernt werden kann. Auch in anderen Bereichen schafft der »Esoterik-Kolonialismus« die Voraussetzung für Vereinnahmungen.

Stark gekürzte Fassung aus: Christian Stock (Hrsg.): Trouble in Paradise. Düsseldorf 1997




Fünf Orte – Fünf Blasen

von Fabian Frenzel

Golfplatz

Golf ist eine erstaunliche Art, die Zeit zu verbringen. Man geht und schlägt von Zeit zu Zeit einen Ball in einen künstlich angelegten See oder ein Sandloch. Dann muss man einen neuen kaufen. Und wenn das Spiel vorbei ist, geht man Erdbeersahnetorte essen. Alles durchaus nicht erstaunlich, wenn mal die Leidenschaft geweckt wurde. Wie das geschieht, bleibt ein Rätsel, aber dass es geschehen ist und offensichtlich immer noch geschieht, das kann man sehen. In Andalusien, zum Beispiel. Golfplätze sind inzwischen ein konstanter Blickfang auf der Autostrada zwischen Marbella und Almeria, Golfressorts werden dort eines nach dem anderen gebaut. Und wer spielt Golf? Hunderte und Tausende von Touristen, die nach Andalusien an die Costa del Sol oder die anderen schönen Küsten fahren. Schöne Küsten... zugebaut von Golfappartementblöcken, Bettenburgen und selbst im Hinterland der Küste noch auf jedem Hügel eine Hütte oder ein Palast, bei Marbella auch der des saudischen Königs umgeben von Mauern, gegen die die damalige Berliner ein Sieb gewesen ist... schönes Andalusien, wo bist du geblieben?


Altersheim

Armut im Alter ist unsichtbar. Die Betroffenen verziehen sich vor ihren Fernseher und wagen es nicht, ihre Kinder anzurufen. Deswegen sieht man sowenig Alte, obwohl wir doch immer älter werden und die Gesellschaft gleich mit. Das ist aber nicht der einzige Grund...Deutsche und englische Alte mit Geld haben sich ein riesiges, gut klimatisiertes Altersheim in Andalusien angelegt. Hier ist alles wie zuhause. Es gibt Lidl und Sainsbury und alle Zeitungen, auch die deutschsprachigen »Costa del Sol« - Nachrichten. Wer kann es ihnen verdenken, schließlich kommen so die Kinder auch gern mal zu Besuch, in die quasi ex-territoriale »Urbanisation«. So nennen die Spanier die Neubau-Siedlungen, in denen sich die transnationalen Pensionäre gruppieren.


Wagenplatz

Peter Lustig wohnte in einem Bauwagen und war überhaupt sehr alternativ, dieser Einfluss ist frühkindlich emotional. Ken Kesey und die Merry Pranksters, die Magic Mystery Tour der Beatles, das war dann schon angelesen, und schließlich: die Mieten, die immer höher wurden und der Traum vom besseren Leben da draußen, auf den Hügeln und in den Tälern Andalusiens. Es hat sie getrieben, und jetzt sind sie hier auf Europas größter Wagenburg, in El Murion, wo englische Soundsystem-Exilierte, deutsche AussteigerInnen und Leute aus halb Europa seine nicht mehr versicherten und auch nicht angemeldeten, als Wohnungen ausgebauten LKWs repariert. Ja, sie schrauben. Im Frühjahr, zum Frühlingsanfang verdichtet sich diese Szene in einem Flusstal unweit der verlassenen Dörfern Andalusiens in den Alpoharas und bringt mit Bässen und Ketamin, mit Straßenzirkus und Rainbowharmonie, Alternativkultur zum Ausdruck. Das Dragon-Festival - Himmel und Hölle, nannte das eine Freundin. Manche seit drei, vier Jahren, der Staat oder das Erbe bezahlt den billigen Wein und den grauenhaften Brandy. Repression der Guardia Civil, der spanischen Bundespolizei und Sonne, geklauter Diesel und das seltsam europäische Nest Orjiva, in dem es Vollkornbrot, große Blättchen und ein Internetcafe gibt, wie an allen vergleichbaren Orten der Traveller-Kultur weltweit.


Gewächshaus

Tomaten oder Gurken, Lidl will bestückt sein, wir wollen einkaufen, wir müssen essen, aber wer seine Hände schon daran hatte, das wollen wir nicht wissen, das sollen wir nicht wissen. Warum sind die Tomaten aus Spanien billiger als die aus Holland. Mehr Sonne? Natürlich nicht. Mehr Hände, die arbeiten, einen Tag lang für 10 Euro. Erst kamen die Marokkaner. Dann haben sie sich gewerkschaftlich organisiert, für die Patrons kein Problem, denn es gibt ja noch die MigrantInnen aus Schwarzafrika, neuerdings auch die aus Rumänien. Globale Konkurrenz um ein klein wenig Ausbeutung. Was der Weltmarkt doch Gutes für uns tut. Tomaten aus El Ejido, wo die Spanier die Marokkaner hassen, die Marokkaner die Senegalesen und alle die Rumänen, weil sie die Löhne verderben. Wer verdirbt die Löhne? Tomaten, 500 Gramm für 1,29 Euro. Wir sehen nicht die Hände an den Tomaten, wir sehen ja nicht mal die Pestizide an den Tomaten, die wir abwaschen können, aber die Pflücker nicht, die schlafen in den Gewächshäusern der letzten Ernte, zwischen all dem Gift, es ist nicht so schlimm, es gibt genug, mehr als genug. Und sie sehen uns nicht, wenn wir die Tomaten, die nach zwei Tagen zu schimmeln anfangen, wegwerfen.


Gefängniszelle

Im Provinzknast von Malaga sind sieben Marokkaner verbrannt, die »illegal« in Spanien waren und abgeschoben werden sollten. »Die haben sich ja selber angezündet,« behauptet die Polizei, der vorgeworfen wird, nichts unternommen zu haben. Leute erst einzusperren und dann zu behaupten, sie seien selber verantwortlich für ihr Handeln, erinnert an das Mittelalter, an das man ohnehin oft erinnert wird, zum Beispiel in der Avenida de la Reconquista in Malaga. Zur Erinnerung: Mit Reconquista bezeichnen die Spanier die Zerstörung der andalusisch-maurischen Hochkultur im 15. Jahrhundert; eine selbst nach christlichen Maßstäben barbarische ethnische Säuberung, der Tausende von Juden und Muslime zum Opfer fielen. Eine vergleichbar schamlose Straßennamenpolitik findet sich in Europa heute wohl nur noch in der Republika Srebska. Doch die ganz unsymbolische spanische Grenzpolitik lässt sich schwer von der Schengen-Politik Europas trennen. Entlang der spanischen Südküste hat die EU ein hochmodernes, milliardenteures Überwachungssystem geschaffen, um die kleinen Boote ausfindig zu machen, die die TomatenpflückerInnen nach Andalusien bringen. Dieses System hat einen doppelten Effekt. Einerseits erhöht es die Preise der Menschenschmuggler, sehr zum Wohle der spanischen und marokkanischen Mafia, die immer Wege findet, die Überwachung zu umgehen. Andererseits können die BewohnerInnen von Städten wie Tarifa oder Cadiz beim Strandspaziergang regelmäßig die Leichen derjenigen bergen, deren Boot beim Versuch, die Kontrollen zu umgehen, gekentert ist.

Über die Folgen der Globalisierung wird trefflich gestritten. Was sie bedeutet, lässt sich dennoch schwer erahnen. Andalusien ist von einem verlassenen und unterentwickelten Randgebiet Europas zu einem der besten Plätze geworden, das Phänomen der Globalisierung zu studieren. Eine globale Region, könnte man das in Abwandlung des Konzeptes der global cities nennen. Hier treffen sich TouristInnen und Ausgestiegene, MigrantInnen und Flüchtlinge, alle irgendwie miteinander verbunden. Und dennoch bilden sie – nach den individuellen oder kollektiven Plätzen innerhalb der Hierarchien des Weltmarktes sortiert – ihre eigenen Orte heraus. Die Menschen leben so dicht beieinander wie nie zuvor, wer wollte das noch bestreiten. Nur haben sie davon in den seltensten Fällen eine Ahnung. Der Raum verdichtet sich, doch die Orte bleiben getrennt. Bei der Globalisierungskritik geht es in erster Linie darum, den geteilten Raum als gemeinsamen Raum wiederzuentdecken. Grenzübertritte sind dabei ob mit oder ohne Visum alles andere als leicht.





Ohne Spanisch geht hier nix

von Alfred Globisch

Es war in den ersten Tagen sehr mühsam sich durchs Leben zu schlagen. Schon das Bestellen eines Kaffees war ein abenteuerlicher Akt. Als ich es endlich auf spanisch herausbekam, fragte mich der Kellner etwas, sicher nur »Mit Milch und Zucker?« oder ähnliches, doch ich verstand wieder nichts. Ich nahm mir vor, täglich mindestens fünfzig Vokabeln zu lernen und machte damit anfangs sehr große Fortschritte. Dennoch reduzierte sich mein ganzes Dasein in den ersten Tagen, wegen der mangelnden Sprachkenntnisse, auf die notwenigen Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen. Das war anfangs auch nicht besonders dramatisch, denn es gab sehr viel Neues zu sehen. Auch schon der Umstand, dass ich das machen konnte, was ich wollte, oder auch mich einfach treiben lassen konnte, verschaffte mir eine gewisse Befriedigung. Es war dennoch erstaunlich, wie man vom sozialen Geschehen ausgeschlossen wird, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Wie man, aufgrund dieser Sprachbarriere, neben der Gesellschaft existiert, zur Passivität, zum stillen Beobachter, verdammt wird.

Landschaftlich war der Lago Villarrica der Höhepunkt meiner Rucksackreise. Auf irgendwelche Begegnungen mit anderen Reisenden war ich nicht besonders scharf. Auf allen meinen Reisen hatte ich bis dato die Erfahrung gemacht, dass alle Unterhaltungen in etwa nach dem gleichen Muster abliefen: »Hallo, wo kommst du her?«, »Wo warst du schon, wo gehst du hin?«, »Wie lange bist du schon unterwegs?«, »Da musst du unbedingt hin!«, »Dieses Hotel ist echt super und total billig.« Häufig kommt es bei diesen Gesprächen nicht einmal zum Namensaustausch, geschweige denn zum Austausch von persönlichen Gefühlen oder Gedanken. Nein, unterwegs auf andere Reisende zu stoßen war für mich ein Graus. Ich zog es lieber vor, alleine meine Erfahrungen zu sammeln. Außerdem interessierten mich die Chilenen mehr, als irgendwelche Storys aus den USA oder von sonst noch wo. Ich genoss die Tage am See, lernte weiter Vokabeln. Eine bessere Kulisse zum Lernen konnte ich mir nicht vorstellen. Ansonsten jedoch war das Wetter auf dem Weg zurück nach Santiago, mit Ausnahme von Villarrica, mies, was mit der Zeit auch immer mehr auf meine Stimmung schlug. Bei dem Regen war ich häufig gezwungen, in meinem Zimmer zu bleiben und dort hatte ich nichts zu tun, als Vokabeln zu pauken. Dieses Sprachdefizit wurde auch langsam zur Belastung. Die anfänglichen Fortschritte verlangsamten sich, da die Materien schwieriger wurde und so ohne Sprachkenntnisse lebte ich isoliert neben der Gesellschaft.





Was ein Poltern mit dem Wort »Sissmo« zu tun hat

von Alfred Globisch

Auch die Situation am ersten Abend war etwas sonderbar. Ich lag auf meinem Bett und blätterte im Reiseführer, als plötzlich ein Ruck durch das Zimmer ging. Es war ein kurzer, gewaltiger Stoß, ganz eigenartig. Ich konnte mir nicht erklären, was es war. Ich wusste nur, dass es kein Poltern gegen die Wand war, auch dass eine Etage über mir niemand aus dem Bett gefallen war, dann hätte es schon eine Horde Elefanten gewesen sein müssen. Da ich mir also keinen Reim darauf machen konnte, zog ich meine Hose an und lief runter. Vor der Rezeption saß nur ein älterer, grauhaariger Mann auf dem abgenutzten Sessel und unterhielt sich mit der Frau hinterm Glas. Auf der Straße fuhren die Autos, wie schon den ganzen Nachmittag, auch sonst schien alles ganz normal zu verlaufen. Nebenbei bemerkte ich, dass die Sonne schon untergegangen war, nur noch ein leichtes Rot färbte den Himmel.

Ich schaute die Frau fragend an, und sie schaute genauso fragend, nur viel strenger, zurück. Ich hätte sie gern gefragt, was dieser Ruck zu bedeuten hatte, doch sie sprach auch kein englisch und ich hatte keine Ahnung wie meine Frage auf spanisch lautet. Eigentlich wollte ich gleich wieder hoch, doch die Frau fixierte mich so fest mit ihren Blicken, dass ich nur regungslos, wie festgenagelt, dastehen konnte. In mir regte sich wieder ein schlechtes Gewissen, als wäre ich die Ursache für den Ruck. Dieses Mal wollte ich jedoch dem Blick standhalten, wollte wissen, was hier vor sich ging, ich blickte ebenso fest entschlossen zurück. Unsere Blicke waren wie ein Kampf: Wer zuerst blinzelte hatte verloren, musste sich in Schande zurückziehen. Ich war fest entschlossen, diesen Kampf zu gewinnen.

»Sissmo!«, rief der alte Mann auf dem Sessel. Es klang wie ein Aufruf zum Waffenstillstand, wie eine Aufforderung, mit diesem sinnlosen Kampf aufzuhören. Ich kannte das Wort nicht, bemerkte aber gleichzeitig, dass ich in der Hektik vergessen hatte, meinen Hosenladen zu schließen. Jetzt ging es nur noch darum, ohne Gesichtsverlust aus der Situation, die für mich ganz und gar peinlich zu werden begann, herauszukommen.

»Ah.« Sagte ich verständnisvoll und tat, als sei nun alles klar. Ich drehte mich um, signalisierte dem Mann, dass ich mit seiner Antwort zufrieden war und ging wieder zurück. Im Augenwinkel bemerkte ich wie die Frau triumphierte. Ja, sie hatte den Kampf gewonnen und ich kam mir wie ein Trottel vor, hatte wieder ein schlechtes Gewissen.

Im Café wurde dann wild durcheinander diskutiert, jeder wusste es besser, hatte das beste Rezept für den Sieg, vor allem aber versuchte jeder noch lauter zu sein als der Nachbar und der Fernseher. Am nächsten Morgen stand dann in den Zeitungen auf der halben Titelseite »Sissmo: 5:6«, was wohl »großartig« und »klasse« hieß. Nachdem die Flaschen ihren Besitzer gefunden hatten, wurde der Fernseher eingeschaltet. Es schien so, als sei er der Chilenen liebstes Kind. Es liefen Nachrichten, was mich sehr interessierte, konnte ich doch wenigstens die Wetterkarte lesen, wenn ich auch den Rest nicht verstand. Doch schon ganz am Anfang zog ein Wort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich: »Sissmo«! Das Wort wurde ständig wiederholt und später sah ich, in einem Livebericht, eingestürzte Häuser und Menschen, die in Decken gehüllt in Parks campierten. Als sie dann noch eine Karte von der Umgebung Santiagos zeigten, auf der ein Epizentrum, mit den sich ausbreitenden Wellen, dargestellt wurde, war mir schlagartig klar, was das Wort »Sissmo« bedeutet.

Ich hatte in meinem Zimmer ein Erdbeben der Stärke 5,6 miterlebt. Mir war auf einmal nicht sehr wohl, und ich hätte mich über den chilenischen Wein noch mehr gefreut.

Auszug aus, Globisch, Alfred: Nescafé und Nirwana. Ein Reiseroman.




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