Afrika
Ägypten: Das leichte Brot der Armen
Strukturanpassung, Armut und der Sozialfonds in Ägypten
Seit 1991 wird in Ägypten ein Strukturanpassungsprogramm durchgeführt. Es enthält den üblichen Maßnahmenkatalog der Weltbank: Die Wirtschaft soll liberalisiert und privatisiert, die staatlichen Ausgaben reduziert werden. Wie in vielen anderen Ländern wurde ein Sonderfonds eingerichtet, um die entstehenden sozialen Härten abzufedern. Nach sieben Jahren lassen sich die Ergebnisse von Strukturanpassung und Sozialfonds bilanzieren.
von Cilja Harders
Ziel der Strukturanpassungsprogramme (SAP) ist auch in Ägypten, eine Marktwirtschaft mit möglichst wenig staatlichen Eingriffen herzustellen und die Staatsfinanzen zu sanieren. Tatsächlich konnte die Regierung seit 1991 einige makroökonomische Verbesserungen erreichen. Dem Egyptian Human Development Report (EHDR) von 1996 zufolge sanken das Budgetdefizit und die öffentlichen Ausgaben deutlich, und auch die Inflation ist von 20% (1989) auf knapp 7% (1996) gesunken. Zudem ist laut ägyptischem ›Bericht über die menschliche Entwicklung‹ die nationale Armutsquote zwischen 1991 und 1996 gefallen.
Die Stabilisierung dieser Daten wurde allerdings auf Kosten anderer Faktoren durchgesetzt. Die Arbeitslosenquote liegt weiterhin bei 11%, und das Pro-Kopf-Einkommen sank zwischen 1991 und 1995 um 0,8% (1993 lag es bei nur 600 US$). Ein insgesamt niedriges Wachstum wird begleitet von steigenden Preisen und bestenfalls stagnierenden Einkommen. Das wirkt sich direkt auf die armen und von Armut bedrohten Bevölkerungsgruppen aus. Obwohl wie angegeben der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung zwischen 1991 und 1996 von 25% auf knapp 23% gefallen ist, leben in Ägypten aufgrund des Bevölkerungswachstums weiterhin knapp 14 Mio. Menschen unter der Armutslinie (EHDR). Dabei zeigt sich ein klarer Trend zur Verschärfung der Armut in der Stadt. Zwar leben immer noch die meisten Armen auf dem Land, vor allem in Südägypten, aber ihr Anteil geht prozentual zurück. Der Bericht bestätigt außerdem eine oft geäußerte Vermutung von SAP-KritikerInnen, daß Strukturanpassung Gruppen neuer Armer und von Armut Bedrohter schafft: Legt man eine Armutslinie an, die nicht nur die Kosten für die minimalen Nahrungsmittel und die Befriedigung der sonstigen Grundbedürfnisse umfaßt, dann zeigt sich, daß diese Form der neuen »milden Armut« zwischen 1991 und 1996 von 18,7% auf 22,5% gestiegen ist. Zusammengerechnet ist also knapp die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung arm. In diesem Kontext ist das Absinken der nationalen Armutsquote nicht mehr sehr aussagefähig.1
Zentrale Bedeutung für die Verschlechterung der Lebenssituation armer und von Armut bedrohter Gruppen in Ägypten haben die durch Strukturanpassung ausgelösten Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel. Gerade Arme geben oft bis zur Hälfte ihres Budgets für Brot, Reis, Öl, Nudeln und ähnliches aus. Der Staat streicht im Rahmen von SAP Subventionen für einige Produkte ganz, für andere teilweise, die Zuteilungen werden verknappt oder die Preise erhöht. Brot zum Beispiel wird noch subventioniert, aber der einzelne Brotlaib ist stetig leichter und teurer geworden. In Zahlen: Zwischen 1989 und 1995 stiegen die Kosten für den minimalen ägyptischen Überlebenswarenkorb in der Stadt um 425%. Parallel dazu wurden durch die Abwertung des ägyptischen Pfundes die wichtigen Nahrungsmittelimporte deutlich teurer, was sich in Preissteigerungen am lokalen Markt niederschlägt.
Die meisten Armen in Ägypten sind im informellen Sektor tätig und verdienen dort unregelmäßig und wenig Geld.2 Sie sind deshalb besonders anfällig für Arbeitsmarktschwankungen. Wenn etwa im Bausektor, in dem viele Arme tätig sind, Flaute herrscht, werden weniger Tagelöhner zu niedrigeren Löhnen beschäftigt. Da die meisten armen Haushalte zentral vom Einkommen des meist männlichen Familienernährers abhängen, haben solche Schwankungen katastrophale Auswirkungen für den täglichen Kampf um die Existenz. Die Familie ißt billigere und qualitativ schlechtere Nahrungsmittel, spart Mahlzeiten ein und muß auf Fleisch und Huhn ganz verzichten. Vor allem Frauen und Kinder zahlen den Preis. Zwischen 1991 und 1996 ist die Zahl der mangelernährten Kinder in der Stadt von 7,1% auf knapp 10% gestiegen (EHDR). Frauen, die in den meisten Fällen für die Verwaltung des knappen Familienbudgets zuständig sind, unternehmen große, unbezahlte und in der offiziellen Statistik nicht einbezogene Anstrengungen, um das Einkommen ihres Haushaltes gegen solche Schwankungen abzusichern. Ihre vielfältigen monetären und nicht-monetären Aktivitäten, die Verausgabung von Zeit, sozialem Kapital und Arbeitskraft innerhalb und außerhalb des Haushaltes ist zentral für das Überleben ihrer Familien. Das macht sie zu einem sehr verletzbaren und gleichzeitig unsichtbaren menschlichen Puffer für die Folgen von Strukturanpassung, die sie vor allem durch Mehrarbeit abzufedern versuchen. Armut ist eben nicht nur eine Frage eines statistisch erfaßbaren niedrigen Geldeinkommens, sondern ein Zustand grundlegender sozialer und materieller Unsicherheit und Informalität, der abhängig von individuellen und globalen Faktoren Veränderungen unterliegt.
Der Sozialfonds als Puffer
Die Verschlechterung der Situation grosser Bevölkerungsteile ist mit dem Beginn von SAP einkalkuliert. So wurde wie in vielen anderen Ländern auch in Ägypten parallel ein Social Fund for Development (SFD) eingerichtet. Er soll die Akzeptanz für das Programm erhöhen und gleichzeitig seine sozialen Folgen abfedern. Der Fonds hatte 1996 ein von 18 Gebern aufgebrachtes Budget von knapp 750 Mio. US$. Seine fünf Programme sollen mit Hilfe von Training, Kreditvergabe und öffentlicher Arbeitsbeschaffung dauerhaft Arbeitsplätze und Einkommen sichern und die Armut im Land lindern. Laut SFD haben fast 30% der ägyptischen Bevölkerung von den Aktivitäten des Fonds profitiert. In früheren Berichten war allerdings nur von bescheidenen 0,5% die Rede. Offensichtlich hat der Fonds - es lebe die Statistik - seinen Klientenbegriff geändert und bezieht nunmehr nicht nur Einzelpersonen ein, sondern auch von ihnen abhängige Haushalte und ganze Nachbarschaften, die in den Genuß von Infrastrukturprojekten gekommen sind. Ob der Fonds die armen Schichten erreicht, ist allerdings zu bezweifeln. Zunächst werden nämlich 50 % aller Gelder über Banken verteilt, und weitere 40% gehen an lokale und regionale Regierungsinstitutionen. Beides erschwert den Zugriff der Armen, die vom offiziellen Kreditmarkt ohnehin ausgeschlossen sind.
Außerdem erfordert die Antragstellung Qualifikationen, die viele Arme nicht besitzen, etwa Schreib- und Lesefähigkeit. Nur wenig Arme kennen den SFD und natürlich erhält einen Kleinkredit nur, wer eine Sicherheit anbieten kann - auch darüber verfügen die meisten Armen nicht. Infrastrukturprojekte, die armen Vierteln zugute kommen, schließen die ganz Armen oft dadurch aus, daß finanzielle Eigenbeteiligungen erforderlich sind. Strom und Wasser fließen so an den bedürftigsten Haushalten vorbei. Zudem tendiert der Fonds dazu, Männern Arbeitsplätze zu vermitteln und Frauen soziale Dienstleistungen anzubieten. Das traditionelle gender bias in der Entwicklungspolitik wird hier wiederholt. Arme, obwohl zu den wichtigsten Zielgruppen des SFD gehörend, sind also oft strukturell von den Hilfen des Fonds ausgeschlossen. Zudem setzen internationale Geber auch über den SFD eine Entwicklungsagenda durch, die derjenigen der Strukturanpassung ähnelt. »Der Westen finanziert NGOs mit einer westlichen Agenda. Gestärkt werden lokale NGOs, die staatliche Funktionen ersetzen sollen. Damit wird dem IWF-Ziel, die Rolle des Staates in der Dritten Welt zu schwächen, in die Hände gearbeitet. Und die Geber unterstützen solche Projekte, die Markt- und Geldwirtschaft und ihre Verbreitung fördern. Sie sind damit Teil der Durchsetzung von Globalisierung auf der lokalen Ebene. Sie unterstützen individuelle Lösungen und vermeiden kollektive Strategien. Bestes Beispiel dafür sind die einkommensschaffenden Projekte, die immer Kredite an Einzelpersonen vergeben und nur selten an Genossenschaften.«3 Eine 'Demokratisierung der Machtlosigkeit' also, wie der afrikanische Sozialwissenschaftler Claude Ake einmal den Zusammenhang von Demokratisierungspolitik und Strukturanpassung beschrieb?
Schwacher Staat - starker Staat
Für den ägyptischen Fall ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die Staatspartei hat sich bisher dem Druck des IWF zu einer raschen und drastischen Umsetzung von SAP widersetzt - zu Massenentlassungen z.B. ist es noch nicht gekommen - und ihre Machtposition behaupten können. Dazu trägt auch bei, daß Gelder des Sozialfonds die Stellung von Staat und Regierung nicht nur schwächen, sondern im Gegenteil noch festigen können, wenn etwa Regierungsvertreter diese verteilen, als kämen sie aus ihrer Privatschatulle. Wie die Strukturreformen und die internationale Entwicklunghilfe trägt damit auch der SFD zur Stabilisierung eines politischen Systems bei, das Menschenrechte und politische Freiheiten nicht achtet.4 Die Strukturanpassung baut also minimale Ansätze von wohlfahrtsstaatlicher Verantwortung weiter ab und trägt die Verantwortung dem Individuum an. Eine Einkommensumverteilung als Mittel der Armutsbekämpfung wird dabei ebensowenig diskutiert wie die Wachstumslogik der internationalen Geber hinterfragt wird. Gleichzeitig stärken viele Reformmaßnahmen entgegen dem propagierten Anliegen der Strukturanpassung den Staat, seine Repressionsmacht und die herrschenden Eliten5 - insbesondere dann, wenn sie wie in Ägypten langsam durchgeführt werden.
Anmerkungen
- An dieser Stelle stellt sich das Problem der Bewertung solcher Daten, mit denen die Erfolge von SAP weltweit demonstriert werden sollen. Die statistisch ermittelten Angaben übersetzen gesellschaftliche Prozesse in scheinbar objektive Zahlen. In der entwicklungspolitischen Debatte werden die Indikatoren, die Wachstum oder Wohlstand ausdrücken sollen, schon lange kritisiert. So zum Beispiel das Pro-Kopf-Einkommen, das keine Angaben über die Verteilung gesellschaftlichen Wohlstandes macht. Oft fehlen Zeitreihendaten, die den Langzeitvergleich erlauben - nicht zuletzt, weil viele Staaten erst durch internationale Gelder in die Lage versetzt wurden, nationale Statistiken aufzubauen. IWF und Weltbank sind auf diese Daten zur Bewertung und Legitimation ihrer Politik angewiesen und sie sind auch die einzigen, die im weltweiten Maßstab Daten produzieren und veröffentlichen. Angesichts dieses Monopols ist es schwierig, den Erfolgsmeldungen mehr entgegenzusetzen, als eine kritische Lektüre der vorhandenen Daten sowie die Gegenüberstellung des abstrakten Zahlenmaterials mit Beobachtungen zur konkreten Lebenssituation der betroffenen Bevölkerung.
- Die klassischen Sozialversicherungssysteme (Arbeitslosigkeit, Renten, Krankheit) umfassen dagegen lediglich die im formalen Sektor beschäftigen BeitragszahlerInnen. In den Genuß direkter und beitragsunabhängiger staatlicher Wohlfahrtsleistungen für Arme über 65 Jahre kamen 1994/95 jedoch nur 900.000 Personen. Die einmaligen oder regelmäßigen Zahlungen liegen zudem mit durchschnittlich 25 LE zu niedrig, um ein Existenzminimum zu sichern. Und die Zahl der Hilfsempfänger sinkt ständig - allein zwischen 1987 und 1994 um knapp 35%.
- Die ägyptische Sozialwissenschaftlerin Shahida al-Baz in einem Gespräch mit der Autorin.
- In einem solchen Kontext sind auch viele lokale NGOs keine unabhängigen Agenten, sondern sind in bestehende lokale Hegemonien eingebunden, die sie noch stabilisieren
- Jüngstes Beispiel sind die Landreform-Gesetze, die etwa 1 Mio. Kleinpächter und ihre Familien in die Landlosigkeit und damit die absolute Armut freisetzen werden, während gleichzeitig die städtischen Landbesitzer und diejenigen, die mehr als 10 Feddan Land (4,2 Hektar) besitzen, von der Liberalisierung der Landpreise und der Pachtverhältnisse profitieren werden.
Cilja Harders ist Doktorandin im DFG-Projekt "Demokratisierung und Partizipation in Afrika" an der Uni Hamburg. Die Daten wurden zwischen 1995 und '98 während mehrerer Forschungsaufenthalte in Kairo gewonnen.
erschienen in: iz3w 230, Freiburg 1998
Algerien: Die Sprache des Brotes
Frankophonie und Arabisierung in Algerien
In Algerien trat zuletzt im Sommer 1998 anlässlich des Nationalfeiertages zur Unabhängigkeit von Frankreich ein Gesetz zur Arabisierung der Verwaltungssprache, Medien und Bildungswesen in Kraft. Gegen diese staatliche Politik zur Förderung einer nationalen Identität wehrt sich ein Teil der frankophonen Elite. Die Minderheit der Berber besteht zusätzlich auf die offizielle Anerkennung ihrer kulturellen und sprachlichen Identität. Damit setzen sich beide Gruppen immer wieder der Verfolgung durch Islamisten aus. Auch sie betrachten die Sprache als zentrales Element ihrer kulturellen, nationalen und sozialen Identität.
von Ulrike Mengedoht
Die Rolle des Französischen in Algerien und die aktuellen Arabisierungsversuche sind nur vor dem Hintergrund des französischen Kolonialismus zu verstehen. Dessen Ziel bestand darin, seine politische und sozio-ökonomische Herrschaft über die algerische Bevölkerung auch sprachlich und kulturell zu untermauern. Die einheimischen Sprachen wurden als minderwertig betrachtet. Gestützt auf die Prinzipien der französischen Revolution und der daraus erwachsenden Forderung nach linguistischem Unitarismus, d.h. der Einheit von Staat, Nation und Sprache, sollten die Einheimischen als zukünftige Mitglieder der französischen Nation durch den Erwerb der französischen Kultur und Sprache »zivilisiert« werden.
In der Realität galt das Assimilationsprinzip hauptsächlich für eine kleine einheimische frankophone Elite, die ihren sozialen Aufstieg in einer ausschließlich in Französisch funktionierenden kolonialen Gesellschaft realisierte. Sie rekrutierte sich u.a. auch aus Kabylen, die zwei Drittel der berberischen Bevölkerung Algeriens ausmachen. Die Kolonialmacht versuchte durch die Förderung des Berbertums, Berber und Araber zu trennen und die Entstehung eines gemeinsamen nationalen Bewusstseins zu verhindern. So erfuhr die kabylische Bevölkerung insgesamt eine stärkere französische Bildung als die anderen Algerier. Diese erleichterte ihnen die Arbeitsmigration nach Frankreich. Bis heute ist die Mehrheit der Kabylen frankophon. In dem Maße, in dem das moderne koloniale System in die traditionelle algerische Gesellschaft eindrang, wurde die arabische Sprache auf den traditionell-religiösen Bereich zurückgedrängt und Französisch als Sprache der Moderne und der Effizienz für alle Algerier unerlässlich. Die Sprache blieb dabei vor allem ein mündliches Phänomen, dass allerdings mit höchst unterschiedlicher Kompetenz gesprochen wurde. 1962 waren nur 8,9% der algerischen Bevölkerung in Französisch alphabetisiert. Die französische Sprache verkörperte die sog. »langue du pain«. Sie hatte somit einen utilitaristischen Aspekt und war als Sprache der Moderne begehrt, als Sprache des Kolonialismus symbolisierte sie Ablehnung. Diese Ambiguität haftet ihr teilweise bis heute an.
Als Gegenreaktion auf die 132 Jahre andauernde Kolonialherrschaft leitete der erste algerische Präsident, Ben Bella, 1962 eine neue Sprachpolitik ein. Der Islam und das Arabische waren im Befreiungskampf zu einem zentralen Element der nationalen Identifikation geworden. Die Arabisierungspolitik hatte das Ziel, sich nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch kulturell und sprachlich vom ehemaligen Kolonisator zu emanzipieren. Dies war nicht von einem auf den anderen Tag möglich. Zudem war der Kontakt zur Moderne in Algerien über das Französische erfolgt, so dass Begriffe aus Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Verwaltung nicht ins Arabische übertragen wurden. Auch die im Regierungsprogramm festgelegte Industrialisierungspriorität und die hierfür notwendige Kooperation mit Frankreich machten die französische Sprache unentbehrlich. Es wurde somit in den ersten Jahren der algerischen Unabhängigkeit ein zweisprachiges System beibehalten.
Als zu Beginn der 80er Jahre die sozio-ökonomische Krise offen zutage trat, drohte der algerischen Führung der Verlust ihrer Modernisierungslegitimation. Um so mehr versuchte sie, ihre arabisch-islamische Identität zu betonen und forcierte die Arabisierungspolitik. Dies gefährdete die Positionen der frankophonen Elite. Während diese es jedoch nie offen gewagt hat, sich für die französische Sprache in Algerien einzusetzen, um nicht als Antinationalisten zu gelten, brachten die Berber, unter ihnen viele frankophone Kabylen, ihren Protest gegen die Arabisierung zum Ausdruck. Unter anderem forderten sie schon 1980 die offizielle Anerkennung und Förderung der berberischen Sprachen und Kulturen.
Besonders der über die Schulpolitik stark arabisierten algerischen Jugend gehen die staatlichen Programme nicht weit genug. Während das Schulsystem seit 1989 komplett arabisiert ist, bleibt Französisch im Sekundar- und universitären Bereich weiterhin Unterrichtssprache in Medizin, Technologie und Informatik. Die französische Sprache wird somit zu einem Selektionsinstrument, das sich in Algerien als elitäre Minderheitensprache verfestigt. Die überwiegend arabophonen Jugendlichen finden mit ihren Forderungen nach einer weitergehenden Arabisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens, von der sie sich bessere soziale Aufstiegsmöglichkeiten erhoffen, Unterstützung bei den Islamisten. Während sich die erfolgreichen frankophonen Schriftsteller offen zu ihrer Wahlsprache bekennen und sie als ein Instrument sehen, mit dem sie auch politische, religiöse und sexuelle Tabuthemen ansprechen können, werten die Islamisten die französische Sprache als Zeichen der Abhängigkeit vom ehemaligen Kolonisator.
Der Text ist die redaktionell gekürzte Fassung eines Aufsatzes der Autorin in: P. Chichon (Hg.), Sprachliches Erbe des Kolonialismus in Afrika und Lateinamerika, Wien 1996
erschienen in: iz3w 247, Freiburg 2000
Elfenbeinküste: Unter französischer Schirmherrschaft
In der Côte d'Ivoire etablieren sich internationale Truppen
von Bernhard Schmid
»Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich noch mal mit den Franzosen zusammen in einem Land einmarschieren lasse«, legt die Pariser Satirezeitung Le Canard enchaîné US-Präsident Bush in den Mund. Die Karikatur bezieht sich auf die aktuellen Vorkommnisse in Haiti. Vor der dortigen Intervention hatten sich die beiden Großmächte aber schon wegen eines anderen Konfliktherdes einigen können. Am 17. Februar erteilte Washington dem französischen Plan zur Zukunft der westafrikanischen Côte d'Ivoire seine Zustimmung.
Der Plan sieht im Rahmen der UN-Mission ONUCI die Stationierung von Blauhelm-Soldaten während der kommenden zwölf Monate vor. Ihre Entsendung wurde am 27. Februar vom UN-Sicherheitsrat einstimmig abgesegnet. Die USA werden 27 Prozent der Finanzierung übernehmen. Im Gegenzug erwartet die US-Administration von der französischen Regierung, dass sie ihrerseits einer UN-Mission im Sudan zustimmt, wo aus US-Sicht eine Front im »Anti-Terror-Krieg« verläuft. Ebenso fordert die US-Regierung von Paris Unterstützung für die Fortsetzung der UN-Missionen in Liberia, wo derzeit 15.000 Mann stationiert sind, und in Sierra Leone, wo eine Präsenz von 2.000 Mann aufrecht erhalten werden soll. In Liberia sind vor allem US-amerikanische, in Sierra Leone britische Interessen tangiert.
In Côte d'Ivoire sind derzeit bereits 4.000 französische Soldaten stationiert. Der UN-Sicherheitsrat sieht ausdrücklich vor, dass diese als Eingreiftruppe herbeieilen, wenn die Blauhelme Hilfe benötigen. Die Franzosen bleiben »mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen« im Oktober 2005, zitiert das Wochenmagazin Valeurs actuelles einen französischen Militärberater. Damit nicht genug: »Wir bereiten uns auf lange Jahre einer verstärkten Präsenz vor«.
Die Côte d'Ivoire ist seit einigen Jahren in der Krise. In dem neben Nigeria reichsten Staat Westafrikas war das staatskapitalistische Entwicklungsmodell gescheitert und seit den 80er Jahren brachen die Preise für die agrarischen Exportprodukte des Landes ein. Nachfolger des 1993 verstorbenen Diktators Houphot-Boigny wurde Henri Konan Bédié, der die ausbrechende Verteilungskrise zu verwalten hatte. Er führte eine auf ethnischen Kriterien beruhende Gesetzgebung ein, die unter anderem dazu führte, seinen chancenreichsten Widersacher Alassane Ouattara von den Wahlen ausschließen zu lassen. Nach gefälschten Wahlen wurde Bédié 1999 gestürzt. Aus diesem Anlass kam es zu einer Kraftprobe an der französischen Staatsspitze: Staatspräsident Chirac wollte das französische Militär zur Rettung des Diktators intervenieren lassen. Der sozialdemokratische Regierungschef Jospin war dagegen und setzte sich durch. Innerhalb der ivoirischen Gesellschaft fanden derweil Pogrome statt, die u.a. auf den massiven Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Norden und im Süden des Landes beruhten. Im Herbst 2002 kam es zur Meuterei von Armeeangehörigen. In Abidjan und in der Hauptstadt Yamoussoukro bekam die Regierung des im Jahr 2000 gewählten Präsidenten Laurent Gbagbo die Situation zwar wieder unter ihre Kontrolle. Jedoch konnten die Rebellen die nördliche Landeshälfte halten, da sie sich dort auf die Sympathie der Bevölkerung stützen, die sich staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt sieht. Seitdem verläuft die Frontlinie zwischen Yamoussoukro und der nördlichen Stadt Bouaké.
Die Ex-Kolonialmacht Frankreich sorgte im Januar 2003 dafür, dass im französischen Marcoussis eine »Kompromisslösung« zwischen beiden Konfliktparteien ausgehandelt wurde. Sie sieht die Bildung einer gemeinsamen Regierung aus dem bisherigen Kabinett und den Rebellenführern vor. Dass die französische »Schirmherrschaft« den Rebellen so weit entgegen kam, hat zwei Gründe: Erstens ist Gbagbo ein Parteifreund der französischen Sozialdemokraten und daher für die derzeit regierenden französischen Konservativen ein ungeliebtes Kind. Und zweitens wollte Paris der chauvinistischen Mobilisierung in der Südhälfte der Côte d'Ivoire nicht Auftrieb geben. Man hatte das Beispiel Ruandas vor Augen, wo Mitterrand ein rassistisch mobilisierendes Regime bis zuletzt unterstützt hatte.
Im ivoirischen Süden kam es zur massenhaften Mobilisierung gegen die »Zumutung« aus Marcoussis. Man sprach dem Abkommen schon deswegen die Legitimität ab, weil es durch Frankreich aufgezwungen wurde. Eine chauvinistische Jugendbewegung setzte die Regierung unter Druck. Im Lande lebende Franzosen wurden belästigt und flohen, im Herbst 2003 erschoss ein Polizist den französischen Reporter Jean Hélène. Zunächst unterstützte Präsident Gbagbo die Bewegung, um das Abkommen von Marcoussis zu sabotieren und sich Anhänger zu sichern. Doch als die Proteste für ihn kontraproduktiv zu werden drohten, etwa weil die Agrarproduktion des Landes weiter sank und er auf längere Sicht die Unterstützung Frankreichs benötigte, ging Gbagbo auf Distanz zu ihnen. Anfang Februar 2004 einigten sich Gbagbo und Chirac im Elysée-Palast über die Zukunft der Côte d'Ivoire.
Die Ziele des Abkommens von Marcoussis sind längst Makulatur. Die dort anvisierte gemeinsame Regierung war zwar im März 2003 gebildet worden. Doch Gbagbo hatte alles unternommen, damit sie keinerlei Macht hat. Hinzu kam das aufgeheizte Klima im politisch vorherrschenden Süden des Landes. Deswegen verließen die Rebellenführer im September 2003 die Regierung wieder. Zugleich sind die Aufständischen gescheitert, sich als politische Kraft mit Zukunftsperspektiven zu etablieren. Die Mehrzahl der Rebellenanführer »üben sich im Schmuggel mit den Nachbarländern oder der Schutzgelderpressung«, urteilt Valeurs actuelles.
Derweil zeigen die französischen Streitkräfte entlang der Nord-Süd-Demarkationslinie sowie in zehn Städten intensive Präsenz. In den vergangenen 15 Monaten hatten sie bei Gefechten mit den Rebellen fünf Tote sowie 30 Verletzte zu verzeichnen; sie setzten aber auch Ende November 2003 dem Versuch einer Rückeroberung von Terrain im Norden durch die Regierungstruppen Widerstand entgegen. Jetzt versuchen sie eine Lösung in Gestalt einer gemeinsamen Armee aus »loyalen« südlichen und »neuen« nördlichen Streitkräften. Diese soll 18.000 Mann umfassen. Das Problem dabei: Die bisherigen Regierungstruppen wollen Plätze für 21.500 und die Rebellen für 15.000 Mann. Damit stellt sich die Frage, was mit den ausgemusterten Kämpfern geschehen soll. Frieden wird jedenfalls nicht so schnell in der Côte d'Ivoire einkehren - mit oder ohne ausländische Interventionstruppen.
Bernhard Schmid ist freier Journalist in Paris.
erschienen in: iz3w 276, Freiburg 2004
Kamerun: Eine endlose Geschichte
Nachwirkungen des Deutschen Kolonialismus in Kamerun
Am Mount Cameroon blicken die Menschen mit gemischten Gefühlen auf die deutsche Kolonialherrschaft zurück. Einerseits sind die seinerzeit gegründeten Großplantagen bis heute ein wichtiger Devisenbringer, und die Deutschen gelten als positives Gegenstück zu den französischen Kolonisatoren Kameruns. Andererseits führen die Folgen des deutschen Kolonialismus zu Konflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
von Heiko Möhle
Wer in Kamerun nach Spuren der deutschen Kolonialherrschaft sucht, macht sich in der Regel auf den Weg nach Buea. Der am Südosthang des Mount Cameroon gelegene Ort diente der deutschen Verwaltung von 1901 bis 1914 als Regierungssitz. Das Bergklima war den Beamten angenehmer als die Schwüle im malariaverseuchten Küstenland. Heutige Reiseführer werben zusätzlich mit Ausblicken auf einen deutschen Friedhof, auf den Bismarck-Brunnen mit dem steinernem Porträt des Reichskanzlers und auf den prunkvollen wilhelminischen Palast des einstigen Gouverneurs Jesko von Puttkamer.
Die eigentliche Hinterlassenschaft der Deutschen - das steht nicht im Reiseführer - passiert der Besucher allerdings schon auf der Fahrt nach Buea. Kaum hat man von Douala kommend den Mungo-River überquert, breitet sich eine endlos erscheinende, grüne Weite links und rechts der Straße aus. Hier beginnt das größte Plantagengebiet Westafrikas, das sich von der Küste bis zu den Hängen des Mount Cameroon zieht. Auf den Zufahrtsschildern zu den Bananenpflanzungen stehen die Firmennamen CDC (Cameroons Development Corporation) und Del Monte. Das kamerunische Staatsunternehmen betreibt heute im Joint Venture mit dem amerikanischen Fruchtmulti die Plantagen. Angelegt wurden sie aber bereits in der deutschen Kolonialzeit.
Der Beginn der Demütigungen
Bevor die Deutschen kamen, war Buea das größte von etwa sechzig Dörfern der Bakweri, die sich seit dem 18. Jahrhundert an den fruchtbaren Hängen des Kamerunbergs niedergelassen hatten, um Landwirtschaft zu betreiben. An der nahegelegenen Küste tauschten sie die Überschüsse ihrer Produktion bei den benachbarten Isubu und Bamboko gegen Fisch ein. Die Bakweri kannten keine staatlichen Strukturen, das Dorf als wichtigste territoriale Einheit war auf der Basis von Familien organisiert. Dennoch beanspruchte Buea Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber den umliegenden Dörfern eine Vormachtstellung.
Der deutschen Kolonialverwaltung, die in den ersten Jahren nach der formalen Besitzergreifung Kameruns (1884) kaum mehr als einen schmalen Küstenstreifen kontrollierte, erschien der Ort als ernstes Hindernis für die Ausdehnung des Kolonialhandels und für das Vorhaben, an den Berghängen Plantagen anzulegen. Zweimal wurde Buea daher belagert. Der erste Feldzug 1891 endete mit dem Tod des deutschen Befehlshabers Gravenreuth und einer Niederlage. Doch im Dezember 1894 ließ Hauptmann Hans Dominik an der Spitze der neu aufgestellten »Schutztruppe« Buea dem Erdboden gleichmachen. Die Ereignisse um die Feldzüge haben sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis der Bakweri eingegraben.
Kuva, der oberste Feldherr von Buea, wird wegen des Sieges von 1891 bis heute als Held verehrt. Die schmähliche Niederlage von 1894 ist allerdings nicht weniger präsent. Dominik und dem frisch ernannten Gouverneur Puttkamer ging es damals um mehr als einen militärischen Sieg. Sie wollten jeden Widerstandswillen brechen. In einem erzwungenen Friedensvertrag wurde die Vertreibung der Bevölkerung aus dem bisherigen Siedlungsgebiet besiegelt. Kuva starb auf der Flucht. Sein Leichnam konnte nicht in der Erde seiner Vorfahren bestattet werden, seine Seele in der Vorstellung der Bakweri keinen Frieden finden.
Die Zerstörung des alten Buea war der Beginn einer Kette von Demütigungen, die bis heute das Selbstbewusstsein der Bakweri und ihre Stellung in der kamerunischen Gesellschaft prägen. Auf die Eroberung des Kamerunbergs folgte die Verdrängung der Bevölkerung von ihrem Land. Die umfangreichen Dorfländereien wurden auf Grundlage der 1896 erlassenen »Kronland-Verordnung« als »herrenlos« erklärt und der kaiserlichen Krone übereignet, die nun riesige Flächen zu Dumping-Preisen weiter verkaufen konnte. Bis 1914 gingen auf diese Weise etwa 90.000 Hektar Land rund um den Kamerunberg an eine Handvoll großer Aktiengesellschaften über. Hinter den Unternehmen mit klangvollen Namen wie Kamerun Land- und Plantagengesellschaft oder Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Victoria standen hanseatische Kaufleute und rheinische Schwerindustrielle. Lediglich zwei Hektar pro Hütte verblieben den Dörfern, von denen viele in unfruchtbare Randlagen umgesiedelt wurden, um das beste Kulturland für die entstehenden Großplantagen zu räumen.
Landraub und Arbeitszwang
Die Vertreibung leitete zugleich die Zerstörung der exportorientierten Kakaoproduktion ein, die einige Bakweri seit den 1880er Jahren begonnen hatten. Die Großplantagen duldeten keine Konkurrenz. In kolonialen Zeitschriften wurden die Anbaumethoden der Bakweri diffamiert und behauptet, sie würden den Kakao der Großplantagen stehlen, um ihn zu verkaufen. Tatsächlich waren es jedoch häufig die Plantagen, die sich die Pflanzungen der Bakweri einverleibten. Für Unternehmer wie dem Hamburger Johannes Thormählen bestand die einzige Existenzberechtigung der verbliebenen »Dorfreservate« in der Bereitstellung von Arbeitskräften für die Plantagen. Jede Fähigkeit zu einer selbständigen Landwirtschaft sprach er den Bakweri ab: »Der Kamerunneger ist viel zu unselbständig, um in vernünftiger Weise einen rationellen Pflanzungsbetrieb leiten zu können... Der heute noch in kindlicher Albernheit und blödem Stumpfsinn dahin dämmernde Neger wird durch nichts dem civilisierten Menschen näher gebracht werden können, als durch ernste Arbeit«.
Die wenigsten Bakweri waren jedoch bereit, auf ihrem Land für fremde Herren zu arbeiten. Die BewohnerInnen ganzer Ortschaften wanderten aus, um dem Arbeitszwang oder weiteren Vertreibungswellen zu entkommen. Die Plantagengesellschaften waren gezwungen, ihre Arbeitskräfte aus dem weit entfernten »Grasland« im Nordwesten der Kolonie zu rekrutieren. Mit der Erschließung neuer Anbauflächen in der zwischen Kamerunberg und Duala gelegenen Tikoebene wurde der Bedarf an Arbeitskräften allerdings so groß, dass die Unternehmen sich gezwungen sahen, wieder auf Bakweri als Arbeitskräfte zurückzugreifen. Um den Arbeitszwang durchzusetzen, ließ die Kolonialverwaltung vereinzelt Dörfer niederbrennen und schreckte auch vor Folter nicht zurück. Dem von der deutschen Kolonialverwaltung geschaffenen System von Landvertreibungen und Arbeitszwang hatten die Bakweri wenig mehr entgegenzusetzen als Verweigerung, Rückzug und Resignation. Damit war eine Spirale in Gang gesetzt, welche die Bakweri immer weiter aus der weltmarktorientierten Plantagenökonomie hinaus und in die Marginalität hinein trieb.
Neue alte Investoren
Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde Kamerun geteilt und vom Völkerbund der Verwaltung durch die Siegermächte unterstellt. Die Hafenstadt Douala lag nun im größeren französischen Mandatsgebiet, ihr ökonomisches »Hinterland«, die Plantagen am Kamerunberg, in der britischen Sphäre. Die Plantagen wurden als Feindbesitz enteignet, und somit hätte die Möglichkeit bestanden, das an den Bakweri verübte Unrecht der Landenteignungen rückgängig zu machen. Das Gegenteil trat ein. 1924 konnten die deutschen Unternehmen die Pflanzungen auf einer Londoner Auktion zurückkaufen. Das britische Grundbuchamt - nun seinerseits in Buea angesiedelt - beeilte sich, die Rechtmäßigkeit des Landerwerbs zu bestätigen, um den neuen alten Investoren Planungssicherheit zu garantieren.
Zwar ließen die Briten die Dorfreservate in den 1920er Jahren in bescheidenem Umfang vergrößern. Doch die isolierte Lage vieler Dörfer inmitten ausgedehnter Plantagen produzierte ständig neue Konflikte. Grenzverletzungen durch die Plantagen, die ihre Pflanzungen in die Reservate ausdehnten, sowie Diebstähle von Feldfrüchten durch Plantagenarbeiter demoralisierten die Dorfbewohner, die immer weniger Sinn darin sahen, ihr verbliebenes Land zu bewirtschaften. Innerhalb der Reservatsgrenzen wurde Land immer knapper, da ein reger Zustrom von Arbeitskräften aus Nigeria und dem französischen Mandatsgebiet eingesetzt hatte. Die deutschen Plantagenunternehmer und die britische Kolonialverwaltung waren an der dauerhaften Ansiedlung dieser Arbeitskräfte interessiert, stellten dafür aber kaum Land zur Verfügung. Viele Dörfer hingegen nahmen bereitwillig Zuwanderer auf. Das freizügige Bodenrecht der Bakweri war jedoch auf eine Massenzuwanderung nicht vorbereitet. Durch den von vielen »immigrants« betriebenen Anbau von Dauerkulturen wie Kakao bildeten sich mit der Zeit Grundeigentumsansprüche heraus. Die lokale Bevölkerung verlor zunehmend die Kontrolle über das ihr verbliebene Reservatsland. Nach 1933 wurden die Kameruner Plantagen zum Versuchsfeld einer zukünftigen nationalsozialistischen Kolonialwirtschaft. Deutsche Wissenschaftler pilgerten zum Kamerunberg, um Untersuchungen an Böden, Klima und Pflanzungsarbeitern durchzuführen. Gleichzeitig wurden Filme und Broschüren produziert, die der Welt die »deutsche Tatkraft in Kamerun« vor Augen führen und für den Anspruch auf deutschen Kolonialbesitz in Afrika werben sollten. Für die in der Tikoebene produzierten Bananen wurde ein eigenes Label erfunden, und zweimal wöchentlich stach ein Dampfer der Reederei Laeisz mit »Deutschen Kamerun-Bananen« beladen nach Hamburg in See.
Zu den Veränderungen der »neuen« Kolonialpolitik gehörte die Ablösung der vor dem Ersten Weltkrieg verbreiteten Zwangsarbeit durch Lohnarbeit. Die deutschen Plantagen zahlten sogar vergleichsweise hohe Löhne, um Arbeitskräfte aus entfernten Regionen anzulocken. Die Bakweri hingegen blieben eine Ausnahmeerscheinung in der Plantagenarbeiterschaft. Ihr Vertrauen zu den Deutschen war zerstört. Ohnehin beschäftigten die Unternehmen lieber Arbeitskräfte aus den Grasland-Bezirken im Nordwesten. Seit der deutschen Kolonialherrschaft galten ihnen die Bakweri und andere »Waldlandbewohner« als »indolent« und »faul«, die »Graslandneger« jedoch als »dynamisch und arbeitsam«. Unter den Bakweri, die sich zunehmend als verdrängte Minderheit begriffen, wuchs die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den »strangers« aus dem Nordwesten. Bis heute trägt dieser Diskurs, der innerhalb Kameruns zum Allgemeingut geworden ist, zur sozialen Spaltung der Bevölkerung bei.
Das Verhältnis zwischen den deutschen Plantagenmanagern und der lokalen Bevölkerung blieb gespannt. Britische Beamte griffen nur selten in Konflikte um Lohnzahlungen oder strittige Landgrenzen ein, und wenn, dann fast immer zugunsten der Plantagen. Das Verhältnis zwischen Briten und Deutschen im Plantagengebiet kann als entspannt, mitunter sogar als herzlich bezeichnet werden. Es war geprägt durch große Übereinstimmung bei ökonomischen Interessen, kolonialpolitischen Grundsatzfragen und rassistischer Überheblichkeit gegenüber den Bakweri. Zwar registrierten die britischen Behörden bereits 1934, dass sich die überwältigende Mehrheit der deutschen Pflanzungsleiter zum Nationalsozialismus bekannte, man beließ sie jedoch noch bis Ende 1940 auf ihren Posten.1 Die Deutschen waren am Kamerunberg als Grundeigentümer, Arbeitgeber und größte europäische Bevölkerungsgruppe so präsent, dass bis heute viele Bewohner der Region annehmen, die deutsche Kolonialzeit habe bis zum Zweiten Weltkrieg gedauert.
Gescheiterte Hoffnungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg schöpften viele Bakweri neue Hoffnung, Gerechtigkeit zu erfahren.2 1946 gründeten Vertreter der im Plantagengebiet gelegenen Dörfer das Bakweri Land Comittee, das bis zu den UN ging, um die Rückgabe des von den Deutschen geraubten Landes zu fordern. Vergeblich: Zwar erklärte der britische Gouverneur die »ex-enemy lands« der Großplantagen zu »native lands«. Doch als Treuhandverwaltung »zum Wohle aller Einwohner des Territoriums« wurde ein neuer Großkonzern gegründet, die staatliche Cameroons Development Corporation (CDC). Ihr wurde das Land für die Dauer von sechzig Jahren zur Pacht überlassen. Als beide Landesteile Kameruns 1960 unabhängig und wiedervereinigt wurden, machte sich die neue Regierung in Yaoundé die Perspektive ihrer kolonialen Vorgänger zu eigen: Die CDC sollte Devisen für das Allgemeinwohl erwirtschaften, die Interessen einer kleinen Minderheit hatten zurückzustehen.
Tatsächlich leistete die CDC in den kommenden Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur regionalen Entwicklung im anglophonen Kamerun. Als bis heute zweitgrößter Arbeitgeber Kameruns (nach dem Staat) baute sie Straßen, Wasser- und Stromversorgung, Schulen und Krankenhäuser, von denen nicht nur die Beschäftigten, sondern auch viele Anwohner profitierten. Seit den 1970er Jahren wuchs jedoch die Kritik. Die Produktivität der Plantagen ging zurück, immer häufiger wurden Vorwürfe gegen CDC-Manager und Regierungsbeamte wegen Misswirtschaft und Korruption laut. In der anglophonen Southwest-Province - die heutige Verwaltungseinheit der Plantagenregion - wuchs die Empörung darüber, dass die hier erwirtschafteten Erlöse den politisch dominanten frankophonen Landesteil alimentieren würden.
Als Präsident Paul Biya 1994 beschloss, auf Druck des IWF und der Weltbank die CDC zu privatisieren, reichte es einigen Bakweri endgültig. Das Bündnis der Dörfer wurde als Bakweri Land Claims Comittee (BLCC) wiederbelebt. In Eingaben an die Regierung machte es deutlich, dass ein Verkauf des Landes an Dritte ohne Zustimmung der Bakweri nicht möglich sei: »Die Regierung kann nicht verkaufen, was ihr nicht gehört«. Das BLCC fand starke Unterstützung in den anglophonen Bewegungen, die sich seit Anfang der 90er Jahre in Opposition zur frankophonen Biya-Regierung herausgebildet haben. Von ihnen wird die geplante Privatisierung der CDC als Handstreich »der Franzosen« und »der Frankophonen« gegen "die Anglophonen" gesehen. Die Plantagen wurden somit zum Spielball im Konfliktfeld zwischen dem kleinen anglophonen »Cameroon« und dem großen frankophonen »Cameroun«. Der die Züge eines neuen Tribalismus tragende Konflikt hat seine Ursprünge ebenfalls im Kolonialismus, allerdings in der englisch-französischen Teilung Kameruns.
Innerhalb des anglophonen Landesteils zeigt man sich heute zwar einig gegen die Frankophonie, keineswegs aber darüber, wer das entscheidende Wort über das Schicksal der "native lands" am Kamerunberg sprechen soll: Für den Southern Cameroons National Council (SCNC), wichtigster Zusammenschluss der Anglophonen, handelt es sich um eine Angelegenheit der gesamten englischsprachigen Minderheit. Regionale Bewegungen der Southwest-Province führen dagegen an, der Südwesten müsse sich in der Landfrage nicht nur gegen die frankophone Dominanz wehren, sondern obendrein gegen Benachteiligungen durch die Einwanderer aus der anglophonen Nordwestprovinz. Hier kommen alte Vorurteile und Rivalitäten zum Tragen, die bereits von den deutschen Kolonialherren geschürt wurden.3
Für das BLCC liegt der Schlüssel zur Lösung der regionalen Probleme in der Rückgabe der Plantagenländereien an die Bakweri. Dabei geht es nicht nur um materielle Wiedergutmachung, sondern um die Wiederherstellung des angeschlagenen Selbstwertgefühls. Mehrfach drohte dem BLCC bereits ein Verbot durch die Biya-Administration. Doch das Komitee hat es unter anderem durch ein im Mai 2000 in den USA eröffnetes Kampagnenbüro verstanden, sich international Beachtung zu verschaffen, die der Arbeit auch innerhalb Kameruns einigen Schutz zusichert.4 Gegenwärtig führt das BLCC vor der Menschenrechtskommission der Afrikanischen Union eine Klage gegen die eigene Staatsregierung. Anlass war der Verkauf von CDC-Teeplantagen an das südafrikanische Unternehmen Brobon Finex. Das BLCC konnte nachweisen, dass hinter Brobon Finex Funktionäre der kamerunischen Regierungspartei CPDM und ehemalige CDC-Manager stehen, die sich das Land mitsamt erntereifen Teebäumen und Verarbeitungsbetrieben zum Schnäppchenpreis selbst verkauft haben.
Mit deutscher Hilfe
Die Bakweri gelten heute als marginalisierte Minderheit. Über die Ursachen wird allerdings gestritten. Während das BLCC auf das ungelöste »land problem« fokussiert, ist außerhalb der Bakweri-Community von einer »Selbstmarginalisierung« der Bevölkerung die Rede. Bis hinein in sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen findet sich die Vorstellung, die Bakweri hätten sich selbst aus dem europäischen Fortschrittsmodell ausgeschlossen - fast immer unter Verweis auf die »erfolgreichen« Immigranten aus dem Nordwesten. Dass am Kamerunberg Handlungsbedarf besteht, hat inzwischen internationale Hilfsorganisationen auf den Plan gerufen. Ihnen geht es aber in erster Linie darum, die letzten noch intakten Bergwälder am Kamerunberg zu retten. Da es im dicht bevölkerten Siedlungsgebiet zwischen den Großplantagen kaum noch Reserveflächen für den regelmäßig notwendigen Felderwechsel gibt, ziehen die Bakweri mit ihren Farmen immer weiter den Berg hinauf. Die Folge: Wald- und Wildbestände gehen zurück, die Erosion an den Berghängen nimmt zu, der Humus wird abgetragen, die Gefahr von Schlammlawinen wächst.
Deshalb versucht das von britischen NGOs und der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) getragene Mount Cameroon Project die Bevölkerung zu »participatory forest management« anzuhalten. »Nachhaltige« Bewirtschaftungsmethoden sollen neue Einkommensquellen schaffen - etwa dadurch, dass Jäger das Fallenstellen aufgeben und sich zu Bergführern für Öko-Touristen ausbilden lassen. Dass sich die Erfolge des Projektes bisher eher bescheiden ausnehmen, sieht Mola Njoh Litumbe, Generalsekretär des BLCC, nicht zuletzt im historisch gewachsenen Misstrauen der Bevölkerung begründet: »Die Leute meinen, erst kamen die Deutschen, und nahmen uns unser Land weg. Jetzt kommen die Deutschen wieder und sagen, dass wir das wenige, was uns geblieben ist, nicht nutzen sollen«.
Die deutsche Gewaltherrschaft ist am Kamerunberg nicht vergessen. Und doch hört man auch hier wie andernorts in Kamerun häufig: »Wären die Deutschen hier, ginge es uns besser«.5 Das mag widersprüchlich klingen, ist es aber in den Augen vieler Kameruner nicht. »Moderne« Vorstellungen über die Deutschen überlagern die in der Vergangenheit geprägten Bilder. Den Deutschen werden noch immer Attribute wie »hart« und »gefühlskalt« zugewiesen, vor allem aber gelten sie als effizient und wirtschaftlich erfolgreich. Sie verkörpern damit für viele Kameruner ein positives Gegenbild zur eigenen, ungeliebten Regierung und ihrer Schutzmacht Frankreich, die in erster Linie mit Korruption und Günstlingswirtschaft in Verbindung gebracht werden. Daraus auf die Sehnsucht nach einer Neuauflage der alten Kolonialherrschaft zu schließen, weist aber in die falsche Richtung. Mola Njoh Litumbe formuliert es pragmatisch, aber selbstbewusst: »Wenn die Bevölkerung endlich wieder selbst über ihr Land verfügen kann, sind Deutsche hier willkommen. Aber nicht als Kolonisatoren, sondern als Investoren«. Ob es je so weit kommen wird, ist allerdings fraglich. Schon allein deshalb, weil die Afrikanische Union den Bakweri die Rückgabe des Landes höchstwahrscheinlich abschlagen wird. Zu groß ist die Angst der afrikanischen Regierungen, einen Präzedenzfall zu schaffen. Denn überall, wo die Europäer kolonisierten, wurde Land geraubt, und nur in den wenigsten Fällen wurden die Betroffenen entschädigt.
Anmerkungen
- vgl. Heiko Möhle: »Deutsche Kamerunbananen«. In: Tanz um die Banane, Ausstellungskatalog des Museums der Arbeit, Hamburg 2003, S. 60-69
- vgl. Piet Konings: Privatisation and ethno-regional protest in Cameroon. In: afrika spectrum 38 (2003), Heft 1, S. 5-26
- vgl. Jürg Schneider: Cam-no-go. Stereotypen im intra-anglophonen Konflikt in Kamerun. www.unibas.ch/afrika/papers/js.cam-no-go.pdf
- vgl. www.bakwerilands.org
- vgl. dazu Kai Schmidt-Soltau (iz3w 267) und Stefanie Michels (iz3w 269).
Heiko Möhle forscht als Mitarbeiter des Geographischen Institut der Universität Hamburg über die Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft am Mount Cameroon.
erschienen in: iz3w 276, Freiburg 2004
Kamerun: Paradies der Paradoxe
In Kamerun sichern Konflikte die Einheit
»Ethnische Konflikte« gelten häufig als Ursache für Instabilität und Zerfall afrikanischer Staaten. Jedoch haben sich vielerorts inzwischen politische Strukturen entwickelt, die diese Konflikte bewusst steuern. Kamerun, das »Afrika im Kleinen«, ist ein Beispiel für einen "neopatrimonialen Staat", der auf Korruption, Parteienpolitik und Klientelismus beruht. Er verschärft die Ethnisierung sozialer Konflikte und nutzt diese gleichzeitig zum Machterhalt und gegen den Zerfall der staatlichen Einheit. Fast jedeR Einzelne ist Teil dieses Systems.
Dieser Aufsatz will eine Antwort auf die Frage geben, was Kamerun zusammenhält trotz der in Afrika allgemein verbreiteten Instabilität, trotz der Turbulenzen in der näheren Umgebung des Landes und trotz seiner eigenen inneren Widersprüche. Die Politik des regionalen und ethnischen Gleichgewichts, das chronische Fehlen einer Vision und das Fehlen eines wirklichen Engagements für die Demokratie in Verbund mit einer unbegrenzten Fähigkeit, Überlebensstrategien zu entwickeln, haben alle ernsthaften Versuche, gemeinsame Interessen zu verfolgen und gemeinsame Hoffnungen zu verwirklichen, zunichte gemacht. Das Einzige, was Kameruner zu einigen scheint, ist der Drang, regionale oder ethnische Unterschiede aufrecht zu halten, in dem Wahn, dadurch die eigenen Chancen maximieren zu können. Da allerdings der »nationale Kuchen« kleiner wird, während die Wirtschaftskrise sich verschärft, machen es Korruption und Ethnisierung für die Masse der »kleinen Leute« immer illusorischer, die gleichen Vorteile wie früher aus ihren Beziehungen zu großen oder nicht ganz so großen Männern und Frauen zu ziehen.
von Francis B. Nyamnjoh
Klein-Afrika?
Kamerun als Afrika im Kleinen zu bezeichnen, wie es seine Politiker im Allgemeinen voller Stolz tun, bedeutet, dass Kamerun typisch sei für Afrika, was seine Vorzüge betrifft (und, was weniger gern zugegeben wird, auch seine Nachteile). Das mag in vieler Hinsicht wahr sein. Andererseits ist es falsch, denn Kamerun ist ein Sonderfall, ein »Paradies der Paradoxe«. Andernorts haben nämlich die objektiven Bedingungen zu gewalttätigen Ausbrüchen, Blutbädern und zu einer Veränderung zum Besseren oder zum Schlechteren geführt, in Kamerun aber ist alles im Sande verlaufen, als ob das ganze Land das Opfer einer Hypnose von seiten des staatlichen Hexenmeisters wäre. Mehrfach wurde schon angenommen, dass es zu Aufständen und zum Sturz der Regierung kommen würde. Es geschah gar nichts. Während der Generalstreik-Kampagnen von 1991-92 wurde allgemein erwartet, dass ein Regierungswechsel nur eine Frage der Zeit sei, doch es gelang Präsident Paul Biya unflexibel gegenüber Dialogforderungen und gegenüber dem Ruf nach einer souveränen Nationalkonferenz zu bleiben. Und es gelang ihm auch, der radikalen Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er Parlamentswahlen ansetzte, die zwar von der Sozialdemokratischen Front (SDF) und anderen boykottiert wurde, aber an denen Parteien teilnahmen, die bis dahin Mitglieder der »Koordiniation der Oppositionsparteien« gewesen waren. Obwohl die Opposition den Sieg errang und zusammen 60 Prozent der Stimmen erhielt, war die Regierungspartei, das Cameroon Peoples Democratic Movement (CPDM) in der Lage, mithilfe von Oppositionsparteien eine Regierung zu bilden. Selbst nach offiziellen Angaben votierte die Mehrheit der Wähler auch für einen Wechsel im Präsidentenamt. Der Opposition war es nicht gelungen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Sie beschwerte sich - wie auch die internationale Gemeinschaft - ein bisschen über den deutlichen Wahlbetrug, das brachte aber nicht viel, denn die Proteste waren weder gut organisert noch hielten sie lange an.
Nach den Kommunalwahlen von 1996, die die Opposition in einer Reihe wichtiger Städte gewann, gelang es der Regierung dennoch, diese Gemeinderäte unter Kontrolle zu halten, indem sie Delegierte der CPDM-Regierung einsetzte, die mit der Machtbefugnis ausgestattet wurden, Projekte und Finanzen dieser Gemeinderäte zu verwalten. Auch hier beschränkte sich die Opposition auf kritische Presseerklärungen und Zeitungsartikel, die die Regierung und ihre ungerechte Gesetzgebung verurteilten. Es ist also offensichtlich, dass der Demokratisierungsprozess in Kamerun festgefahren ist und dass die Oppositionsparteien und Teile der Zivilgesellschaft nur sehr langsam - um nicht zu sagen überhaupt nicht - in der Lage sind, der allgemeinen Desillusionierung neue Perspektiven entgegenzusetzen. Es ist merkwürdig, dass es den Oppositionsparteien, den Medien, den Kirchen und anderen Organisationen nicht gelungen ist, den an der Basis weit verbreiteten Drang nach einer demokratischen Gesellschaft und Politik für sich auszunutzen. Was also hindert sie daran, ihre Interessen an Mitsprache und Befreiung aus dem Elend organisiert und nachhaltig zu verfolgen, mit oder ohne Gewalt? Wie kommt es, dass ihre Handlungen oft dazu tendieren, ihren Erklärungen zu widersprechen, wo sie alle für die Demokratie sind?
Regionale und ethnische Allianz
Ich glaube, dass Kamerun dank der Politik eines regionalen und ethnischen Gleichgewichts zu einem Land geworden ist, das leichter zu regieren ist als eine Familie. Bei dieser Politik geht es sehr viel weniger um ein tatsächliches Gleichgewicht, als darum, die Aufmerksamkeit von realen auf imaginäre Probleme und Ursachen zu lenken. Höheren Beamten wird klargemacht, dass das System (personifiziert im Staatschef) von unendlicher Güte beseelt sei und dass man dem Staatsoberhaupt danken müsse, falls man eine Stelle bekommt, aber dass man selbst oder die Mitglieder seiner ethnischen Gruppe oder Region Schuld seien, wenn man keine Stelle bekommt oder seine Stelle verliert. Die Politik schafft bei der Elite und bei den Massen der mehr als 200 ethnischen Gruppierungen die Illusion, dass mithilfe des Staates - sogar in der Wirtschaftskrise - alles möglich ist. Die Folge dieser Politik ist, dass die Kameruner nicht mehr erkennen, dass ihr wirkliches Problem das System ist.
Politische Konflikte und der Kampf um die Macht werden auf diese Weise taktvoll in die Regionen verlagert, während der Präsident wie ein Meisterjongleur die regionalen und ethnischen Eliten gegeneinander ausspielt. Der Präsident kann an der Macht bleiben und wiederholt »wiedergewählt« werden, ohne dass er sich jemals selbst am Wahlkampf beteiligen muss. Denn in dem System regionalen und ethnischen Gleichgewichts geht es bei Präsidentenwahlen darum, die Popularität der Parteielite in ihren verschiedenen Regionen zu testen. Das erklärt, warum bei jeder Wahl das Zentralkomitee seine Elite zurück in ihre Regionen und Dörfer schickt, um dort Wahlkampf zu führen.
Das System ist totalitär in einem Sinn, dass es den Menschen nur bis zu dem Grad dient, der sicherstellt, dass die Menschen ihm dienen, wobei jeder, der die ihm vorbestimmte Rolle nicht spielt, riskiert, als Feind des Systems gebranntmarkt zu werden. Da die Ideologie des Systems Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft verführt, ist es dem System gelungen, das ganze Leben mit Heuchelei und Lügen zu verseuchen. Innerhalb eines solchen Systems müssen nicht alle Mystifikationen, die der Staat fördert, um seine Macht zu konsolidieren, notwendigerweise von jedem Individuum geglaubt werden, aber - wie es Vaclav Havel mal für die Tschechoslowakei formuliert hat - »sie müssen sich benehmen, als wenn sie es glaubten, oder sie müssen es zumindest schweigend tolerieren oder gut auskommen mit denjenigen, die damit umgehen. Aus diesem Grund müssen sie innerhalb einer Lüge leben. Sie müssen nicht die Lüge akzeptieren. Es ist ausreichend, dass sie akzeptiert haben, mit der Lüge und in ihr zu leben. Denn allein durch diese Tasache bestätigen die Individuen das System, erfüllen das System, machen das System, sind das System.«
Produktion von Störenfrieden
Wie gelingt es der Politik des regionalen Gleichgewichts, dem Widerstand gegen das System im konkreten Einzelfall den Wind aus den Segeln zu nehmen? Nehmen wir die anglophone Gemeinschaft als Beispiel. Im Interesse des regionalen Gleichgewichts (Proporz), kann niemand aus der anglophonen Region ein Amt erhalten, ohne dass ein anderer aus derselben Region entlassen wird. Das macht es für machtgeile oder opportunistische Politiker in den beiden Provinzen der Region nötig, sich Spaltungen auszudenken, um ihre jeweiligen Chancen für Prominenz oder Aufstieg zu erhöhen. Die Spaltungen und Unterschiede innerhalb der Anglophonen sind also eher künstlich erzeugt als real. Auf diese Weise reproduziert sich die Macht, indem sie Unterschiede übertreibt. Die Machtelite versteift sich darauf, ihre Macht auf ethnischer oder regionaler Grundlage zu maximieren, während sie das Zentrum als sakrosankt behandelt. Der Minister oder Manager aus dem Nord- oder Südwesten soll begreifen, dass er seine Einstellung der Entlassung eines anderen Anglophonen verdankt und dass er alle Zeichen von Solidarität unter Anglophonen abstreifen muss, wenn er im Amt bleiben will. Das gleiche gilt für die Minister, die nach ihrer Einstellung als erstes ihr Heimatdorf besuchen, um dort um Unterstützung oder Dankbarkeit für das Zentrum zu werben und gleichzeitig damit zu zeigen, dass sie über eine gewisse Machtbasis verfügen. Das System produziert Störenfriede, und das bedeutet auch, Konflikte zwischen den Regionen oder den Ethnien zu fördern, die die Zentralregierung dann von Zeit zu Zeit reguliert oder niederschlägt, wenn die Dinge ein wenig außer Kontrolle geraten. Das System ist an einer nationalen Uneinigkeit und nicht an nationaler Einheit interessiert, an Desintegration und nicht an Integration. Das friedliche Zusammenleben kommt allenfalls in seiner Rhetorik vor.
Letzten Endes geht es lediglich um ein Machtspiel. Das System versucht, jede Möglichkeit eines effektiven Widerstands gegen die Regierung zu unterdrücken. Dennoch gibt es an der Basis Widerstand. Die Sprache der meisten Kameruner ist voll verbaler Aggression: Wut, Zynismus, Ironie, Sarkasmus, Spott und Feindseligkeit zeigen sich in Zeitungsartikeln und Karikaturen (die die Regierung als Beweis ihrer Toleranz vorzeigt), in Liedern, Sketchen, satirischen Komödien, Gesprächen in Taxis und Bussen und den Kneipen. Man kann sagen, dass die Enttäuschten vielleicht nicht die Mittel haben, die Veränderungen herbeizuführen, die sie sich wünschen, aber sie führen tagtäglich symbolische Kriege mit symbolischen Siegen, Kriege, in denen das System besiegt wird und ein neues, gerechtes und demokratisches Regime eingeführt wird und sich Hoffnungen erfüllen, die die Machtelite ständig als übertrieben denunziert hat.
Demokratie in Geschenkpäckchen
Aber man beschwert sich dabei über Patrons und Klienten, nicht über die Patronage oder das Klientelwesen. Diese Kultur der Korruption durchzieht die gesamte Gesellschaft. Fast alle Kameruner haben ein Interesse, den Status quo aufrechtzuerhalten: Vom Taxifahrer über die Polizisten an der Staßensperre, die Eltern und Schuldirektoren, wenn es um die Einschulung geht, Zollinspektoren und Geschäftsleute im Hafen, Beamte, die im Ministerium in Akten stöbern, Universitätslektoren, die Noten gegen Sex oder Bargeld verkaufen, bis hinauf zum Staatsoberhaupt. Weil sie alle ein bisschen vom System in sich tragen (entweder durch ihre Beziehungen zum Zentrum oder über Patronage und Beziehungen) und in dieser Weise materielle Interessen daran haben, ist es schwierig darüber nachzudenken, wie das System zerstört werden könnte, ohne dass man darüber nachdenken müsste, sich selbst in den Ruin zu treiben. So ist trotz des Mehrparteiensystems die Mehrheit der Kameruner nach wie vor gezwungen, Entscheidungen hinzunehmen, die ohne ihre Zustimmung oder ihre Teilnahme getroffen werden. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die sie sich wünschen, werden geplant, durchgeführt oder zunichte gemacht nach der gleichen Logik wie in der Ein-Parteien-Ära. Die, die »unsere« politische Plattform nicht gut finden, können nicht im Recht sein, sie müssen unehrlich sein, Verräter und unpatriotisch. Es handelt sich um einen erneuerten Monolithismus, eine Pseudo-Demokratie, die in kleinen Geschenkpäckchen verabreicht wird, um eine Demokratie mit Fernbedienung. In Kamerun muss die Demokratie erst noch eine Art zu leben werden, eine Kultur. Bis jetzt hat sie nur als leerer Begriff fungiert.
Francis B. Nyamnjoh ist Senior Lecturer am Department of Sociology der University of Botswana. Eine ausführliche englische Version dieses Artikels wurde veröffentlicht in: African Affairs, vol. 98 No. 390, 1999. Übersetzung: Christian Neven-du Mont.
erschienen in: iz3w 246, Freiburg 2000
Kamerun: Opfer des Bekennens
Zur kolonialen Erinnerungspolitik in Kamerun und Deutschland
In der iz3w- Ausgabe Nr. 267 stellte Kai Schmidt-Soltau den deutschen Kolonialismus in Kamerun vor ein imaginäres Gericht. Seine »Zeugen« - die von ihm befragten Kameruner - erinnerten sich der deutschen Kolonialzeit eher positiv, fast drei Viertel von ihnen wollte gar eine Wiederkehr der Deutschen. Schmidt-Soltau interpretiert dieses erstaunliche Ergebnis so, dass die Kolonisierten die »geistigen Konstruktionen« der Kolonisatoren übernommen hätten. Stefanie Michels widerspricht dem und sieht in dieser Interpretation die Gefahr, die Kameruner für immer zu Opfern zu machen.
von Stefanie Michels
Während der Rassismuskonferenz in Durban im September 2001 bekannte sich Joschka Fischer zur Schuld für Sklaverei und Kolonialismus: »In vielen Teilen der Welt«, sagt der deutsche Außenminister, »reicht der Schmerz über die bis heute nachwirkenden Folgen der Sklaverei und der Ausbeutung durch den Kolonialismus noch tief. Vergangenes Unrecht lässt sich nicht ungeschehen machen. Aber Schuld anzuerkennen, Verantwortung zu übernehmen und sich seiner historischen Verpflichtung zu stellen, kann den Opfern und ihren Nachkommen zumindest die ihnen geraubte Würde zurückgeben.«
In der März-Ausgabe des iz3w, Nr. 267 ließ der Soziologe Schmidt-Soltau die deutsche koloniale Vergangenheit in Kamerun nochmals auf der Anklagebank Platz nehmen (»Die Unschuld vom deutschen Lande«). Aufgrund von Zeugen und Indizien erging folgendes ›Urteil‹: »In diesem Sinne ist der deutsche Kolonialismus in Kamerun ein doppeltes Verbrechen. Dass die Mehrheit der anglophonen Kameruner erkannt hat, dass ihre einzige Möglichkeit zur Teilnahme an der Globalisierung in der Unterwerfung unter den Willen eines Fremden besteht, markiert das Fa(k)tum der Kolonisierten und dokumentiert anschaulich die Kontinuität des Kolonialismus... Die pro-deutschen Konstruktionen sind Indiz für die Hoffnungslosigkeit der Postkolonisierten. Somit zeigt sich, dass der deutsche Kolonialismus in Kamerun halt doch eine recht einseitige Sache war. Die einen kamen uneingeladen und ließen zum Dank ihre geistigen Konstruktionen zurück.«
Apathisch und verrückt
Für Schmidt-Soltau war das Verbrechen des deutschen Kolonialismus also der Beginn einer Unterwerfung unter den Willen eines Fremden - ein Zustand, der bis heute andauert. In der von ihm benutzten Gerichtsmetapher sind die Opfer dieses Verbrechens die KamerunerInnen. Da sie die geistigen Konstruktionen der Kolonialisten übernommen hätten, könnten sie ihre Opferrolle allerdings nicht selber erkennen, bzw. lehnten sie explizit ab, indem sie sich mit den »Tätern« identifizierten. Schmidt-Soltau macht die KamerunerInnen zu Opfern sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. In seiner Darstellung übernehmen sie hoffnungslos und fatal die Diskurse der Fremden und erscheinen so willenlos, apathisch und verrückt (»Spinnen die Kameruner denn?«).
Eine Kritik an seinem Urteil muss auf mehreren Ebenen ansetzen. Seine Beweisaufnahme stützt sich auf Indizien und Zeugen. Wenn er die Forschungsarbeit von HistorikerInnen als ›Indizienbefunde‹ bezeichnet, übersieht er allerdings die gesellschaftliche Gebundenheit auch der akademischen Diskurse. Geschichte ist nur über die Repräsentation zugänglich. So schaffen HistorikerInnen eine Konstruktion der Vergangenheit, ebenso wie SoziologInnen eine Konstruktion der Gegenwart schaffen. Die schriftlich fixierten Arbeiten der HistorikerInnen scheinen jedoch landläufig größere Autorität als die mündlich in Kamerun weitergegebenen Erinnerungen zu haben. So glaubt die Mehrheit der in Kamerun lebenden Deutschen, dass sie mehr über die deutsche Kolonialzeit wüssten als die KamerunerInnen, weil sie einen besseren Zugang zu Informationen hätten.1
Dieser scheinbaren Autorität der Indizien stellt Schmidt-Soltau nun die Zeugenaussagen gegenüber. 400 KamerunerInnen beantworteten von ihm erstellte Fragebögen, deren konkrete Fragen er leider nicht veröffentlicht hat. Diese wertete er dann quantitativ statistisch aus. Lässt sich so tatsächlich eine »repräsentative Antwort... auf die Frage nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft« bekommen? Von mir durchgeführte Befragungen in Kamerun deuten darauf hin, dass dies nicht der Fall ist.2 85 Prozent der von mir Befragten erinnerten Gewalt, z.B. Krieg, Vergewaltigung und Folter. Die Deutschen wurden mehrheitlich negativ charakterisiert: brutal, stark, mächtig, autoritär, unfreundlich, ungeduldig und wild. Die Briten, die ihnen als Kolonialherren folgten, dagegen ambivalenter: verschlagen, gut, intelligent, entwicklungsbringend, nett, freundlich, frei, höflich, arm, weich, sozial und geduldig. Dennoch zogen nur die Hälfte die Briten den Deutschen vor. Gewalterinnerung und Präferenz für die Deutschen schlossen sich gegenseitig nicht aus.
Helden des Widerstands
Die quantitative statistische Auswertung meiner eigenen Befragungen zeigt, genau wie die von Schmidt-Soltau, dass sie keinen Aufschluss über Kausalitäten gibt. Einzelne Diskursstränge und ihr jeweiliger 'Sinn' erschließen sich nur im Zusammenhang der individuellen Aussage. Die Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit ist mehrheitlich geprägt von der Ausübung und Erfahrung von Gewalt, einer Gewalt, die tatsächlich Opfer schuf und Schmerz hervorrief, die allerdings nicht überall zur Einnahme der schwächeren Position der Einwohner gegenüber den Deutschen führte. In Gegenden, in denen Kriege gegen die Deutschen gewonnen werden konnten, wurde die Macht der eigenen Gruppe betont. Die Anführer dieses Widerstandes werden bis heute erinnert und sind teilweise zu Helden geworden.3 Neue Machtquellen boten die Deutschen aber nicht nur durch Konfrontation, sondern auch durch Partizipation. Nähe zu den Deutschen, als Verbündeter, Bote, Angestellter oder Soldat schuf für diese Personen Einfluss und Prestige, das bis heute erhalten blieb. Der heute zum Teil geführte, pro-deutsche Diskurs wird auch eingesetzt, um Kritik zu äußern, sowohl an den britischen Kolonialherren, die »arm« waren, als auch am unabhängigen Staat Kamerun.
Und er wird als Mittel eingesetzt, um Forderungen zu stellen: »Unsere Alten haben uns gesagt, dass sie während der deutschen Zeit zum Wegebau gezwungen wurden. Wir haben gegen die Deutschen gekämpft, weil die Soldaten unsere Frauen vergewaltigt haben und weil es Zwangsarbeit gab. Jetzt bedauern wir, dass unsere einflussreichen Männer, die im Exil in Viktoria begraben wurden, dies getan haben. Die Deutschen, die jetzt zurückgekommen sind, haben gesagt, wir sollen kein Großwild jagen. Wir akzeptieren das, aber wir fordern auch, dass die Deutschen uns eine gute Straße geben sollen. Weil wir keine guten Wege haben, haben wir keinen Markt. Wir unterstützen die Arbeit der Deutschen, die jetzt gekommen sind. Der Deutsche hat gesagt, wir sollen kein Gift zum Fischen einsetzen. Das akzeptieren wir, aber er sollte auch etwas für uns tun« (Akwo Tambai, 90 Jahre alt, in Kekpane).
Eurozentrische Sichtweisen
Joschka Fischer will sich dort der historischen Verpflichtung stellen, wo der »Schmerz noch tief sitzt«. Wie aber steht es mit der Verantwortung, wo dies nicht der Fall ist, wie in der obigen Aussage von Akwo Tambai? Dieser konstruiert kein Opfer-Täter-Szenario, und anstatt den deutschen Kolonialismus anzuklagen, bedauert er die gewaltsamen Konfrontationen der Vergangenheit. Diese geteilte Gewalterfahrung nimmt er zum Anlass, um für die gegenwärtige Begegnung von Deutschen und KamerunerInnen mehr Kompromissbereitschaft zu fordern. Das dichotome Opfer-Täter-Paradigma, durch das die tiefe Kluft der Schuld schneidet, ist ein Mythos, der in der eurozentrischen Sichtweise verhaftet bleibt. Eine historische Verpflichtung für den Umgang mit der deutschen Kolonialzeit sollte darin bestehen, in einen gleichberechtigten Dialog einzutreten, in dem die Erinnerungen, Konstruktionen und Repräsentationen der afrikanischen Seite ernsthaft und respektvoll behandelt werden. In Kamerun gibt es kontroverse Diskurse über die deutsche Kolonialzeit, geprägt von unterschiedlichen Erfahrungen und sozialen Positionen.
Während die Mehrheit der in Kamerun lebenden Deutschen im Gegensatz zu den KamerunerInnen selber leichtfertig davon ausgeht, im Besitz der "Wahrheit" zu sein, ist die koloniale Erinnerungspolitik und -kultur in Deutschland sträflich unterentwickelt.4 Schmidt-Soltau empfiehlt »den Täter zu zwingen, sich seiner Taten immer und immer wieder zu bekennen«. Doch gerade dadurch werden die KamerunerInnen immer und immer wieder zu Opfern. Genau so wenig wie es eine Kollektivschuld gibt, gibt es die kollektive Gruppe der Opfer. Unbestreitbar wurde in Kamerun durch die Deutschen Schmerz ausgelöst, der allerdings eher den Tätern als den Opfern die Würde raubte. Die deutsche Präsenz in Kamerun eröffnete aber auch neue Handlungsräume, die von einigen KamerunerInnen erfolgreich genutzt wurden.
Anmerkungen
- Dieses Ergebnis beruht auf einer im Jahre 2001 von mir durchgeführten Erhebung mittels Fragebogen, an der 24 Deutsche teilnahmen, die in Kamerun lebten. (Frage: »Glauben Sie, Sie wissen mehr als die meisten Kameruner über die deutsche Kolonialzeit in Kamerun?«)
- Die mündlichen Texte stammen von über 120 Einzelpersonen aus Manyu Division in Kamerun und entstanden in den Jahren 2000 bis 2001. Die Befragungen gliederten sich in einen narrativen und einen semi-strukturierten Teil. Die Befragten wurden aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse über die Geschichte ausgewählt. Kriterien waren dabei meist ihr Alter, ihre familiären Verbindungen sowie die soziale Position.
- vgl. Michels, Stefanie (2003): Graf Pückler und Mpawmanku: Koloniale Begegnung als Gewalterfahrung (Cross-flussgebiet Kameruns 1904). In: Bechhaus-Gerst, Marianne und Klein-Ahrendt, Reinhard (Hg.). Die (koloniale) Begegnung: AfrikanerInnen in Deutschland 1880-1945 - Deutsche in Afrika 1880-1918. Peter Lang Verlag, Frankfurt: 207-224.
- Veranschaulicht wird dies derzeit auch durch die unkritische Umgangsweise der Stadt Hamburg mit den in der NS-Zeit entstandenen Askari-Reliefs in der Lettow-Vorbeck-Kaserne (Hamburg-Jenfeld).
Stefanie Michels ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Askari - treu bis in den Tod« am Institut für Afrikanistik der Universität Köln. Ihre Dissertation mit dem Titel »Imagined Power Contested: Germans and Africans in the Upper Cross River Area of Cameroon, 1887 - 1914« wird in Kürze im LIT-Verlag erscheinen.
erschienen in: iz3w 269, Freiburg 2003
Kongo: In der DR Kongo wird derzeit ein »afrikanischer Weltkrieg« geführt.
In der Demokratischen Republik Kongo wird derzeit ein »afrikanischer Weltkrieg« geführt. Rebellengruppen und verschiedene Nachbarstaaten ringen um Einfluss und Bodenschätze. Die rasant anwachsenden Erlöse aus dem Verkauf des seltenen Edelmetalls Tantal spielen dabei eine wichtige Rolle. Zu den wichtigsten Aufkäufern von Tantal gehört die deutsche Firma H.C. Starck.
von Philipp Mimkes
Die Hügel um die Stadt Mumba im Osten des Kongo sind mit Stollen und kleinen Bergwerken übersät. Wenn die Sonne untergeht, klettern Minenarbeiter aus den schlecht befestigten Gräben, einige umklammern Plastiktüten mit schwarzem Sand. Die Arbeit ist hart und gefährlich. Niemand kontrolliert die Sicherheit, und viele Bergleute schürfen auf eigene Faust. Erst vor kurzem wurden 70 Arbeiter in einem einstürzenden Stollen begraben. Zweimal wöchentlich kommen schwer bewaffnete Soldaten in die Region 50 km nordwestlich von Goma und kaufen den bröckeligen Sand für 20 Dollar pro Kilo an - ein Vermögen in diesem Teil der Welt. Keiner der Minenarbeiter kennt den Grund für das große Interesse an dem Mineral, nach dem sie suchen.
Coltan - Abkürzung von Colombo-Tantalit - enthält das seltene Metall Tantal, eines der zur Zeit begehrtesten Elemente überhaupt. Das extrem hitze- und säureresistente und einfach zu verarbeitende Edelmetall wird für die Produktion von Handys, Flugzeugmotoren, Airbags, Nachtsichtgeräten und hochmodernen Kondensatoren verwendet. Das Pentagon stuft Tantal als strategischen Rohstoff ein. Die wichtigsten Reserven liegen in Australien, Brasilien und Kongo. Als Coltan im letzten Jahr knapp wurde und der Weltmarktpreis sich das erste Mal verdoppelte, wechselten viele Goldgräber das Fach und schürften nun nach dem unscheinbaren Mineral. Dann verdoppelte sich der Preis erneut, dann noch einmal und noch einmal, bis schließlich in Europa 400 Dollar pro Kilogramm bezahlt wurden. Schließlich erklärte die Rebellengruppe »Kongolesische Sammlung für die Demokratie« (RCD), die den Osten des Kongos beherrscht, ein Exportmonopol. »Wir befinden uns schließlich im Krieg«, erklärt Adolphe Onusumba, Präsident der von Ruanda unterstützten RCD. »Wir müssen unsere Soldaten ausrüsten und bezahlen«.
Der kongolesische Reichtum an Gold, Diamanten und Kupfer weckt seit jeher Begehrlichkeiten. Auch die beiden seit 1996 tobenden Kriege werden hauptsächlich mit dem Verkauf von Mineralien finanziert. Als die RCD mit Hilfe der ruandischen Armee im August 1998 die jüngste Runde im Bürgerkrieg einläutete, kannte niemand Coltan, das damals den Abbau kaum lohnte. Heute, wo eine Tonne mehr als eine halbe Million Mark einbringt, veranschaulicht gerade die Jagd nach dem seltenen Mineral, warum Soldaten aus sechs afrikanischen Ländern sowie zahlreiche Milizen und Privatarmeen in diesem »ersten afrikanischen Weltkrieg« kämpfen.
Der Belgier Erik Kennes, der die Auswirkungen von Bürgerkrieg und Rohstoffabbau für die Zivilbevölkerung untersucht, fasst die Situation wie folgt zusammen: »Die Bevölkerung arbeitet bis zur Entkräftung, um die Armeen zu ernähren, die sie ausbeuten.« Ein Expertengremium der Vereinten Nationen, das kürzlich den Export von Rohstoffen aus dem Kongo untersuchte, war überrascht von der herausragenden Rolle, die Coltan spielt.
Profitable Allianzen
Die kongolesische Regierung hat zahlreiche Schürfrechte an militärische Verbündete vergeben: Ölförderlizenzen gingen an Angola, Diamanten- und Kobaltminen an Simbabwe, Abbaurechte für Diamanten an Namibia. Die Rebellenarmeen wiederum, die rund die Hälfte des Staatsgebietes kontrollieren, verkaufen Holz, Kaffee, Diamanten und Gold. Das mit den Aufständischen verbündete Uganda verzehnfachte im Laufe des Krieges seine Goldexporte. »Wir verdienen monatlich rund 200.000 Dollar am Diamantenhandel«, teilt RCD-Anführer Onusumba mit. »Der Coltan-Verkauf hingegen bringt in einem guten Monat eine Million.« Das Geld wird für den Unterhalt der 40.000 Mann starken Armee und zur Anwerbung neuer Soldaten verwendet, die die RCD wegen des Abzugs der ruandischen Armee benötigt.
Ruanda ist seit Beginn des Krieges die wichtigste militärische Kraft im Kongo, wobei lange Zeit unklar blieb, wie das winzige und vom eigenen Bürgerkrieg gezeichnete Land die enormen Kosten eines Kampfes an einer 1000 Kilometer langen Frontlinie finanzieren konnte. Ruanda verdient nun zum einen am Export der kongolesischen Bodenschätze und baut zudem die Rohstoffe des Nachbarlandes direkt ab: Ruandische Bauern wurden nach Walikale in der Provinz Nord Kivu, wo man das reinste Coltan findet, umgesiedelt, um dort in den Minen zu arbeiten.
Die im November 2000 von der RCD gegründete Firma SOMIGL kontrolliert den Export des Minerals. Pro Tonne werden 10.000 Dollar Steuern erhoben. Als Managerin der SOMIGL engagierte die RCD Aziza Kulsum, die in der Region als Schmuggelkönigin gilt und neben Rohstoffen auch mit Waffen, Gold und Elfenbein handelt. Kulsum stand früher auf Seiten der Hutu-Extremisten, was sie zu einem ungewöhnlichen Partner für die RCD macht, die ja von der Tutsi-geführten Regierung Ruandas abhängt. Die langjährige Erfahrung gab aber den Ausschlag zugunsten von Kulsum.
Im Dezember vergangenen Jahres exportierte die SOMIGL 123 Tonnen Coltan, im Januar 97 Tonnen. Mit den Einnahmen von jeweils etwa einer Million Dollar wurden neben den Soldaten auch Lehrer und Staatsbedienstete bezahlt, von denen manche seit Jahren kein Gehalt erhalten hatten. Im Februar sank die exportierte Menge jedoch auf 17 Tonnen. Die Preise für Coltan fielen und private Schmuggler nahmen das lukrative Geschäft auf. Einer von ihnen berichtet stolz: »Unsere Zulieferer bringen das Mineral nach Ruanda, von dort verkaufen wir es weiter. Wir verdienen 200.000 bis 300.000 Dollar pro Monat.«
Über die Vertriebswege und die europäischen Käufer hüllen sich die Händler in Schweigen. Der von den Rebellen organisierte Export läuft über die ruandische Hauptstadt Kigali, von der aus die belgische Fluglinie Sabena zweimal wöchentlich nach Brüssel fliegt. Mit einem exklusiven Verbund von Käufern werden dann in London die endgültigen Preise ausgehandelt. Etwa die Hälfte des kongolesischen Tantalits wird nach Recherchen der Washington Post von der deutschen Firma H.C. Starck, einer Tochter des Leverkusener Bayer-Konzerns, weiter verarbeitet. H.C. Starck gehört weltweit zu den wichtigsten Käufern seltener Metalle.
Verfolgte Unschuld
Fragen nach der Herkunft ihrer Produkte beantwortet die Firma nur ausweichend. Ein Brief der Coordination gegen BAYER-Gefahren, der sich nach dem Vertriebsweg der importierten Rohstoffe, der Höhe der Aufwendungen und den Partnern vor Ort erkundigte, wurde nur unzureichend beantwortet. Aus »Wettbewerbsgründen« will der Konzern die Geschäftspartner nicht nennen. Die Anschuldigung, H.C. Starck oder ihre Zwischenhändler bezögen Rohstoffe von der »Schmuggelkönigin« Aziza Kulsum, wird zurückgewiesen. Auch als der »Stern« in seiner Ausgabe vom 7.6.2001 meldete, die Vereinten Nationen hätten inzwischen die gleichen Vorwürfe gegen H.C. Starck erhoben, wies der Bayer-Konzern sie zurück. Allerdings liegt dem Stern eine Stellungnahme eines Starck-Sprechers vor, in der er einräumt, in der Praxis sei es »nur schwer nachvollziehbar, ob Rohstoffe aus der Krisenregion oder anderen Teilen Afrikas stammen.« Die Coordination gegen BAYER-Gefahren reicht nun zur Hauptversammlung der BAYER AG einen Gegenantrag ein, nachdem dem Vorstand wegen der Finanzierung des Kriegsgeschehens im Kongo die Entlastung verweigert werden soll: »H.C. Starck trägt Mitverantwortung für die grauenhaften Kämpfe, denen bereits Hunderttausende zum Opfer fielen. Wir fordern die Firma auf, den Tantal-Import aus dem Kongo umgehend einzustellen.«
»Dies ist Kapitalismus in seiner reinsten Form«, meint Robert Raun, Präsident der amerikanischen Eagles Wings Resources, die seit zwei Jahren kongolesisches Coltan importiert, zum Krieg um das Metall. Für die Minenarbeiter im Osten Kongos ist dieser Kapitalismus jedoch nicht lukrativ. »Wir könnten reich sein«, sagt Alex Kabongo, der nach Coltan schürft, seit er im Krieg sein Vieh verlor, »aber wir haben keinerlei Sicherheit.« Wegen der zahlreichen Banden und Armeen ist der Besitz von Geld oder wertvollen Mineralien für ihn lebensgefährlich.
Philipp Mimkes ist Mitarbeiter der Coordination gegen Bayer-Gefahren.
erschienen in: iz3w 254, Freiburg 2001
Kongo: Intervention im Kongo?
Letzte Hoffnung UNO
Der (Bürger-)Krieg in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) ist zu Ende. Dies beschloss Präsident Joseph Kabila am Abend des 43. Unabhängigkeitstag Ende Juni per Dekret, nachdem eine von Frankreich angeführte internationale Eingreiftruppe ins Land gekommen war. Doch die Präsenz der UN-Truppen scheint die verfeindeten Gruppen ebenso wenig an der Fortsetzung der Kriegshandlungen zu hindern wie die Präsenz aller wichtigen Akteure des Landes in der neu gebildeten Übergangsregierung.
Ähnlich wie bei anderen UN-Missionen begrüßen auch im Kongo viele Menschen die Intervention und erhoffen sich endlich Frieden. Für unsere Autorin Beatrice Schlee ist dies Ausdruck dafür, dass es keine Alternative zum internationalen Eingreifen gibt. Kai Schmidt-Soltau dagegen sieht in den westlichen Truppen nurmehr weitere Warlords am Werke.
von Beatrice Schlee
Genozidvorwürfe und Kannibalismusverdacht hat es gebraucht, bis die internationale Gemeinschaft im Mai 2003 im Kongo endlich einschritt. Erst dann wurden den 700 MONUC-Soldaten (Mission d`observation des Nations Unies au Congo, Beobachtermission der UN), die kein Mandat zum Eingriff bei Gewalthandlungen hatten, vom Weltsicherheitsrat eine insgesamt 1.400 Mann starke internationale Schutztruppe zur Hilfe geschickt. Einsatzort war Bunia, die Verwaltungshauptstadt des Distrikts Ituri im Nordosten des Landes.
Über die Ursachen des Konflikts gibt es unterschiedliche Meinungen; ihn als rein »ethnischen« Konflikt zu etikettieren, geht jedenfalls weit an der Realität vorbei. Die soziale Spannung zwischen den zwei Hauptakteuren, die ethnischen Gruppen der Hema und der Lendu, schwelt bereits seit mehreren Jahren. Nie jedoch erreichte der Konflikt ein Ausmaß, das mit den bis heute andauernden Massakern und dem Versuch der systematischen Auslöschung der jeweils anderen Gruppe zu vergleichen gewesen wäre. UN-Schätzungen gehen von 50.000 Toten in der Region seit 1999 aus, Hunderttausende sind auf der Flucht.
Wie auch in anderen Provinzen des Landes findet sich die Antwort wieder einmal hinter den Kulissen: Ohne die Drahtzieher Uganda und Ruanda mitsamt ihren multinationalen, meist westlichen Helfershelfern hätte dieser Krieg niemals derartig grausam werden können. Alle Akteure haben Interesse an den Bodenschätzen, die in Ituri liegen. Doch der Krieg in der DRK währt nicht erst seit Frühjahr 2003, und sein Hauptschauplatz war lange nicht der Distrikt Ituri: Seit dem Sturz Mobutus im Sommer 1997 ist das Land in kriegerische Auseinandersetzungen nationaler wie internationaler Akteure verwickelt (vgl. iz3w 266). Die schauerliche, in ihrem wahren Ausmaß für niemanden mehr fassbare Bilanz sind bereits heute vier Millionen Tote - und fast täglich kommen neue hinzu. Die kongolesische Zeitung Le Potentiel vom 24. Juli 2003 meldet in einer kleinen Randnotiz: »Den Lendu-Milizen fallen 56 Personen zum Opfer. Die Hölle von Ituri verläuft in altbekannten Bahnen weiter«.
Angesichts der Dauer und der bis dahin nicht bekannten Brutalität des Kriegs ist die Wut und die Enttäuschung groß über die »internationale Gemeinschaft«, die jahrelang tatenlos zu- bzw. wegsah und die auch jetzt nicht zu einem wirklichen Eingreifen bereit ist. Mit umso größerer Erleichterung und vielen Erwartungen ist die Entsendung einer internationalen Schutztruppe nun aufgenommen worden. Sobald jedoch klar wurde, dass trotz des Einsatzes die Massaker weitergingen, hat sich die Hoffnung erneut in Wut, Ohnmacht und Resignation gekehrt.
Jedem, der die Situation vor Ort auch nur annähernd kennt, ist klar, dass die Befriedung von Bunia allein die kriegerischen Auseinandersetzungen nicht stoppen kann. Das Morden geht wenige Kilometer außerhalb der Stadt ungehindert weiter. Mehr noch: Die Tatsache, dass die Kriegsherren für ihre Vergehen trotz internationaler Präsenz nicht bestraft werden, scheint sie noch ermutigt und die Situation damit verschlimmert zu haben. Innerhalb der Bevölkerung wird bereits vom »Mandat d' observer des cadavres« gesprochen. Mit dem eng gezogenen Handlungsspielraum der UN-Truppen hat die internationale Gemeinschaft bei der einheimischen Bevölkerung erneut an Glaubwürdigkeit verloren. Gerüchte, die MONUC selbst liefere den Kriegsherren neue Waffen, fallen auf fruchtbaren Boden. Eine Kehrtwende zeichnet sich allerdings mit der Ausweitung des Mandats Ende Juli ab: Mit der Annahme der Resolution 1493 im Weltsicherheitsrat kann die MONUC in Ituri wie in den beiden Kivu-Provinzen im Osten des Landes mit allen »notwendigen Mitteln« eingreifen, sobald Zivilpersonen physisch bedroht werden. Des weiteren wurde die Verlängerung der Mission bis zum 30.7.2004, ein 12-monatiges Waffenembargo und die Aufstockung der MONUC auf 10.800 Personen beschlossen.
Ob das neue Mandat die Hoffnungen erfüllt, muss abgewartet werden. Zu oft schon sind die Kongolesen enttäuscht worden. Der Krieg, das ist die Überzeugung vieler, wird trotz Friedensbemühungen und neu gebildeter Transitionsregierung zunächst weitergehen. Der Wunsch der zivilen Bevölkerung nicht nur in Ituri, sondern im ganzen Land, ist jedoch unmissverständlich: Ja zur militärischen Intervention. Zu lange ist der Krieg bereits vom Westen ignoriert worden. Allerdings wird ein ernstgemeintes Engagement erwartet, von pseudo-moralischen Augenwischereien haben die Menschen im Kongo genug. Linke Grundsatzdebatten über das Für und Wider einer militärischen Intervention erscheinen angesichts der menschenverachtenden Verhältnisse vor Ort als intellektueller Zeitvertreib.
Beatrice Schlee ist Politikwissenschaftlerin am Arnold-Bergsträsser-Institut in Freiburg und am Centre International des Sciences de l'Homme der UNESCO in Byblos (Libanon). Sie war im Juni und Juli 2003 in der DRK.
erschienen in: iz3w 271, Freiburg 2003
Kongo: Warlord »Europäische Union«
von Kai Schmidt-Soltau
Wie der Zufall es will, saß ich zwei Tage, nachdem ich um diesen Beitrag gebeten wurde, im Flieger nach Brazza neben einem »Geschäftsmann« aus der Region Ituri. Diese Gegend, die in der Vergangenheit vor allem mit »Zwergmenschen« und »Riesenaffen« in Verbindung gebracht wurde, erfreut sich in den deutschen Gazetten zur Zeit großer Aufmerksamkeit. Hätte ich mehr der dort veröffentlichen Beiträge zur Notwendigkeit einer »humanitären Intervention im Nordostkongo« gelesen, hätte ich vermutlich nicht Brot und Wein mit meinem Nachbarn geteilt, sondern nach Menschenknochen und Affenschädeln in seiner Reisetasche gefahndet. Wie dem auch sei, mein Sitznachbar Dieudonné war nicht nur nett, sondern auch positiv angetan von der neuen Berühmtheit seiner Region. Denn nun kann er dort nach eigenem Bekunden neben allerlei Waren, Dienstleistungen und Kontakten auch den »Frieden« vermarkten. Eine gute, rare Ware, und das nicht nur in Ituri.
Die Schaffung von Frieden wird oft zur Legitimierung von Kriegen verwendet. Doch was ist eigentlich Frieden? Und worin unterscheidet er sich von jenem Zustand, der im Nordosten des Kongo herrscht? Dieudonné sollte es wissen. Nach seiner Auffassung macht sich der Unterschied zwischen Krieg und Frieden an der Zahl der Warlords fest. Ist ein Potentat so dominant, dass er unangefochten ein Territorium kontrolliert, kann er sich Staat nennen und in Frieden herrschen. Gibt es jedoch eine Vielzahl von Ordnungsmächten, die ein und dasselbe Territorium beherrschen wollen, nennt man dies Krieg. In diesem Sinne schafft der Einmarsch des Warlords »Europäische Union« in Ituri Frieden, da die anderen Warlords den fahlen Kriegern militärisch nicht gewachsen sind. Die anderen Potentaten - da ist sich Dieudonné sicher - werden ihre Waffen im Wald verbuddeln oder in eine andere Region weiterziehen. Die europäischen Söldner werden erst durch ihren Sieg zu Friedensfürsten.
Eine pragmatische Sichtweise, die Dieudonné da präsentierte, und sicher auch nicht schlecht fürs Geschäft, denn so sind Waffenlieferungen potentieller Friedensdienst. Man sollte nur schauen, mit wem man Geschäfte macht, denn wenn der Kunde versagt, ist dies nicht nur moralisch schlecht - man wird beschuldigt, mit Terroristen etc. kooperiert zu haben - sondern auch ökonomisch. Verlierer haben meist eine schlechte Zahlungsmoral. In diesem Sinne ist Krieg und freie Wirtschaft eins, und so kann Dieudonné auch nicht verstehen, warum das »alte Europa« den Amerikanern vorwirft, Krieg für Öl geführt zu haben. Pourquoi pas?
Warum aber - und die Frage stellt Dieudonné völlig zu Recht - arbeitet die Europäische Union im Kongo nicht ähnlich wie die Warlords aus dem südlichen und östlichen Afrika mit einem lokalen Warlord zusammen? Ein Stellvertreterkrieg wäre sicher billiger gewesen als eine direkte Intervention, hätte weniger Aufsehen erregt und man hätte mögliche Niederlagen auf den schwarzen Vasallen schieben können.
Im Prinzip sind wir derzeit Zeugen eines Paradigmenwechsels. Positionierte sich die Afrikapolitik der Bundesrepublik bislang zugunsten der »indirect rule« und stärkte den afrikanischen Staatsherren - ob Potentat oder Demokrat - zwecks Aufrechterhaltung von Ordnung den Rücken, will sie nun direkt in das Geschehen eingreifen. Jedoch ist die Strategie der Bundesregierung, genau wie die der meisten anderen Europäischen Staaten, nicht konsistent. Während sie einerseits interveniert, zieht sie sich in ihren Beratungsleistungen immer mehr zurück. Dafür bieten sich zwei Interpretationen an: Zum einen kann man die Wirkungslosigkeit der Entwicklungszusammenarbeit dadurch unsichtbar machen, dass man die Verantwortung an lokale Akteure delegiert und die zu erwartenden Misserfolge ausnutzt, um eine direkte Unterwerfung vorzubereiten. Zum anderen könnte es aber auch sein, dass zwei Interessensverbände (Militär und Entwicklungszusammenarbeit) sich selbst in der öffentlichen Diskussion legitimieren müssen und gleichzeitig die Herrschaft über das Territorium des anderen übernehmen wollen. Dieses Problem ist nicht neu. Schon zu Zeiten der direkten Kolonialherrschaft stritten sich Missionare, Militär- und Zivilverwaltung wie die Kesselflicker, wer nun am effektivsten die »Schwarzhäute« befrieden könne.
Der Kongo wird weiter zur Küste fließen und Dieudonné seine Waren feilbieten, während internationale und nationale Warlords ihre Kriege führen. Sie werden mit dem ersten Regen verschwinden, wenn der ehemalige Wald von Ituri zu einem Meer von Schlamm wird, in dem selbst fliegende Festungen keinen Feind mehr finden können. Und in einem Jahr wird vielleicht sogar der Regen gehen, ohne dass sie von neuem in die Dörfer einfallen, um jene Almosen zu verteilen, die weltbewusste Passanten in den Einkaufszeilen der globalen Zentren gespendet haben - für den Frieden in der Welt.
Kai Schmidt-Soltau ist Gutachter in der Entwicklungszusammenarbeit und lebt seit 1997 in Kamerun
erschienen in: iz3w 271, Freiburg 2003
Marokko: Im Westsahara-Konflikt droht die Polisario mit Rückkehr zu den Waffen
1976 besetzte Marokko die ehemalige spanische Kolonie Westsahara und betrachtet das Gebiet seither als Teil des Königreichs. Die Befreiungsbewegung Polisario kämpft dagegen für die Unabhängigkeit der Region. Eine von der UN angesetzte Volksabstimmung wird seit Jahren von Marokko blockiert, das sich bei seiner Verzögerungstaktik immer wieder des Streits um die nationale Identität bedient: Wer ist abstimmungsberechtigt? Wer zählt zum »Volke der Sahrauis«?
von Reiner Wandler
Es kam für niemanden überraschend, und doch war es für viele Sahrauis in den Flüchtlingscamps in Tindouf (Algerien) und den besetzten Westsahara-Gebieten ein Schock: »Der Zeitplan ist nicht mehr gültig«, erklärte UN-Generalsekretär Kofi Annan Ende Februar und stornierte die Vorbereitungen für ein Referendum über die Zukunft der seit 1976 von Marokko besetzten Westsahara. »Die Ereignisse in den letzten neun Jahren... und vor allem den letzten Monaten... lassen Zweifel aufkommen, ob die von beiden Seiten getroffenen Vereinbarungen umzusetzen sind«, heißt es im letzten Bericht Annans an den UN-Sicherheitsrat.
Die Volksabstimmung wurde seit dem von der UN vermittelten Waffenstillstand zwischen Marokko und der Befreiungsbewegung Polisario 1991 (s. Kasten) immer wieder aufgeschoben. Einmal mehr zeigt jetzt die Verzögerungstaktik Marokkos ihre Wirkung. Die Vereinten Nationen scheiterten erneut an der Frage der Wahlberechtigung. Während die Polisario die im Januar veröffentlichten 86.381 Personen umfassenden Wählerlisten für das Referendum anerkennt, hat Marokko insgesamt 140.000 Widersprüche eingelegt. Anstatt wie vorgesehen einen Termin für die Abstimmung über die Unabhängigkeit im umstrittenen Landstrich an Afrikas Nord-West-Küste bekanntzugeben, musste die UN-Mission in der Region (Minurso) nun 14 Büros zur Bearbeitung der Widersprüche einrichten. Wann sie abgearbeitet sein werden und was dann geschieht, das weiß auch Annan nicht zu sagen. »Das soll allerdings nicht heißen, dass wir die Volksabstimmung für gescheitert erklären«, versucht der UN-Generalsekretär die Polisario und mit ihr die über 155.000 Sahrauis in den Flüchtlingscamps im südwestalgerischen Tindouf zu beruhigen. Der UN-Generalsekretär schickte Anfang April den ehemaligen US-Außenminister James Baker als Sondervermittler in die Region. Mitte Mai traf der sich dann in London wieder mit den Konfliktparteien, zeigte sich aber hinterher nicht optimistisch über die neue Verhandlungsrunde. Baker hatte bereits im September 1998 in Houston verhandelt und erreicht, dass die Wählerindentifizierung nach mehreren Jahren Stillstand wieder aufgenommen wurde. 54,9 Prozent der Wahlberechtigten wurden in den von Marokko besetzten Gebieten erfasst, 40,1 Prozent in den sahrauischen Flüchtlingslagern in Westalgerien und in den von der Befreiungsbewegung Polisario befreiten Gebieten - rund ein Drittel der ehemaligen spanischen Kolonie. Weitere fünf Prozent leben im benachbarten Mauretanien.
Marokko scheint davon überzeugt, dass die Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmen würde und besteht deshalb darauf, die 140.000 fraglichen Personen in den Wahlzensus aufnehmen zu lassen, obwohl sie nachweislich nicht zur ursprünglichen, sahrauischen Bevölkerung gehören. Sie erfüllen keines der mit den Konfliktparteien 1998 ausgehandelten Kriterien. Wer wählen will, muss mindestens eines davon erfüllen: Entweder wurde die betreffende Person bei der letzten Volkszählung der spanischen Kolonialverwaltung von 1974 erfasst oder sie muss nachweisen können, dass sie von jeher in der Westsahara gelebt hat und dennoch nicht erfasst wurde. Hinzu kommen die Nachkommen beider Gruppen, sowie die Menschen, die zur Kolonialzeit sechs Jahre ununterbrochen im Land gelebt haben oder mit Unterbrechungen zwölf Jahre.
Um die eingelegten Widersprüche zu untermauern, versucht Marokko immer wieder, den Zensus der Spanier von 1974 unglaubwürdig zu machen, der 74.000 Sahrauis zählte und dessen Listen als Basis zur Erstellung der Wählerregister dienten. Emilio Cuevas, ehemaliger Oberst der spanischen Armee, der die einzige Volkszählung in der Ex-Kolonie koordiniert hatte, erklärte, dass »weit mehr als die Hälfte« der Nomadenbevölkerung sich zur Zeit der Zählung außerhalb der Kolonie aufgehalten habe. Im spanischen Außenministerium hält man jedoch die Zahlen von Cuevas für »maßlos übertrieben« - zumal der zugibt, zumindest alle Stämme und deren Untergliederungen aufgeführt zu haben und nicht abstreitet, dass es damit der Minurso möglich war, jeden der sich präsentierte, einer Familie zuzuordnen. Warum sich die Zehntausende von Sahrauis, die laut seiner Einschätzung nicht erfasst wurden, weder bei den Identifizierungsbüros in den besetzten Gebieten noch in Marokko, in Mauretanien oder in den Flüchtlingslagern in Tindouf gemeldet haben sollen, kann er nicht erklären.
Geschichte einer »Heimholung«
Der Konflikt um die Unabhängigkeit des Nomadenlandes an der afrikanischen Atlantikküste dauert bereits mehr als 25 Jahre. Am 6. November 1975 zogen 350.000 Marokkaner - meist junge Arbeitslose aus den Slumgürteln der Großstädte - in die damalige spanische Kolonie. Sie waren dem Aufruf von König Hassan II. zur »Heimholung der Westsahara ins Alevitenreich« gefolgt. Der im Sterben liegende spanische Diktator Franco überschrieb seine letzte Kolonie an Mauretanien und Marokko, obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag ausdrücklich darauf verwiesen hatte, dass die Westsahara zu keinem Zeitpunkt über historische Bande mit den Nachbarn verfügte, die eine Annexion rechtfertigen würden. Ein geheimes Zusatzprotokoll legte den Preis fest: eine zwölfjährige Fischereilizenz für 800 spanische Boote und Phosphatlieferungen zu Dumpingpreisen.
Am 27. Februar 1976 rückten die Truppen Marokkos und Mauretaniens ein. Brunnen wurden vergiftet, Dörfer mit Napalm bombadiert. Es begann eine Massenflucht. Wer blieb und auf seiner sahrauischen Identität bestand, um den kümmerten sich Hassans Häscher. Internationale Menschenrechtorganisationen sprechen von insgesamt 3.000 politischen Gefangenen und 660 Verschwundenen. Die Polisario rief in der gleichen Nacht die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus. Für den jungen »Staat unter dem Zeltdach« - wie die Sahrauis ihre Republik oft nennen - begann ein verzweifelter Drei-Fronten-Krieg: gegen Marokko, gegen Mauretanien und gegen Hunger und Elend in den eiligst errichteten Flüchtlingslagern nahe der westalgerischen Stadt Tindouf.
Mauretanien gab sich 1979 geschlagen, und die einstigen algerischen Elendscamps mit ihren 155.000 Einwohnern sind mittlerweile ein Vorzeigebeispiel für Flüchtlingsorganisation. Jedes der vier Lager entspricht einer Wilaya (Provinz) mit sieben Dairas (Gemeinden), verwaltet von Gemeinderäten, Zivilgouverneuren, einem nationalen Parlament und einer Regierung mit all ihren Ministerien. Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Werkstätten stellen - nicht zuletzt dank der internationalen Hilfe - die Grundversorgung der Bevölkerung sicher.
Bleibt nur noch Marokko. Nach dem Abkommen von Houston bereitete die Polisario die Rückkehr in die Heimat vor. An zwei Punkten in der von den Polisario-Truppen gehaltenen Zone wurden Krankenhäuser und Schulen errichtet, um die Flüchtlinge am Tag X aufzunehmen und um dort gemeinsam auf die Abstimmung zu warten. Dies - und das UN-Referendum in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Ost-Timor letzten Sommer - ließ die Sahrauis in den vier Zeltstädten in der algerischen Steinwüste auf einen endgültigen Durchbruch in der Westsahara-Frage hoffen. Um so enttäuschter sind die Menschen jetzt.
»Das Verhalten Marokkos zeigt, dass Rabat angesichts einer Mehrheit für die Unabhängigkeit die Volksabstimmung verhindern will«, erklärt Polisario-Chef und Präsident der Exilregierung der DARS, Mohamed Abdelaziz. Er hofft jetzt erneut auf Baker. Doch der Sondergesandte steht vor keiner leichten Aufgabe. "Die Außengrenzen Marokkos sind unverrückbar", lautete der Konsens, den König Hassan II. den Marokkanern regelrecht einbläute. Ein Verlust der Sahara könnte das ganze ideologische Gebäude der Monarchie zum Einsturz bringen. Daran hat sich auch nach dem Tod des Monarchen im letzten Jahr nichts geändert. Sein Sohn Mohamed VI. und mit ihm die Regierung des alten Sozialisten Abderrahmane Youssoufi haben sich schnell in die Rolle des Wächters über die »Unteilbarkeit des Territoriums« eingefunden.
Keine Kritik wird zugelassen. Ende April durften die in Frankreich gedruckten Wochenzeitungen Le Journal und As-Sahifa auf Anweisung des Premierministers Abderrahmane Youssoufi nicht eingeführt werden, weil auf der Titelseite ein Foto von Mohammed Abdelaziz prankte. Er erklärte in einem Interview, warum seine Befreiungsbewegung seit 25 Jahren gegen die marokkanische Besatzung kämpft. »Die Veröffentlichung des Interviews verletzt die Gefühle des marokkanischen Volkes«, heißt es im Regierungskommuniqué. Als in der wöchentlichen Presseschau im marokkanischen Fernsehen die beiden Zeitungen dennoch vorgestellt wurden, entließ Youssoufi kurzerhand den Direktor, den Programmchef und den Chefredakteur des Hauses.
In den besetzten Gebieten wird alles, was sich regt, zusammengeknüppelt. Im letzten Herbst und Winter zogen die Jugendlichen in El Aaiun, der einstigen Hauptstadt der spanischen Kolonie, auf die Straßen. Mohamed VI. schickte die Armee. Die wiederum hat marokkanische Siedler zu Milizen zusammengestellt und bewaffnet. Die Milizen wissen, was sie zu verteidigen haben. Lizenzen für Bars, Geschäfte oder Taxen werden meist nur an marokkanische Siedler vergeben. Marokko hat ein Apartheidssystem errichtet. Wer spanisch spricht, macht sich verdächtig. Alle Einrichtungen der Kolonie, selbst die Kasernen, Straßen und Krankenhäuser vergammeln ungenutzt. Hassan II. hat es vorgezogen, alles neu zu bauen, um jedwede Erinnerung an die andere Geschichte der Sahrauis zu löschen.
Immer öfter suchen Sahrauis die Flucht über den Atlantik auf die 90 Kilometer entfernten Kanarischen Inseln. »Lieber von den Haien gefressen werden, als noch einmal mit den marokkanischen Gefängnissen Bekanntschaft machen«, erklären Mamia und Fatma, die Schwestern des Außenministers der DARS, Mohamed Salek, ihren Entschluss, die gefährliche Überfahrt zu wagen. Nach der Einnahme von El Aaiun im Dezember 1975 galten die beiden Frauen als verschwunden, bis sie 1991 auf Druck der internationalen Öffentlichkeit aus den Geheimgefängnissen entlassen wurden. »Zurück in El Aaiun, merkten wir schnell, dass wir unser kleines Gefängnis gegen ein großes eingetauscht hatten«, beschreibt Fatma die Situation in ihrer Heimatstadt, »kein Sahraui lebt ohne überwacht zu werden«. Als im September 1999 die jungen Sahrauis zu ihrer Intifada riefen, suchte die Polizei erneut die beiden Schwestern. Sie flohen. 36 Stunden dauerte die Überfahrt in einem kleinen Holzboot der marokkanischen Drogenmafia nach Fuerteventura. Heute haben sie in Spanien Asyl.
Kein »Dritter Weg«?
Anders als 1998 in Houston kam Baker dieses Mal nach der Konsultationsrunde ohne konkrete Vorschläge zurück. Er äußerte ernsthafte Zweifel daran, ob die Vorbereitungen für die Volksabstimmungen überhaupt noch zu retten seien. Während die Polisario davon ausgeht, dass die 140.000 Widersprüche in einem halben Jahr abgearbeitet werden können, spricht Baker von mehr als zwei Jahren. Das marokkanische Spiel auf Zeit verstärkt die Debatte um einen »dritten Weg« zwischen Besatzung und Unabhängigkeit. König Mohamed VI. und Premierminister Youssoufi haben Baker einmal mehr einen Vorschlag für eine Autonomie der besetzten Gebiete unterbreitet. Ähnlich dem Baskenland oder Katalonien in Spanien könnte die Westsahara dann über eine Regionalregierung mit weitgehenden Befugnissen verfügen. Die Polisario würde als politische Kraft anerkannt. Die Idee ist nicht neu. Den Grundstein dafür legte Hassan II. mit der letzten Verfassungsreform 1996, die eine Regionalisierung Marokkos vorsieht.
Die Polisario hat eine solche Lösung immer abgelehnt. Allerdings stellt sich die Frage, wie lange sie durchhalten kann. Gastgeber Algerien möchte sich des Problems Westsahara sobald als möglich entledigen. Denn was einst die Unterstützung einer »noblen arabischen Sache« war, behindert immer stärker die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Setzte Algier in den siebziger und achtziger Jahren noch auf eine unabhängige Westsahara, um sich so einen Zugang zum Atlantik zu verschaffen, gehen heute die Erdgaslieferungen - noch vor dem Erdöl das Hauptexportgut Algeriens - längst per Pipeline nach Europa. Und die laufen durch marokkanisches Gebiet. Außerdem wollen die nordafrikanischen Länder die Freihandelszone UMA wiederbeleben, um so besser mit Europa, aber vor allem mit den USA ins Geschäft zu kommen. Dem algerischen Präsident Abdelaziz Bouteflika ist deshalb mittelfristig an gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit Marokko gelegen. Anfang April stellte er erstmals offen die diplomatischen Interessen seines Landes über die Solidarität mit der Polisario. So gab er als turnusmäßiger Präsident der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) dem Druck Brüssels nach und lud die sahrauische Exilregierung vom ersten Gipfel der afrikanischen Staaten mit der EU aus. Statt dessen durfte Marokko, das der OAU aus Protest gegen deren Anerkennung der Polisario nicht angehört, am Treffen in Kairo teilnehmen.
Der Vorsitzende der Polisario, Mohamed Abdelaziz, spricht angesichts der erneuten Stornierung des Wahlprozesses aus, was die meisten Flüchtlinge in Tindouf denken: »Entweder die UN führt das Referendum durch, oder sie zieht ab.« Falls die 311 Blauhelme tatsächlich die Wüste verlassen sollten, »könnte das zur Destabilisierung der gesamten Region führen«, ist er sich sicher. Um darauf vorbereitet zu sein, hat Abdelaziz seine auf 30.000 Mann geschätzten Guerrillatruppen angewiesen, erstmals seit 1991 die militärische Ausbildung wieder im großen Stile aufzunehmen und Manöver abzuhalten. Etwas, was weder der UN noch den marokkanischen Soldaten, die die 2.000 Kilometer lange Verteidigungsmauer in der Westsahara gegen die Polisario besetzt halten, verborgen blieb.
Reiner Wandler ist taz-Korrepondent für die Iberische Halbinsel und Nordafrika mit Sitz in Madrid und Algier.
erschienen in: iz3w 246, Freiburg 2000
Namibia: Der Ausgang ist ungewiss
Die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia
In den Debatten um den Deutschen Kolonialismus spielt »Südwestafrika« eine zentrale Rolle. Denn auf dem Gebiet des heutigen Namibia verübten die deutschen Kolonialtruppen einen Massenmord an den aufständischen Herero und Nama. Die Anerkennung des Unrechts und die bislang ausgebliebene Entschädigung beschäftigen die namibische Gesellschaft bis heute ebenso wie die ungelöste Landfrage.
von Susanne Kuß
Der »Schutzherrschaft« des Deutschen Kaiserreiches über das Gebiet Südwestafrika ab 1884 waren private Landverträge des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz mit den zur Gruppe der Nama gehörenden Orlam vorausgegangen. Darin täuschte der Deutsche seine afrikanischen Verhandlungspartner, als er nicht die englische, sondern die längere geographische Meile zur Berechnungsgröße erhob. So war der ihm zustehende Küstenstreifen nicht 32, wie die Orlam annehmen mussten, sondern 148 km2 groß. Am Anfang der deutschen Herrschaft in Südwestafrika stand folglich ein Betrug, der die Umverteilung des Landes einleitete. Zwar versuchte der Gouverneur und militärische Oberbefehlshaber Theodor Leutwein ab 1894 auf der Grundlage von Verhandlungen zu einem deutsch-afrikanischen Ausgleich zu gelangen. Doch zwischen dem Kolonialsystem und dem Landhunger der deutschen Siedler gab es kaum Handlungsspielraum. Trotz guter persönlicher Beziehungen zu dem Hererochief Samuel Maharero und dem Namakaptein Hendrik Witbooi scheiterte Leutweins Divide-et-impera-Politik spätestens am 12. Januar 1904, als unerwartet ein Aufstand im Hereroland ausbrach.
Zunächst behielten die Herero in dem Aufstand die Initiative, die Deutschen konnten sich in den Gefechten nur mit Müh und Not behaupten. Leutwein, der auch während der Kämpfe im brieflichen Kontakt mit Samuel Maharero stand, wurde nun seiner Position als Oberbefehlshaber enthoben. In den Augen des Generalstabes und des Kaisers hatte er sich den Herero gegenüber zu konziliant gezeigt. An seine Stelle trat Generalleutnant Lothar von Trotha, ein kompromissloser Militär, der mit seiner formellen Kriegserklärung an die Herero die im Kolonialzeitalter übliche Niederschlagung eines Aufstandes in den Herero-Deutschen Krieg verwandelte. Am Waterberg-Massiv, wohin sich die Herero mit ihren Familien und Rindern zurückgezogen hatten, um auf ein Verhandlungsangebot von deutscher Seite zu warten, bereitete er die Entscheidungsschlacht vor.
Entgrenzte militärische Gewalt
Die Schlacht am 11. August 1904 verlief jedoch nicht nach Plan, denn den Herero gelang es, den um den Waterberg gezogenen Ring zu durchbrechen und in die Wüste Omaheke zu fliehen. Doch zu einem hohen Preis: Verfolgt von deutschen Truppen, welche die spärlichen Wasserstellen besetzten, starben viele Hereros einen qualvollen Tod. In der berüchtigten Proklamation Trothas vom Oktober 1904 wurden selbst Frauen und Kinder nicht vom Schießbefehl ausgenommen. Dies war der Höhepunkt eines Krieges, der vom Generalstab als Rassenkampf verstanden wurde. Obwohl Trotha mehrfach nach Berlin berichtete, dass der militärische Widerstand der Herero gebrochen sei, beendete er seine Treibjagden nicht. Sein Ziel war die physische Vernichtung der Herero, um in einem nahezu leeren Land ein weißes Südwestafrika aufzubauen. Erst infolge einer Intervention des Reichskanzlers gab der Kaiser schließlich den Befehl, den sich ergebenden Herero Gnade zu gewähren. In der Folge wurden sie in Lager interniert, deren inhumane Bedingungen erneut zu einem Massensterben führten. Obwohl ein Streit darüber ausgefochten wird, wie viele Herero tatsächlich umkamen, gehen selbst die niedrigsten Berechnungen von einem Drittel der Herero-Gesamtbevölkerung aus.
Auch die Nama, die im Herbst 1904 unter der Führung von Hendrik Witbooi den Deutschen den Krieg erklärt hatten, wurden entweder getötet oder in Lager gebracht. Da sie sich im Unterschied zu den Herero auf keine Gefechte oder gar Schlachten mit den Deutschen einließen und stattdessen einen Guerillakrieg führten, wurde der Krieg in Südwestafrika erst 1907 für beendet erklärt. Bereits 1906 war jedoch die Konfiszierung des gesamten beweglichen und unbeweglichen »Stammesvermögens« der Herero und Nama angeordnet worden. Langatmige und komplizierte Verhandlungen über Landabtretungen erübrigten sich damit. Die deutsche Kolonialzeit in Südwestafrika war nicht nur durch Strafexpeditionen, alltägliche Grausamkeit und Rechtlosigkeit der schwarzen Bevölkerung gekennzeichnet, sondern vor allem durch entgrenzte militärische Gewaltanwendung, die in einen Genozid mündete, sowie durch Landenteignungen großen Stils. Offiziell endete die deutsche Kolonialherrschaft mit dem Versailler Vertrag von 1919, in dem Südwestafrika als Völkerbundsmandat der Südafrikanischen Union zugesprochen wurde. Apartheid und die Einrichtung von Reservaten waren die Charakteristika der neuen Politik. Burische und englische Siedler kamen ins Land. Aus wirtschaftlichen Erwägungen konnten die meisten Deutschen bleiben, ohne ihre Besitzrechte zu verlieren. Auch die Ausweisungen von Deutschen infolge nationalsozialistischer Aktivitäten blieben Episode. Bis heute leben unter den rund 1,8 Millionen Namibiern etwa 20.000 deutschsprachige Menschen, darunter 2.300 deutsche und deutschstämmige Farmer. Dagegen stehen etwa 97.000 Herero und 62.000 Nama. Den Hauptteil der Bevölkerung Namibias aber bilden die Ovambo, aus denen sich das Gros der SWAPO-Befreiungskämpfer gegen die südafrikanische Herrschaft rekrutiert hatte.
Die Hypothek der Landfrage
In Namibia, das erst 1990 von Südafrika unabhängig wurde, ist die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nur eine Angelegenheit der Herero, Nama und Deutschen, die heute nurmehr gesellschaftliche Splittergruppen bilden, sondern der gesamten namibischen Gesellschaft. Der von den Herero und Nama getragene Widerstand gegen die deutsche Herrschaft und der von der SWAPO getragene Widerstand gegen die südafrikanische Herrschaft soll, so die Vorstellung der heutigen SWAPO-Regierung, nicht in einseitige Überhöhung einzelner ethnischer Gruppen, sondern zu einem Bekenntnis für den Staat Namibia führen. Groß ist die Angst, dass Tribalismus und Egoismus das nationale Projekt gefährden könnten.
Um die nationale Aussöhnung voranzubringen, sollen die Überreste aus der deutschen und südafrikanischen Kolonialzeit abgetragen werden. Dazu zählt hauptsächlich die nach wie vor bestehende ungerechte Verteilung des Bodens. Von den 4.200 kommerziellen Farmen waren 1990 nur 181 im Besitz schwarzer Eigentümer. Eine Landreform mit dem Ziel, Armut und Ungleichheit zu beseitigen, war nach der Unabhängigkeit somit weniger ein wirtschaftliches als vielmehr ein politisches Problem (dazu iz3w 271). Auch wenn die Rechtsgleichheit aller ›Rassen‹ in der Verfassung festgeschrieben worden war, schien eine Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß nur durch eine Neuregelung der Landfrage möglich.
Bereits 1991 beriet eine Konferenz mit 500 Delegierten aus allen gesellschaftlichen Gruppen über die Möglichkeit einer Landreform. Es wurde beschlossen, kaum genutzte oder verlassene Farmen zu enteignen. Nicht ortsansässigen Farmern sollte nach mehreren Warnungen ebenfalls mit Enteignung gedroht werden. Schließlich wurde bestimmt, dass ethnische Gruppen wie Herero und Nama in Zukunft keine Gebiete mehr einfordern konnten. Der Grundsatz »willige Käufer und Verkäufer«, nach dem die Regierung ein Vorkaufsrecht auf angebotene Farmen hat und für deren Ankauf und die anschließende Umsiedlung landloser Bewohner sie finanzielle Mittel bereitstellen sollte, bildet immer noch die Basis der Landreform. Unter der Ägide des Ministeriums für Ländereien, Neusiedlung und Rehabilitierung finden Umsiedlungen statt, deren Nutzen jedoch zunehmend in Frage gestellt wird. Viele Neusiedler sind mit der ihnen unbekannten Arbeit als Kleinbauern überfordert und bleiben auf Regierungshilfen angewiesen.
Simbabwe ist kein Vorbild
Obwohl der jetzige namibische Präsident und ehemalige SWAPO-Kämpfer Sam Nujoma von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hat, dass Stabilität, friedliche Koexistenz und Rechtsstaatlichkeit durch die Landreform nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften, wuchs unter den weißen Farmern die Befürchtung, er könne den gleichen Weg einschlagen wie Robert Mugabe im Nachbarland Simbabwe. Anlass hierzu gab der Parteitag der SWAPO im Jahr 2002, auf dem Nujoma ankündigte, die im ausländischen Besitz befindlichen Farmen gegen Entschädigung zu enteignen. Auf der anderen Seite bot er jedoch, ebenso wie Zaire und Mosambique, den aus Simbabwe vertriebenen Ausländern Land zu günstigen Bedingungen an. Dessen ungeachtet gibt es in den Reihen der SWAPO durchaus Stimmen, die eine entschädigungslose Enteignung aller weißen Farmer fordern. Hierzu zählt vor allem Gewerkschaftschef Risto Kapenda, der im März 2003 feststellte: »Bis heute besetzen die Nachfahren ausländischer Kolonialisten rund 70 Prozent des fruchtbaren Bodens in Namibia, während die rechtmäßigen Eigentümer dieses Bodens auf unfruchtbaren Ländereien vegetieren.«
Bisher konnten Farmbesetzungen wie in Simbabwe vermieden werden. Trotz aller Ambivalenzen und parteitaktischen Spielereien scheint die namibische Regierung auf das technische Know-how der weißen Farmer nicht verzichten zu wollen. Nach anfänglichem Widerstand gegen die Landreform haben sich die in einer Dachorganisation zusammengeschlossenen weißen Farmer entschieden, den Prozess zu unterstützen und den Dialog mit der Regierung zu suchen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des »simbabwischen Modells« haben sie ihre Kooperationsbereitschaft erheblich erhöht. Sie kamen darin überein, den überschüssigen Grund und Boden zur Umverteilung zu marktgerechten Preisen zur Verfügung zu stellen. Auch die ihnen auferlegte Bodensteuer verstehen sie als direkten Beitrag zur Landreform. Unterstützung kam auch von Seiten des namibischen Kirchenrates, der die Zusammenarbeit aller Namibier fordert und Korruption, Nepotismus, Diskriminierung und Stammesdenken verurteilt. Er befürwortet die gesetzliche Enteignung von Ausländern, die über große Mengen ungenutzten Farmlandes verfügen, und fordert die kommerziellen Farmer auf, die Verkaufspreise für dem Staat angebotene Farmen nicht zu überhöhen.
Auch die deutsche Bundesregierung fördert offiziell die Landreform in Namibia. Die von ihr zur Verfügung gestellten Gelder sind jedoch nicht für den Aufkauf von Farmland gedacht, sondern für die Instandsetzung von landwirtschaftlicher Infrastruktur wie Zäune und Bohrlöcher und zur Finanzierung von technischen Beraterdiensten. Indem die deutsche Regierung Namibia finanzielle Hilfe zukommen lässt, versucht sie ihrer so genannten »besonderen Verantwortung« gerecht zu werden. Sie betont, dass nicht nur die Herero unter der deutschen Kolonialherrschaft gelitten hätten, weshalb es nicht richtig sei, diese Gruppe für eine Wiedergutmachung "auszusondern". Vielmehr sollten alle Namibier von den Geldern profitieren.
In der Begründung für die deutsche Entwicklungshilfe wird somit eine Sonderrolle der Herero negiert. Dies trifft sich mit den Vorstellungen der namibischen Regierung, welche weder Landansprüche der Herero noch der Nama anerkennt. Hererochief Kuaima Riruako sieht dies natürlich anders: »Als die Deutschen das Land und Vieh nahmen, nahmen sie es den Herero weg. Deshalb ist die namibische Landfrage eine Herero-Frage.« Auch der Namakaptein Hendrik Witbooi, Vizepremierminister und Urenkel des gleichnamigen Widerstandskämpfers, hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das Land um Gibeon im Süden Namibias eines Tages wieder von den Nama kontrolliert wird.
Kein Konsens für Entschädigung
Eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialzeit spielt auch die Anerkennung des von Trotha befohlenen Genozids an den Herero und Nama und eine mögliche Entschädigung dafür. Die deutsche Bundesregierung hat hier bisher keinen Handlungsbedarf gesehen, eine offizielle Entschuldigung ist ausgeblieben. Somit blieb nur der Klageweg, um Entschädigungen durchzusetzen. Nachdem eine Klage der Herero vor dem Internationalen Gerichtshof der UN mit der Begründung abgelehnt worden war, nur Staaten seien zur Prozessführung berechtigt, verklagte die Herero People's Reparation Corporation im September 2001 die Deutsche Bank und die Reederei Woermann vor dem Bezirksgericht der USA in Washington. Durch das dortige Strafrecht können auch ausländische Konzerne, Institutionen und Personen belangt werden, sofern ein Schaden durch die Verletzung internationalen Rechts oder eines von den USA unterzeichneten Vertrages vorliegt - eine Regelung, die auch bei der Entschädigung der NS-Zwangarbeiter eine wichtige Rolle spielte. Da das Washingtoner Gericht sich für nicht zuständig erklärte, reichten die Rechtsanwälte der Herero im August 2003 eine neue Schadensersatzklage vor dem Bundesgericht in New York ein. Der Ausgang ist ungewiss. In Namibia gibt es bezüglich der Entschädigungszahlungen allein an die Herero keinen Konsens, da auch andere Gruppen wie die Nama einem Vernichtungskrieg ausgesetzt waren. Die Diskussion um den Genozid an den Herero wird weniger gesamtgesellschaftlich als vielmehr zwischen deutschsprachigen Namibiern und den Herero geführt, wenn auch in unterschiedlichen Foren. Während die Herero von einem Genozid ausgehen und ihre Forderungen damit begründen, weisen die deutschsprachigen Namibier in der Mehrheit jede Verantwortung von sich. Ihre Argumente kreisen um die »Altlasten« anderer Gruppen der namibischen Gesellschaft, etwa um die Behandlung ehemaliger SWAPO-Häftlinge (Folterungen bei Lubango), um die Kolonialgräuel anderer Nationen und schließlich um die fehlenden völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung im Jahr 1904.
Für die Identität der Herero, Nama und Deutschen in Namibia war und ist die Erinnerung an den Herero-Deutschen und den Nama-Deutschen Krieg 1904-1907 außerordentlich wichtig. Denn die bei Gedenkveranstaltungen vollzogenen Rituale dienen der Bestätigung als Gruppe. Nach der Katastrophe des Kolonialkrieges stellten der "Herero-Tag" für die Herero und der »Heroes Day« (vormals »Witbooi-Tag«) für die Nama Höhepunkte eines Rekonstruktionsprozesses dar. Unter südafrikanischer Herrschaft setzte die Erinnerung an koloniale Unterdrückung und Widerstand zudem ein politisches Signal gegen die Apartheid.
Demgegenüber neigen die deutschen Traditionalistenverbände dazu, die Schlachten zu verherrlichen, die Leiden der deutschen Soldaten zu betonen und die der Herero und Nama zu vernachlässigen. Im Jahr 2003 hat Präsident Nujoma daher die Waterberg-Feier der deutschsprachigen Namibier mit den Worten verboten, dass die Ausrottung von Menschen nicht gefeiert werden sollte.
Die für das ganze Jahr 2004 geplanten Gedenk- und Erinnerungsfeiern, die von einem kirchlichen Gremium einerseits und den Herero andererseits vorbereitet werden, haben die nationale Aussöhnung und die Wissensverbreitung über die Kolonialära zum Ziel. Im Rahmen der Feiern sollen der Genozid und seine Folgen als Teil der Nationalgeschichte Namibias und nicht als Separatgeschichte präsentiert werden. Denn während die Landfrage alle Namibier betrifft, breit diskutiert wird und somit den Charakter eines nationalen Projektes trägt, betrachten die Regierung und die Mehrheit der Bevölkerung den Widerstand der Herero und Nama gegen die deutsche Herrschaft nur als Teilaspekt der namibischen Geschichte. Eine partikulare Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit aber ist gerade nicht im Interesse der Regierung, da der Prozess des Nation building so ihrer Ansicht nach aus dem Gleichgewicht geraten könnte. Für die Gestaltung der Gedenkfeiern mussten deshalb Kompromisse gefunden werden, welche exemplarisch zeigen, wo die Probleme bei der Bewältigung der Folgen des Deutschen Kolonialismus in Namibia liegen.
Susanne Kuß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg.
erschienen in: iz3w 275, Freiburg 2004
Namibia: »Der Druck auf die SWAPO wächst«
Interview mit Henning Melber über die Landreform in Namibia
In Namibia hat die Landfrage an politischer Brisanz gewonnen. Zwar verurteilt Staatspräsident Samuel Nujoma Landbesetzungen, es werden aber vermehrt Stimmen für das »Modell Zimbabwe« laut. Einige Nachwuchspolitiker der Regierungspartei South West Africa People's Organization (SWAPO) und Teile der Gewerkschaften fordern eine Änderung der Verfassung, damit Farmer entschädigungslos enteignet werden können.
iz3w: In Namibia wird derzeit kontrovers über die Landfrage diskutiert. Worum geht es?
Melber: Die heutige Landverteilung spiegelt die ungerechten kolonialen Strukturen wider. Es ist keine Frage, dass da etwas passieren muss. Die weißen Farmer sagen, sie seien bereit, an einer Landreform mitzuwirken, sie hätten nichts dagegen, wenn Schwarze Farmen kauften, denn dies entspreche dem nationalen Versöhnungsgedanken. Diese Haltung kommt aber nicht ganz freiwillig. Sie ist eine Reaktion auf die Tendenz, ähnlich wie schon vor ein paar Jahren in Zimbabwe, dass der Druck aus Kreisen nationalistischer, populistischer schwarzer Führer stärker wird. Dabei handelt es sich hauptsächlich um junge Leute, die am Rande des Machtzentrums der SWAPO angesiedelt sind. Sie versuchen sich zu profilieren, indem sie eine Landenteignung fordern.
iz3w: Warum kommt die Landfrage jetzt wieder auf den Tisch?
Melber: Die Befreiungsbewegung an der Macht konnte die Hoffnung auf Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse nach der Unabhängigkeit nicht erfüllen - zum Teil aus objektiven Gründen, zum Teil aber auch wegen internen Versagens. Die Enttäuschung unter der ehemals kolonisierten Bevölkerungsmehrheit nimmt zu, der Druck auf die SWAPO wächst. Es ist zwar viel passiert. Leute, die in den Townships und in den ländlichen Gebieten leben, sehen, dass Straßen geteert wurden und es Strom und Wasser gibt. Aber die Arbeitslosigkeit ist höher als vor der Unabhängigkeit, der Lebensstandard hat sich nicht verbessert. Das schafft natürlich Unmut. Zumal die privilegierte weiße Minderheit so weitermachen kann wie bisher, nur dass noch eine kleine schwarze privilegierte Minderheit dazu gekommen ist. Der kontrollierte Wandel war sozusagen ein neokoloniales Arrangement.
iz3w: 1990 sahen die Pläne der SWAPO für eine Landreform noch anders aus?
Melber: Ich fürchte, sie hatte nie eine konkrete Landreform geplant. Im Programm war nur die diffuse Forderung, dass das im Zuge der Kolonialisierung geraubte Land nach dem Sieg denen gehöre, deren Ahnen dort begraben sind. Die SWAPO hat sich damals mit der UN-Resolution 435 auf einen Kuhhandel eingelassen, indem sie eine Verfassung akzeptierte, die ganz klar Besitzstandswahrung signalisierte. Das führte zur Haltung der SWAPO, Landenteignung werde nicht als Lösung der Landfrage angesehen. Die Regierung verfolgt seitdem das Prinzip »willing seller - willing buyer«.
iz3w: In der aktuellen Debatte wird oft kritisiert, die namibische Regierung habe ihren Etat zum Aufkauf kommerzieller Farmen noch nicht ausgeschöpft, obwohl zahlreiche weiße Farmer ihr Land zum Verkauf angeboten hätten. Verschleppt die Regierung die Umverteilung?
Melber: In der Tat sind die ohnehin schon bescheidenen jährlichen Zuweisungen an das Ministerium für Wiederansiedlung und Wiedergutmachung für den Landerwerb nicht ausgeschöpft worden. Die weißen Farmer behaupten, sie hätten gutes Land angeboten, während die Regierung sagt, die Grundstücke seien nicht geeignet gewesen. Das ist schwierig zu überprüfen. Und die Regierung verhält sich widersprüchlich. Mitte der 90er Jahre forderten beispielsweise einige Damara bei Besetzungsaktionen am Daan Viljoen Park bei Windhuk erfolglos das Land zurück, von dem sie einst vertrieben worden waren, das jetzt aber dem Staat gehört.
iz3w: Werden diese Aspekte öffentlich diskutiert?
Melber: Wenig. Es wird diskutiert, aber nicht in den Medien. Die Herero kritisieren, dass sie wegen des Völkermordes nicht entschädigt werden und die Regierung ihnen dabei nicht hilft. Diese sagt, das sei Sache der Herero und nicht der Republik Namibia, obwohl der Mord an den Herero und Nama ja nur der Kulminationspunkt einer Landvertreibung war.
iz3w: Verspricht sich die Regierung von einer Landreform tatsächlich ökonomische Fortschritte für einen Staat, in dem Schürfkonzessionen, Bergbaulizenzen und Fischfangquoten eine gewichtige Rolle spielen?
Melber: In Zimbabwe könnten die Leute vom Land leben, in Teilen Südafrikas auch. Aber in Namibia würde auch eine Landumverteilung keine wesentliche Änderung der Wirtschaftsstruktur bewirken. Das fruchtbare Land ist bereits im Besitz der Schwarzen, die auf dem Gebiet der früheren Reservate leben. Dort ist der jährliche Niederschlag so hoch, dass man Hirse anbauen kann.
Die Farmen in weißem Besitz konzentrieren sich auf die Fleischproduktion. Mittlerweile haben einige Landbesitzer ihre Höfe zu Gästefarmen ausgebaut und bieten Ökotourismus oder Jagdsafaris an. Aber das ist nichts, was einer größeren Zahl von Leuten eine Existenz sichern würde. Es ist in Namibia aus ökonomischen Gründen nicht sinnvoll, eine Farm mit 10.000 Hektar in 20 Einheiten von 500 Hektar aufzuteilen.
Viel wichtiger ist das Kommunalland im Norden, wo die Menschen noch mehrheitlich direkt oder indirekt vom Land leben. Eine Landreform in Namibia sollte sich also stärker auf Landbesitz und Landnutzung in den kommunalen Gebieten und weniger auf Landumverteilung konzentrieren. Allerdings ist auch dabei Schindluder getrieben worden. Unter der Hand findet im Norden eine rasante Privatisierung statt. Es ist ein Gebiet mit sehr ausgeprägten Klassenstrukturen, die nicht mehr entlang der Hautfarbe existieren. Anfang der 90er Jahre hatte die Regierung wegen der Dürre ein großes Hilfsprogramm geschaffen. Ein Jahr später wurde bekannt, dass ein Teil der Gelder an neuerworbene Farmen geflossen war, die unter der Kontrolle von Ministern standen. Dort, wo es eigentlich keinen Privatbesitz geben darf, wurde kommunales Land eingezäunt und anderen Landarbeitern gegen geltendes Recht der Zugang zu Wasser versperrt. Es gibt in Namibia eine massive Bewegung von den ländlichen Gebieten in die Städte. Viele Ex-Guerillakämpfer demonstrierten jahrelang für Reintegration, haben aber nicht ein einziges Mal Land gefordert. Sie wollten kein Land, sondern einen Job.
iz3w: Warum soll dann Land umverteilt werden?
Melber: Eher aus sozialpsychologischen und politischen Gründen. Der Begriff dafür wäre eigentlich ›Palliativmaßnahme‹, es lenkt von anderen Problemen ab. Der zimbabwische Präsident Mugabe ist in Afrika populärer denn je. Aber die populistische Rhetorik in der Landfrage mag allenfalls das Verfallsdatum der Befreiungsbewegungen an der Macht herausschieben. Auf der anderen Seite muss man auch den Kritikern eine Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität vorwerfen. Denn das Recht, Befreiungsbewegungen an der Macht zu kritisieren, hat verwirkt, wer nicht auch die Scheinheiligkeit der Regierungen in Deutschland oder in Großbritannien kritisiert.
iz3w: Hätte die SWAPO früher aktiv werden müssen?
Melber: Sie hätte zum Beispiel gleich 1990 beschließen können, dass Landbesitz besteuert wird. Das ist nicht gerade revolutionär, aber Besteuerungspolitik kann ein effizientes Mittel für Reformen und für Umverteilung sein. Erst letztes Jahr hat nun die SWAPO ein Gesetz zur Besteuerung von kommerziellem Farmbesitz erlassen.
iz3w: Warum wurden solche Maßnahmen nicht früher ergriffen?
Melber: Anfangs hieß Landfrage für einige Politiker nur, eine eigene private Farm zu bekommen. Und jemand, der im Kabinett in den fünf Jahren der ersten Legislaturperiode seine private Farm erwirbt, tut sich dann schwer, ein Gesetz zu verabschieden, das diesen Farmbesitz besteuert. Darüber hinaus ist die SWAPO entstehungsgeschichtlich und kulturell in Gebieten verwurzelt, in denen die Bevölkerung kaum von Landvertreibung betroffen war. Im Ovamboland wurde kein Land weggenommen. Und aus der Sicht der Ovambo stellt sich die Landfrage anders dar als aus der Sicht der Herero oder Nama.
iz3w: Wie könnte eine Landreform in Namibia idealerweise aussehen?
Melber: Umverteilungsmaßnahmen sind der Grundstein für eine Demokratisierung, was nicht heißt, dass damit automatisch eine ökonomische Verbesserung eintreten würde. Es geht darum, wie eine Landumverteilung der sozialökonomischen Entwicklung des Landes nutzen könnte, wie aber auch Faktoren wie Identität und historische Ungerechtigkeit berücksichtigt werden könnten. Diese nicht-ökonomischen Aspekte haben eine wichtige Bedeutung. Aber wenn die nachkoloniale Elite immer mehr unter Druck kommt, wird die Landfrage wie in Zimbabwe ideologisch aufgeladen - so berechtigt das Anliegen wegen des historischen Hintergrundes ist. Es werden Sündenböcke stilisiert, nämlich die kommerziellen weißen Farmer. Und tatsächlich repräsentieren die ja die Ungerechtigkeit des früheren Systems. In vielen Fällen sind es direkte Nachkommen und Nutznießer des früheren kolonialen Systems. Aber ein Unrecht wird nicht durch ein anderes Unrecht ungeschehen gemacht. Und die einfachen Lösungen, die angeboten werden, könnten allenfalls kurzfristig den Druck von der Regierung nehmen. Die Frustration unter der ehemals kolonisierten Bevölkerung würde bald zunehmen, wenn auch die neuen Realitäten einmal mehr die Erwartungen nicht erfüllen.
Vor 13 Jahren, am 21. März 1990, wurde die Republik Namibia gegründet. Zuvor hatte die SWAPO jahrzehntelang gegen die südafrikanischen Besatzer gekämpft, die nach dem Ersten Weltkrieg auf die deutschen Kolonialherren gefolgt waren. 1989 ermöglichten diplomatische Verhandlungen die Rückkehr tausender Exil-Namibier aus Angola und Sambia und die erste freie, demokratische Wahl, in der die SWAPO 56 Prozent der Stimmen erhielt.
Das südliche Afrika war die letzte Region des Kontinents, die dekolonisiert wurde. Keine der Befreiungsbewegungen in Südafrika, Namibia und Zimbabwe hatte sich militärisch durchsetzen können. Der Preis für die Erlangung der politischen Macht von den Weißen bestand daher darin, die ungleichen Besitzverhältnisse weitgehend unangetastet zu lassen. Noch immer zählen die Staaten des südlichen Afrika zu den Ländern mit den krassesten Einkommensunterschieden.
In Namibia gab es im Jahr 2000 nach Auskunft des Landwirtschaftsministeriums 5.124 kommerzielle Farmen. 4.422 davon befanden sich im Besitz weißer und 324 im Besitz schwarzer kommerzieller Farmer. 240 Farmen gehörten Ausländern, vor allem aus Deutschland und Südafrika. Auf den 6.000 bis 10.000 Hektar großen kommerziellen Farmen wird extensive Viehzucht betrieben. Das dort für den Weltmarkt produzierte hochwertige Fleisch trägt mit 6 bis 8 Prozent erheblich zum Bruttosozialprodukt Namibias bei.
Henning Melber ist seit 1974 Mitglied in der SWAPO und derzeit Forschungsdirektor des Nordic Africa Institute in Uppsala/Schweden. Das Interview führte Anke Schwarzer, die als freie Journalistin in Hamburg arbeitet.
erschienen in: iz3w 271, Freiburg 2003
Niger: Einsamer Weg zu Stärke
Schwarze Entwicklungshelferinnen in Niger
Empowerment ist zum Schlagwort in der entwicklungspolitischen Debatte geworden. Meist wird bei der Umsetzung der Frauenförderung auf Projektebene jedoch die Rolle der MultiplikatorInnen ausgeblendet. Das gilt auch für ein spezielles UN-Fachkräfteaustauschprogramm in Niger: Die afrikanischen »Entwicklungshelferinnen« sind hier mit diskriminierenden Stereotypen ihrer Zielgruppen konfrontiert und müssen sich den Status als Expertinnen erst mühsam erkämpfen.
von Iris Schöninger
Das Domestic Development Service Programm (DDS) der United Nations Volunteers ist das bisher einzige Programm der personellen Zusammenarbeit, das den Austausch von Fachkräften innerhalb desselben Kontinents organisiert. Unter Einbeziehung partizipativer Methoden sollen einheimische Basisgruppen gestärkt und eine Mobilisierung lokaler Ressourcen erreicht werden. Die jeweilige DDS-Koordination von inzwischen 16 Landesprogrammen ist in der Regel in die Strukturen des United Nations Development Programms (UNDP) integriert. Bei den großen UN-Organisationen wird das seit 1979 in Asien und seit 1984 in Afrika laufende Programm als erfolgreiches Modell propagiert, das - nicht zuletzt durch den Einsatz von »einheimisch-internationalem« Personal - im Rahmen der extrem hierarchischen UN-Strukturen einen Zugang zur Basis, also zu Dorfgemeinschaften, sozial benachteiligten Gruppen etc., ermöglicht. In Niger arbeiten seit 1989 afrikanische DDS-Entwicklungshelferinnen (und -helfer) aus Kongo, Benin, Togo, Burkina Faso, Mali und Benin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Landwirtschaft, im Handwerk, in der Konservierung und Vermarktung von Lebensmitteln sowie der Gesundheitsvorsorge. Gastorganisation ist für die meisten die nationale Frauenorganisation Association des Femmes du Niger. Im Verlauf ihrer Tätigkeit müssen sich die DDS-Entwicklungshelferinnen (»Animatrices«) mit teilweise geschlechtsspezifischen Konfliktpotentialen auseinandersetzen, die sie immer wieder in ein Spannungsfeld zwischen drei Rollenzuschreibungen verweisen: Sie werden von den ProjektpartnerInnen und Zielgruppen gleichzeitig als »Afrikanerin«, "Ressource-Person" und »Mediatorin« wahrgenommen. Nur eine positive Besetzung aller Zuschreibungen sichert ihnen einen anerkannten sozialen Status bei der Kooperation mit den PartnerInnen.
Die drei Rollen der Animatrice
Das Arbeits- und Persönlichkeitsprofil einer Animatrice steht im Widerspruch zur nigrischen Gesellschaftsordnung und dem Bild einer respektierten »Afrikanerin«. Weibliche Fachkräfte leben in Niger ohne Familienangehörige und bewegen sich frei, d.h. ohne männliche Begleitung, im öffentlichen Raum. Sie verfügen über eine Berufsausbildung, ein eigenes Einkommen und bekennen sich nicht zum islamischen Glauben. Damit gelten sie automatisch als Prostitutierte, wie es z.B. Ekissi aus Togo erlebte: »Man akzeptiert dich nicht, weil sie eine klare Vorstellung von einer Frau von der Küste haben. Wenn du ausgehst, wirst du von aller Welt belästigt. Man glaubt, du seist eine Hure.«
Diese Stigmatisierung führt immer wieder dazu, dass einheimische Ehemänner ihren Frauen jegliche Kontakte zur Animatrice verbieten und ihr gleichzeitig die berufliche Kompetenz absprechen. Auch nigrische Funktionäre auf lokaler Ebene und vereinzelt UN-Mitarbeiter nutzen den prekären Status der Frauen aus, und es kommt zu sexuellen Übergriffen. Begünstigt wird dies durch mehrere Faktoren: So verfügen die wenigsten Fachkräfte - wie vertraglich vorgesehen - über eine sichere Unterkunft. Und bei den regelmäßig notwendigen Reisen in die Hauptstadt sind die Entwicklungshelferinnen mangels Programm-Geldern auf private Übernachtungsarrangements angewiesen oder müssen sich nächtlichen Anfeindungen auf Busbahnhöfen aussetzen. Faktisch werden alle DDS-Entwicklungshelferinnen auf individuelle Handlungsstrategien verwiesen, wollen sie ihre marginalisierte soziale Position verändern: Die Kongolesin Joelle gewinnt z.B. an Reputation und Fachkompetenz, indem sie jungen Mädchen, die sich tatsächlich prostituieren, zu einem »ehrbaren« und attraktiven Einkommen verhilft. Féliciane, eine alleinerziehende Mutter, inszeniert mithilfe burkinischer Landsleute eine anerkannte Familienbiographie. Odile lässt sich von einer älteren nigrischen Dorfbewohnerin als »Tochter« adoptieren. Zusätzlich passen sich alle Frauen der Kleiderordnung an und vermeiden Gespräche über religiöse Themen. Zwar sind nicht alle Entwicklungshelferinnen mit der Wahl ihrer Strategien erfolgreich, doch in den meisten Fällen gelingt ihnen eine Aufhebung ihrer Stereotypisierung als Prostituierte. Eine Animatrice fungiert insofern als »Ressource-Person«, als sie den ProjektpartnerInnen vor Ort ihr Wissen und ihren Zugang zu Ressourcen zur Verfügung stellt. Ob sie diese Rolle positiv besetzen kann, hängt entscheidend davon ab, welche finanziellen und bewusstseinsbildenden Inputs ihr zur Verfügung stehen und welches Image sie innerhalb ihrer eigenen Institutionsstrukturen besitzt. Die propagierte Basisnähe des DDS-Programms geht einher mit einer »ressourcenarmen« Umsetzung: DDS-Entwicklungshelferinnen erhalten ein geringes Einkommen, vergleichbar dem Gehalt einer einheimischen Dorfschullehrerin. Sie leben in sehr einfachen Unterkünften und verfügen allenfalls über ein Moped. Mit diesem Lebensstil irritieren sie die lokale Bevölkerung, die an höhere Standards bei Entwicklungsfachkräften gewöhnt ist. Die lokalen staatlichen MitarbeiterInnen verbinden mit DDS-Fachkräften eindeutige materielle Zuwendungen. So erwarten Funktionäre »Geschenke« in Form neuer Büromöbel, Verantwortliche der nigrischen Frauenorganisation AFN rechnen mit Nebeneinkünften aus Projektmitteln oder mit Mietzahlungen für die Unterkunft der Animatrice vor Ort. Werden diese Hoffnungen nicht erfüllt, sind die Konsequenzen für die weiblichen Fachkräfte dramatischer als für ihre männlichen Kollegen: Ihr sozialer Status ist bereits prekär, und sie können sich keine weiteren Misserfolge in ihrem Arbeitsbereich mehr leisten. Eine Basisfachkraft wie die Togolesin Odette missbilligt in diesem Zusammenhang das Verhalten von UN-Vorgesetzten in Niger, die darüberhinaus als Kontrolleure statt als Berater fungieren und sich am liebsten in klimatisierten Büros aufhalten: »Sie behandeln uns, als wären wir die Dienstmädchen der Bauern, sie achten uns nicht!«
Jede Animatrice arbeitet außerdem an einer Schnittstelle unterschiedlicher Wissenssysteme und Wissenswelten und agiert dadurch als »Mediatorin«. Ihre Aufgabe ist es, Verbindungen zu schaffen und für die beteiligten PartnerInnen passende interkulturelle Kommunikationsmittel und -stile zu finden. Dabei müssen DDS-Fachkräfte auch versuchen, eigene Interessen mit den nicht immer deckungsgleichen Zielen von wichtigen InteraktionspartnerInnen zu verknüpfen. So finden sich die Animatricen in einem Dilemma wieder: Ihre Zielgruppen, hier Frauen und Mädchen, verlangen von ihnen z.B. die Beschaffung von Metall-Weidezäunen als Symbol der Modernisierung. Propagiert eine Entwicklungshelferin stattdessen den Einsatz lokal vorhandener Materialien, kann ihre Strategie nur erfolgreich sein, wenn sie bewusstseinsbildende Aktionen durchführen kann. Doch damit gerät sie - wie hier Odette - in Widerspruch zur DDS-Koordination: »Sie beschuldigen uns! Sie wollen Vorzeigeprojekte, aber das ist nicht einfach... Sie sollten sehen, wie wir wenigstens die Mentalitäten verändern.«
Empowerment ist keine Frauensache
Bei der Umsetzung von Frauenförderstrategien befinden sich die Animatricen im Fadenkreuz differierender Interessen und Handlungsrichtlinien: Weder UNDP-Niger bzw. das DDS-Programm noch staatliche nigrische Organe oder einheimische Gastorganisationen verfolgen eine explizite Förderung von Frauen. In der Folge treffen die ausländisch-afrikanischen Entwicklungshelferinnen bei der Kooperation mit staatlichen Diensten an den Projektorten fast ausschließlich auf männliche Ansprechpartner. Eine im lokalen islamisch-traditionellen Kontext notwendige Fachberatung von Frauengruppen (besonders im landwirtschaftlichen Bereich) ist dadurch selten möglich, ihr eigener Rückhalt in einheimischen Institutionsstrukturen gering. Das nigrische Beispiel zeigt, dass weibliche Fachkräfte nur dann einheimische Frauen fördern können, wenn sie sich nicht selbst in einer Situation der permanenten Ent-Mächtigung - also eines »disempowerments« - befinden. Die Entwicklungshelferin benötigt in ihrer Rolle als »Afrikanerin« den Respekt ihrer Gastgemeinde in Verbindung mit persönlicher Wertschätzung, um als kompetentes Gegenüber ernst genommen zu werden. In ihrer Funktion als »resource person« wiederum sind adäquate Arbeitsmittel unabdingbar, während sie als »Mediatorin« über interkulturelle Vermittlungsfähigkeiten verfügen muss. Außerdem beeinflussen die strukturellen Rahmenbedingungen entscheidend ihre Handlungsoptionen: Trifft eine Animatrice auf ein Milieu, in dem religiöse und soziale Normen sowie politische Strategien von extremen Geschlechterdisparitäten geprägt sind, benötigt sie zur Absicherung ihres eigenen Status bzw. für ihr nicht rollenkonformes Verhalten und zur möglichen Infragestellung diskriminierender Verhaltensmuster eine klare institutionelle Rückendeckung.
Im Gegensatz hierzu sind die meisten Entwicklungshelferinnen in unserem Fallbeispiel ausschließlich auf die Mobilisierung persönlicher Qualitäten beim Entwurf von Lösungsstrategien innerhalb eines ihnen überwiegend ablehnend gesonnenen Umfeldes angewiesen. Welche konkrete Wahl jede Animatrice trifft, hängt u.a. von ihrer Analysefähigkeit der Rahmenbedingungen und ihren Kontakten zu Netzwerken und Organisationen ab. Alle weiblichen Fachkräfte verbinden jeweils mehrere Handlungsrationalitäten miteinander: sei es eine fiktive Biographie, das »Freikaufen« durch Projektmittel oder die Anpassung an bestehende Kleiderordnungen. Parallel dazu müssen sie Arbeitsresultate gegenüber ihrer Entsendeorganisation in der Form präsentieren, dass sie den Kommunikationsformen der internationalen Entwicklungsbürokratie entsprechen und sich als »Erfolgsstorys« interpretieren lassen.
Ein Empowerment - sowohl der Entwicklungshelferinnen selbst als auch ihrer weiblichen Zielgruppen - ist nur langfristig und im Rahmen einer klaren institutionellen Parteilichkeit inklusive einer genderorientierten policy möglich. Doch Empowerment ist kein exklusives Problem von Frauen, sondern eine Frage des Verhältnisses der Geschlechter zueinander. Soziale Veränderungsprozesse besitzen erst dann eine grundlegende transformatorische Dimension, wenn sie die Aushandlung neuer Verteilungs- und Arbeitsmodi mit den Männern ebenso einschließen wie eine Aufhebung patriarchal-hierarchisch geprägter Organisationskulturen und institutioneller Strukturen.
Iris Schöninger ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Von ihr erschien zum Thema: »Strateginnen der Stärke« (Brandes und Apsel 1998). Der Artikel beruht auf einer 1995 durchgeführten Feldforschung.
erschienen in: iz3w 246, Freiburg 2000
Nigeria: »Flackernde Kerzen«
Nigeria in der Literatur von Toyin Adewale
von Susan Arndt
Nach der Veröffentlichung von drei Büchern der bekannten ghanaischen Schriftstellerin Amma Darko hat der Stuttgarter Schmetterling Verlag nun einen Kurzgeschichtenband der Nigerianerin Toyin Adewale publiziert. Der Titel Flackernde Kerzen entstammt der Passage aus einem Brief an ihren Verleger, in dem sie ein leidiges Problem Nigerias anspricht: »Heute Abend, zwischen zwei flackernden Kerzen, hoffe ich, das Manuskript abschließen und an Sie weiterleiten zu können. Schon wieder ist der Strom ausgefallen. Doch auch die Dunkelheit kann mich meines Vergnügens nicht berauben...« Tatsächlich zeugt jede der zwanzig Geschichten von Adewales tiefer Liebe zur Literatur. Doch die 30-jährige ist nicht nur eine passionierte Schriftstellerin, sondern auch eine Kennerin und Promoterin nigerianischer Literatur. Verdient gemacht hat sie sich vor allem als Mitbegründerin und langjährige Vorsitzende von WRITA (The Women Writers of Nigeria). Ein zentrales Anliegen von WRITA besteht darin, Nigerianerinnen aller Altersgruppen, Regionen und Schichten anzuregen, ihre Erfahrungen und Gedanken in literarischen Texten festzuhalten. Eine erste Anthologie schreibender Frauen Nigerias erschien 1996 unter dem programmatischen Titel Breaking the Silence [Das Schweigen überwinden] - ein zweiter ist im Druck.
In ihrem Kurzgeschichtenband Flackernde Kerzen setzt sich Adewale einfühlsam und gleichzeitig kritisch mit der nigerianischen Gesellschaft auseinander. Die Geschichten entstanden in den Zeiten der rigiden Militärdiktatur Sani Abachas, der 1995 den Menschenrechtler und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa hinrichten ließ. Am Beispiel von Einzelschicksalen benennt Toyin Adewale die Menschenrechtsverletzungen, die unter seiner Herrschaft an der Tagesordnung waren: ungerechtfertigte Verhaftungen, Folter und willkürliche Verurteilungen.
In Bittersüße Schokolade begegnen wir einer Journalistin, die seit acht Monaten im Gefängnis sitzt. In realistischen Schilderungen werden die alltäglichen Konsequenzen ihres Gefängnisaufenthaltes geschildert: Ihr ist es versagt, sich und ihre Kleider zu waschen. Klagend und schonungslos wendet sich die Erzählerin an die Gefangene: »Deine weiblichen Ausdünstungen dringen in deine Nase. Deine Unterhose, die du drei Tage nicht gewaschen hast, riecht nach getrockneter Pisse und all deinen Säften.« Infolge der Verweigerung jeglicher Hygiene ist die Haut der Frau mit eitrigem Ausschlag übersät. Jede medizinische Behandlung wird ihr versagt. Der »unerreichbare Juckreiz« ist das einzige, was sie der Stille und »Ewigkeit der Zeit« entgegenzusetzen hat. Nur einmal im Monat darf sie ihren Mann für eine halbe Stunde durch Eisengitter sprechen. Und immer die Ungewissheit, ob sie, von der Außenwelt vergessen, im nächsten Moment hingerichtet werden wird: »Es gibt kein Gesetz in diesem Land«, heißt es in dieser Geschichte. Den Schilderungen des Unrechts stellt Adewale den Widerstand Einzelner gegenüber.
Auch andere Konflikte, die das Leben in der nigerianischen Gesellschaft bestimmen, fließen in Adewales Geschichten ein: Korruption, Schmuggelei, Arbeitslosigkeit, das monatelange Ausbleiben von Gehaltszahlungen an Regierungsangestellte, Armut, Verkehrschaos und alltägliche Gewalt auf den Straßen. Dabei interessiert sich Adewale in erster Linie für den Blickwinkel von Frauen verschiedener Alters- und Berufsgruppen. Die Geschichten erzählen von den Diskriminierungen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind: der Enterbung von Witwen, der Zwangsverheiratung junger Mädchen an alte Männer, der sexuellen Nötigung bis hin zur Vergewaltigung.
In Die Frau vom Markt begegnen wir beispielsweise einer psychisch kranken Frau, die von einem Mann brutal vergewaltigt wird und sich seiner nur dadurch zu entledigen weiß, indem sie ihn umbringt. Sie wird verhaftet, flieht jedoch und bringt auf dem Marktplatz das Kind des Vergewaltigers zur Welt. Niemand wird ihr und dem Kind zur Seite stehen. In Die Party erzählt Adewale von der Gewalt und Willkür, der Frauen in der Ehe oftmals ausgesetzt sind. Die Geschichte beginnt mit einem gewöhnlichen Dialog eines Ehepaares, das sich darauf vorbereitet, auf eine Party zu gehen. Doch der Schein des Alltäglichen trügt. Der Mann steuert nicht die Party, sondern das Haus eines Priesters an, mit dem er verabredet hat, seine Frau rituell zu opfern. Die Frau bekommt unerwartet ihre Regel und eine menstruierende Frau darf nicht geopfert werden - das und ihre Geistesgegenwart retten der Frau das Leben.
Wie diese Protagonistin sind auch Adewales andere Frauenfiguren keine passiven Opfer, sondern engagierte und fesselnde Frauen, die den Widrigkeiten ihrer Gesellschaft trotzen und sich solidarisch zu unterstützen wissen. Adewales Geschichten beeindrucken nicht unbedingt durch eine sprachliche Eindringlichkeit oder Einmaligkeit. Vielmehr sind es die in den Geschichten aufgebauten Spannungsbögen und die klaren Gesellschaftsanalysen, die Flackernde Kerzen zu einem Lektüreerlebnis machen.
Toyin Adewale. Flackernde Kerzen. Zwanzig Geschichten aus Nigeria. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 1999. 120 S., DM 22,80.
erschienen in: iz3w 244, Freiburg 2000
Nigeria: Glaube der Gewalt
In Nigeria verschärft sich der Religionskonflikt
»Hat Gott einen Fehler gemacht, als er Nigeria formte?« fragte der gewerkschaftsnahe christliche Geistliche Olu Oshewa unlängst während einer Predigt. Er ist nicht der einzige, der sich über die massiven religiösen und ethnischen Konflikte im Middle Belt und im Norden Nigerias besorgt zeigt. Denn die latente Spaltung zwischen Muslimen und Christen entlädt sich seit September 2001 immer öfter in Pogromen.
von Alex Veit
Schon die britischen Kolonialbeamten in Nigeria verbrachten ihren Urlaub gerne in Jos, der Hauptstadt des heutigen Bundesstaats Plateau. Der für sein gemäßigtes Klima bekannte und lange als besonders friedlich geltende Staat warb auch nach der Unabhängigkeit Nigerias mit dem Slogan »Die Heimat des Friedens und des Tourismus« für sich. Mit dem Frieden war es allerdings spätestens seit September 2001 vorbei, als nach den Anschlägen in New York seit längerem schwelende Konflikte zwischen muslimischen und andersgläubigen Bewohnern von Jos ausbrachen. Bei tagelangen Straßenkämpfen kamen nach Schätzungen tausend Menschen ums Leben. Anschließend vertiefte sich die ethno-religiöse Teilung durch die konfessionelle Separierung der Wohnviertel und der Märkte.
Im Vorfeld der Lokalwahlen im März diesen Jahres kam es in und um die Kleinstadt Yelwa erneut zu Kämpfen zwischen den rivalisierenden Lagern, die mit weniger als hundert Toten allerdings kaum Aufmerksamkeit erhielten. Erst als im Mai einige Dorfmilizen Yelwa besetzten und über 600 Muslime töteten, erhielt der lokale Konflikt landesweite Aufmerksamkeit. Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo verhängte den Ausnahmezustand über Plateau, ersetzte den gewählten Gouverneur durch einen Ex-General und suspendierte das Parlament des Bundesstaats. In einer Fernsehansprache verteidigte der Präsident diese heftig kritisierten Schritte mit der Notwendigkeit, einen "gegenseitigen Genozid" verhindern zu müssen, der drohe, sich auf das gesamte Land auszudehnen.
Föderal gegen »Fremdherrschaft«
Der Bundesstaat gehört zum so genannten Middle Belt, der Region des Landes zwischen dem christlich dominierten Süden und dem weitgehend muslimischen Norden des Landes. Vor Beginn der Kolonialherrschaft hatten sich die lokalen Gesellschaften gegen die Eroberungsversuche und Sklavenraubzüge aus dem Norden gewehrt, wodurch das muslimische Kalifat von Sokoto im 19. Jahrhundert ein Staat im modernen Sinn entstanden war. Die britischen Kolonialherren, die Nigeria Anfang des 20. Jahrhundert vollständig unter ihre Kontrolle brachten, beließen die strenggläubigen aristokratischen Autoritäten im Norden des Landes im Amt, solange sie die britische Vorherrschaft anerkannten, und unterstellten ihnen sogar einige Gebiete im heutigen Middle Belt, die vor der Kolonialzeit eigenständig gewesen waren. Im Gebiet des heutigen Plateau-Staat siedelten die Briten muslimische Arbeiter aus dem Norden an, um die dortigen Zinnminen auszubeuten. Zudem wanderten wegen der zunehmenden Versteppung des Nordens immer mehr muslimische Viehhalter ein. Dies war jedoch lange Zeit kein Problem, da große fruchtbare Landstriche unbesiedelt gewesen waren.
Als Nigeria mit der Unabhängigkeit 1960 in drei weitgehend autonome Regionen aufgeteilt wurde, fiel der Middle Belt vollständig zur nördlichen Einflusssphäre, die von der alten muslimischen Elite autoritär dominiert wurde. Doch da angesichts der muslimischen Dominanz und unter dem Einfluss europäischer Missionare große Teile der Bevölkerung zum christlichen Glauben konvertiert waren, wehrten sich die lokalen Eliten gegen diese »Fremdherrschaft«. Die verschiedenen Militärdiktaturen in Nigeria gaben dem Druck schließlich nach und teilten das Land in Bundesstaaten ein. Insbesondere der heutige zivile Präsident Obasanjo trieb die Föderalisierung als Militärdiktator Ende der siebziger Jahre voran.
Die Einführung immer kleinerer Verwaltungseinheiten entschärfte die Konflikte nicht, sondern regionalisierte sie. Nach der Unabhängigkeit Nigerias waren die lokalen Administrationen nie demokratisiert worden, sondern blieben durch das in der Kolonialherrschaft eingeführte System so genannter traditioneller Chiefs auf ethnischer Basis dominiert. Die MigrantInnen aus dem Norden konnten deshalb, obwohl ihre Familien teilweise seit einhundert Jahren ansässig waren, politisch nicht partizipieren. Da insbesondere der Zugang zu Land nicht auf individuellen Besitztiteln gründete, sondern auf kommunaler Basis von den Chiefs verwaltet wurde, war die Lage der Migrantnnen und ihrer Nachfahren prekär. Während unbewirtschaftetes Land im Middle Belt lange Zeit von niemandem beansprucht wurde und deshalb von den Viehherden der muslimischen Einwanderer ohne Einspruch der Chiefs beweidet werden konnte, ist es heute wegen der zunehmenden Knappheit höchst umstritten.
Eine zivile Diktatur?
Als im März diesen Jahres die ersten von einer zivilen Zentralregierung durchgeführten Lokalwahlen seit 1960 durchgeführt wurden, entluden sich die latenten Konflikte in Gewalt. Für die muslimischen BewohnerInnen mit migrantischem Hintergrund ergab sich nun die Möglichkeit, politischen Einfluss zu nehmen, während die sich als »indigen« betrachtende Bevölkerung um ihre politische Macht und die Verfügung über Agrarland fürchtete. Der nach den Auseinandersetzungen von Präsident Obasanjo entmachtete Gouverneur des Bundesstaats, Joshua Dariye, soll in diesem Zusammenhang »nicht-indigenen« BewohnerInnen des Staats empfohlen haben, Plateau zu verlassen. Dementsprechend begründete Obasanjo die Absetzung Dariyes damit, dass dieser sich nicht für Versöhnung eingesetzt habe, angesichts der Gewalt untätig geblieben sei und sich zu oft auf Auslandsreisen befunden habe. Wie der Newsletter »Africa Confidential« lakonisch anmerkte, sind dies allerdings die gleichen Vorwürfe, die von der Opposition gegen Obasanjo selbst erhoben werden. Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka sprach angesichts der Erklärung des Ausnahmezustands in Plateau sogar von einer »zivilen Diktatur, die an Faschismus grenzt«. Seit Obasanjos Machtantritt als ziviler gewählter Präsident im Jahr 1999 sind die kommunalen Konflikte im gesamten Land eskaliert. 10.000 Menschen sind dabei bereits umgekommen, ohne dass die Zentralregierung geeignete Schritte zur Befriedung unternommen hätte. Während sich im südöstlichen ölreichen Niger-Delta lokale Gruppen unter ethnischen Vorzeichen Kämpfe um ökonomische Ressourcen liefern (siehe iz3w 274), finden die Konflikte im Middle Belt und im Norden des Landes vor allem zwischen haussa-sprachigen Muslimen und diversen Nicht-Muslimen statt. Angesichts der Einführung der Scharia in zwölf muslimisch dominierten Bundesstaaten im Norden und der dortigen Verfolgung von mehrheitlich christlichen MigrantInnen greifen inzwischen auch die christlichen Kirchen zunehmend in die Politik ein.
Obasanjo, selbst ein engagierter Baptist, kann die Interpretation der kommunalen Gewalt als religiöser Konflikt nicht gefallen. Bislang dominierten außerhalb des muslimischen Nordens vor allem ethnische Identitäten die politischen Auseinandersetzungen, während Glaubensfragen als Privatsache galten. Inzwischen stilisieren die in der Christian Association of Nigeria (CAN) vereinten Kirchen die Auseinandersetzungen immer mehr zu einem Glaubenskrieg. Als der CAN-Vorsitzende in Plateau die Absetzung des christlichen Gouverneurs durch Obasanjo als einseitiges Eingreifen kritisierte, nannte der Präsident den Geistlichen einen »Idiot«. Daraufhin verlangte der landesweite CAN-Vorsitzende, der anglikanische Bischof Peter Akinola, dass auch im Bundesstaat Kano der Ausnahmezustand verhängt werden sollte. »Kano hat den Plan, Nicht-Muslime bei der kleinsten Gelegenheit auszurotten, mit allem Nachdruck verfolgt«, behauptete Akinola. In Kano, der größten Stadt im Norden und einem der geistlichen Zentren des Islam, war es bereits mehrmals zu Ausschreitungen gegen christliche MigrantInnen gekommen. Auch nach den Auseinandersetzungen im Bundesstaat Plateau wurden in Kano bei Racheakten mehrere Dutzend Personen ermordet.
Islamismus statt Demokratie
Vor allem die sukzessive Einführung des islamischen Scharia-Rechts in den nördlichen Staaten - das von Obasanjos Regierung geduldet wurde, obgleich es nicht verfassungskonform ist - hat die christlichen Kirchen aufgebracht. Die Scharia ist unter Muslimen in Nordnigeria vor allem wegen der endemischen Kriminalität und Korruption populär, auch wenn den dort herrschenden Eliten inzwischen vorgeworfen wird, das strenge Recht einseitig zu ihren eigenen Gunsten auszulegen. Doch im Norden, der kaum über demokratische Erfahrungen noch über genügend freie Medien verfügt, gibt es keine nennenswerte säkulare Zivilgesellschaft. Die dortigen politischen Auseinandersetzungen sind seit langem mit dem Streit über Glaubensfragen verquickt, und die wichtigsten Oppositionsbewegungen gegenüber den dominanten Eliten taten sich immer durch eine noch strengere Auslegung des Koran hervor. Die Tötung von drei Islamisten in Jos im Dezember durch Polizeikräfte, die Benennung eines Stadtviertels in Jos nach Usama bin Laden, aber auch Überfälle von zweihundert sich selbst als »Taliban« bezeichnenden Freischärlern auf Polizeistationen an der Grenze zu Niger im Januar sind Zeichen für die Ausbreitung des islamistischen Fundamentalismus in Nordnigeria.
Inzwischen schlossen sich auch einige muslimische Politiker der von Bürgerrechtlern aus dem Süden seit langem erhobenen Forderung nach Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung an. Die geltende Verfassung wurde von der letzten Militärdiktatur unter Ausschluss der Öffentlichkeit verfasst. Die geforderte verfassungsgebende Versammlung - die von der Regierung Obasanjo abgelehnt wird - soll das Verhältnis zwischen den staatlichen Organen und den einzelnen Bürgern, aber auch zu den Religionen und Ethnien neu definieren und möglicherweise zu einer administrativen Neuaufteilung des Landes führen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob durch eine neue Verfassung ein Grundkonsens über die nigerianische Staatlichkeit hergestellt werden kann - oder ob sich das Land damit einem Bürgerkrieg und potenzieller Spaltung weiter nähert.
Alex Veit ist Afrikanist und freier Autor in Berlin.
erschienen in: iz3w 278, Freiburg 2004
Sierra Leone: Ungerechter Frieden
Eine Bilanz der humanitären Intervention in Sierra Leone
Vor zwei Jahren beendete ein militärischer Einsatz von UN-Truppen den Bürgerkrieg in Sierra Leone vorläufig. Das Ende der Kampfhandlungen war für die von elf Jahren Kriegszustand zerrüttete Bevölkerung eine große Erleichterung. Doch die Konditionen des Friedens wurden weitgehend von außen bestimmt. Zudem werden bei der Vergangenheitsbewältigung die Ursachen des Krieges in Sierra Leone und anderen »failed states« ausgeblendet.
von Anne Jung
In Sierra Leone sind die »Menschen ohne Hände« zum lebenden Symbol für den Krieg geworden. 20.000 Menschen haben die von Mitgliedern der sierra-leonischen Rebellenorganisation RUF (Revolutionary United Front), aber auch von Truppen der Regierungsarmee verübten Verstümmelungen im Vorfeld der Wahlen von 1999 überlebt. Heute, zwei Jahre nach dem von der UN forcierten Friedensabkommen, leben die Amputierten meist in Camps und sind so aus dem Blickfeld der restlichen Bevölkerung geraten.
Juso Jaka ist einer von ihnen. Die RUF hackte ihm während eines Überfalls auf sein Dorf beide Hände ab. Er wird für den Rest seines Lebens von fremder Hilfe abhängig sein. Jaka ist heute der Leiter einer Selbsthilfeorganisation, die War-Affected Amputees Association. Als erste Maßnahme verbot die Organisation das unerlaubte Fotografieren im Camp. »Zoo« wird der Ort von den Amputierten selbstironisch genannt, denn allzu oft wurde das Camp als Fotostudio für internationale Politikerreisen missbraucht. Verbessert hat sich die Lage der Menschen dadurch nicht. Die Bewohner werden medizinisch nur unzureichend versorgt. Auch die Chance, ihr Leben außerhalb des Camps selbst zu organisieren, bleibt ihnen meist versagt. Die Amputees Association möchte daher öffentlich über Kriegsverbrechen sprechen, sichtbar sein, Demonstrationen organisieren, auch um die Vorurteile gegen die Betroffenen abzubauen. Doch wo kann ein Anfang gemacht werden? Die Mitglieder haben weder Büro, Computer noch Internetzugang. Solche Hilfen sind bei den meisten internationalen Organisationen nicht vorgesehen. Der fehlende politische Wille, den Menschen in kriegszerstörten Gesellschaften ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, offenbart das Dilemma von Hilfsorganisationen ebenso wie das der UN und anderer externer Akteure.
Weitreichende Generalamnestie
Sierra Leone befand sich elf Jahre lang im Bürgerkrieg. Mindestens 75.000 der fünf Millionen EinwohnerInnen wurden während des Krieges zwischen der RUF und der sierra-leonischen Armee getötet. Mehr als 10.000 Kinder waren aktiv an Kampfhandlungen beteiligt, mindestens 50.000 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt oder als Sklavinnen für sexuelle Dienstleistungen entführt. Finanziert wurde der Krieg mit den Erlösen aus dem Diamantenhandel.
Für die Beendigung der Kampfhandlungen sorgten bis zu 20.000 UN-Soldaten im bislang größten UN-Einsatz sowie nigerianische ECOMOG-Truppen1, die den Friedensvertrag aushandelten und die Demobilisierung der Kombattanten überwachten. Die Bevölkerung war bei diesem Prozess nicht aktiv beteiligt, auch wenn es vereinzelt zu Friedensdemonstrationen kam und im Vorfeld Kriegsmüdigkeit festzustellen war. Daher wurde die Beendigung des Krieges vom Großteil der Bevölkerung als Prozess von außen wahrgenommen, ebenso die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen.
In Sierra Leone gibt es zwei Ansätze, um die Gräuel gesellschaftlich und juristisch in den Griff zu bekommen - und beide greifen zu kurz. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) kam auf Druck der UN zustande und nahm im Juli 2002 ihre Arbeit auf. Nach südafrikanischem Vorbild ist es ihre Aufgabe, die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges zu dokumentieren, den Opfern ein Forum zu geben und die Täter sichtbar zu machen. Die Kommission ist finanziell schlecht ausgestattet, nur 3,5 Millionen US-Dollar wurden ihr zur Verfügung gestellt. Parallel zur TRC richtete die UN einen special court unter US-amerikanischem Vorsitz ein (Etat 50 Millionen US-Dollar), vor dem sich neun der größten Kriegsverbrecher zu verantworten haben. Für alle übrigen Täter wurde eine Generalamnestie beschlossen. Für die Bevölkerung war es schwer zu ertragen, dass so viele Täter ungeschoren davonkamen, wie Shellac Sonny-Davis, eine lokale NGO-Mitarbeiterin, bestätigt: »Wir wussten, dass der Frieden nur durch absolute Unterwerfung unter die Forderungen der Täter zustande kommt. Wir haben die Straflosigkeit hingenommen. Für die Freiheit, nicht weiter vergewaltigt, vertrieben, verstümmelt und ermordet zu werden, müssen wir den Schmerz eines ungerechten Friedens ertragen.«
Den Vorsitz der TRC hat der sierra-leonische Bischof Humper, der bei seiner Arbeit von einheimischen Kräften, UN-Mitarbeitern, ehemaligen Mitarbeitern der südafrikanischen TRC sowie Fachleuten aus Europa und den USA unterstützt wird. Die Anhörungen in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones und Heimat nahezu der Hälfte der Gesamtbevölkerung, wurden von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Das Publikum beschränkte sich meist auf ausländische Beobachter. Die Vorbereitungszeit der Kommission war kurz, schon drei Monate nach Kriegsende begannen die Befragungen (in Südafrika hat die Vorbereitung auf die TRC mehrere Jahre in Anspruch genommen). Gespart wurde vor allem bei der Kommunikation mit der Bevölkerung, die nur unzureichend über die Rahmenbedingungen der Anhörungen und deren rechtliche Stellung informiert wurde. Weder zum Geständnis noch zur Bezeugung glaubhafter Reue aufgefordert, beschweigen, verdrehen oder verleugnen die Täter, was geschehen ist und stellen sich als Fahrer oder Funker dar, die an Kampfhandlungen und Überfällen gar nicht beteiligt waren. Andere Täter schweigen aus Sorge, zum special court überführt zu werden.
Versöhnung um jeden Preis?
Die Anhörungen der TRC in den verschiedenen Provinzen des kleinen westafrikanischen Landes endeten mit einem Versöhnungs-Ritual. Die Täter legten sich vor der Kommission und den anwesenden traditionellen Führern auf den Boden und baten die Gemeinde um Verzeihung. Bei den besser besuchten Anhörungen in Magburaka im nördlichen Bezirk Tonkolili, wo sich das ehemalige Hauptquartier der RUF befand, blieben die Opfer, die in den Tagen zuvor über das geschehene Unrecht berichtet hatten, dem Ritual fern. Offenbar sahen die Betroffenen die Anhörungen nicht als ihren Ort der Versöhnung an. Schon vor dem Start der TRC hatte Bischof Humper angekündigt, Ziel der TRC sei zu »vergessen und vergeben.« Gewaltopfer wurden nicht gefragt, ob sie zur Vergebung bereit seien - oder ob sie das überhaupt wollten. Dabei ist Vergebung eine unhintergehbar individuelle Angelegenheit und allein Sache der Betroffenen. Das schematische Vorgehen der Kommission birgt daher die Gefahr einer erneuten Traumatisierung der Opfer. Der Eindruck drängt sich auf, dass in Sierra Leone Versöhnung um jeden Preis erreicht werden soll. In Kürze wird die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegen, auch um den Ansprüchen der Geldgeber gerecht zu werden. »Doch was macht«, fragt Yasmin Yuso-Sheriff, eine Anwältin aus Freetown, die in den ersten Monaten Kommissarin bei der TRC war, »eine Gesellschaft mit einer Analphabetenrate von 60 % mit einem schriftlichen Abschlussbericht? Stattdessen sollten die Ergebnisse des Berichtes in anderer Form in die Gemeinden zurückgetragen werden«. Und es bedürfte finanzieller Mittel, um die Folgen der Verbrechen in den Communities zu verarbeiten, sie aktiv in den Friedensprozess einzubinden. Daran wurde seitens der UN nicht gedacht. »Die Menschen waren zu lange ausgeschlossen, um jetzt die Regie übernehmen zu können«, stellt Yusu-Sheriff resigniert fest.
Dennoch bemühen sich lokale Initiativen wie die Truth and Reconciliation Working Group weiter darum, den Versöhnungsprozess von "unten" zu organisieren und eine Entwicklung in Gang zu bringen, die den Überlebenden und den Gemeinden hilft, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Dies muss auf einer Anerkennung des Leids und der entstandenen Schäden beruhen. Die Perspektive für eine Versöhnung besteht für sie in einem langfristig angelegten Heilungsprozess durch enge Kooperation mit der Bevölkerung. Doch für die UN und die Regierung ist die Versöhnung offenbar kein Prozess, sondern ein Ereignis, das per TRC möglichst schnell und kostengünstig durchgeführt werden soll.
Ein eigentlich selbstverständliches Anliegen der Amputierten ist ihre Entschädigung. Doch weder die TRC noch die Regierung sehen diese vor. »Reparationen sind ein Zeichen der Entschuldung seitens des Täters«, so Juso Jaka in einer Ansprache vor der TRC. »Diese symbolische und konkrete Handlung gibt uns darüber hinaus Hoffnung, dass der Täter nicht noch ein weiteres Mal ein solches Unrecht begeht. Reparationen sind wie ein Verband, wie Medizin, die hilft, die Schmerzen des Opfers zu verringern.« Die Amputees Association fordert die Einrichtung eines Kriegsopferfonds, aus dem die Amputierten und andere Opfergruppen Entschädigungen bekommen. Ein Prozentsatz der Einkünfte des Diamantenhandels soll das finanzieren. Doch die Chancen dafür stehen schlecht. Nach wie vor sind die Täter des Bürgerkriegs besser gestellt als die Opfer. Das spiegelt sich in den Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen der UN und zahlreicher internationaler Hilfsorganisationen wider. Zur Stabilisierung des Friedens müssen die Täter ihrer Ansicht nach umgehend eine neue Beschäftigung erhalten, damit sie nicht wieder zu den Waffen greifen. Für die Unterstützung der Opfer sind dagegen bislang zu wenig Strukturen geschaffen worden. Einige der Opfer haben sich sogar als Täter ausgegeben, um z.B. einen Ausbildungsplatz zu erhalten.
Keine Friedensdiamanten
Der Einsatz der UN wird in der öffentlichen Debatte als politischer Erfolg bewertet. Ausgeblendet wird dabei jedoch die Frage nach den Ursachen des Krieges in Sierra Leone und anderen afrikanischen Ländern. Sierra Leone erlangte erst nach 150 Jahren kolonialer Herrschaft am 27. April 1961 die offizielle Unabhängigkeit. Die dreißig Jahre bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs waren vor allem von Militärumstürzen, Korruption und Wahlbetrug gekennzeichnet. Die koloniale Ausbeutung führte zur Fragmentierung gesellschaftlicher Strukturen: ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, hohe Arbeitslosigkeit, Analphabetentum und Militarisierung. So entstand ein gesellschaftliches Klima, das den Ausbruch des Krieges im Jahr 1991 stark begünstigte.
Der spätere liberianische Präsident Charles Taylor war der wichtigste Partner der RUF. Er kaufte den Rebellen Diamanten ab, die sich später auf den Märkten Europas wiederfanden. Taylor wurde zudem über viele Jahre von den USA alimentiert. Fallengelassen wurde er erst, als herauskam, dass er Diamanten auch an Al-Qaida verkauft hatte. Ohne den florierenden Handel mit internationalen Konzernen wäre der Krieg in dieser Form nicht führbar gewesen. Daher hält Abu Brima, Direktor des Network Movement for Justice and Development in Freetown, die Kontrolle über die Diamantengebiete, die sich nahezu über das ganze Land erstrecken, für den kriegsentscheidenden Faktor.
Mit dem Ende des Krieges hat sich an den ökonomischen Bedingungen wenig verändert, aus »Konfliktdiamanten« sind keine »Friedensdiamanten« geworden. Sierra Leone ist laut UNDP das ärmste Land der Welt. Weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene besteht Interesse daran, den Reichtum des Landes gerechter zu verteilen, geschweige denn die Arbeitsbedingungen für die Minenarbeiter zu verbessern - dies würde den Profit mindern. Der Großteil des erwirtschafteten Reichtums verlässt das Land gen Europa.
Dies verweist darauf, dass die Kriege in Sierra Leone und anderen afrikanischen Ländern im Kontext der parallelen Prozesse von Integration und Exklusion und nach dem Muster der »ausschließenden Globalisierung« (Denis Horman) zu interpretieren sind. In vielen Ländern Afrikas ist ein Großteil der Bevölkerung weder als Produzent noch als Konsument vorgesehen, sondern ökonomisch »überflüssig«. Die wenigen arbeitskraftintensiven Bereiche sind extremer Ausbeutung unterworfen, wie z.B. die Diamantenindustrie. In politischer Hinsicht werden diese Länder als gescheiterte oder zerfallene Staaten (failed states) charakterisiert und Somalia, Sierra Leone oder Liberia sogar als »prämoderne Zonen« bezeichnet. Diese Zuschreibung ist unzutreffend, handelt es sich doch vielmehr um eine komplexe Neuorganisierung politischer Ordnungssysteme, in der die Interessen der lokalen Eliten, der Warlords und Militärs mit denen der internationalen Akteure wie Nachbarstaaten, Konzernen und Entwicklungshilfe-Organisationen ausbalanciert werden.
Liberale Protektorate
Um zu verhindern, dass von diesen Zonen in Form massenhafter Migration oder Terrorismus Bedrohungen für den Wohlstand der übrigen Welt ausgehen, sei, so z.B. Tony Blairs ehemaliger außenpolitischer Berater Robert Cooper, eine neue »postmoderne« oder liberale Form des Imperialismus geboten. Er soll durch »humanitäre Interventionen« die verlorene Staatsfunktion wiederherstellen. In diese Richtung weist auch ein Grundsatzpapier der grünen Staatssekretärin im BMZ, Uschi Eid, und des GTZ-Mitarbeiters Helmut Asche: »Viele Länder Afrikas sind in internationale Netzwerke des Drogen- und Waffenhandels, des Diamantenschmuggels, der Schlepperbanden von Flüchtlingen sowie womöglich der Terrorunterstützung eingebunden. Diese Netzwerke können nur wirksam bekämpft werden, wenn der Westen sich künftig weit stärker für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Prosperität einsetzt. Der islamisch geprägte Krisengürtel... setzt sich südlich der Sahara fort«.2
Cooper geht in seiner Argumentation noch weiter: Früher habe man vormoderne Staaten kolonisiert, »heute gibt es keine Kolonialmächte mehr, die diese Aufgaben übernehmen wollen, obwohl die Möglichkeiten, vielleicht sogar die Notwendigkeiten für eine Kolonisierung genauso groß wie im 19. Jahrhundert sind«. Politisch akzeptabel sei diese neue Form des Imperialismus zur Schaffung »liberaler Protektorate« deshalb, weil es um die Durchsetzung von Menschenrechten und kosmopolitischen Werten gehe.
Auch der deutsche Politikwissenschafter Ulrich Menzel folgt dieser Logik. Ziel sei es, durch Wiederherstellung eines staatlichen Gewaltmonopols die Voraussetzung zu schaffen, in diesen Ländern funktionierende Volkswirtschaften herzustellen.3 Dabei blenden Menzel wie Cooper aus, dass der globalisierte Kapitalismus die Herausbildung funktionierender, mithin global konkurrenzfähiger Volkswirtschaften außerhalb des Kreises der bereits »entwickelten« Staaten gar nicht mehr zulässt. Selbst in China, Indien und den meisten ex-sozialistischen Staaten bleibt »Entwicklung« auf ausgewählte Archipele beschränkt, die von wachsenden Zonen sozialer Verwüstung umgeben werden, an denen nur noch ein sehr eingeschränktes Interesse besteht. Der Ausschluss immer größer werdender Teile der Welt ist insofern ein systemimmanenter »Kollateralschaden« des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Diese Entwicklung hat erhebliche Folgen für Hilfsorganisationen: Ihre Anliegen wie Prävention, Hilfe zur Selbsthilfe, Entwicklung, Solidarität oder Menschenrechte werden entwertet, während die im Sinne Menzels und Coopers für die »Wiederherstellung staatlichen Gewaltmonopols« streitenden Militärs die Rolle der lebensrettenden Kavallerie des Westens zugesprochen bekommen.
Das »humanitäre Interventionsregime« in Sierra Leone widerlegt diese These nicht. Die Frage bleibt, ob die weltweite kapitalistische Arbeitsteilung für arme Länder überhaupt eine Perspektive bietet. Auch Hilfswerke sollten nicht vergessen, dass ›failed states‹ nicht isoliert in Gewalt versinken, sondern ihre Tragödie sich in ständiger Verbindung zum internationalen Staaten- und Wirtschaftssystem abspielt.
Anmerkungen
- Die ECOMOG (Economic Community Monitoring Group) ist der militärische Flügel der ECOWAS (Economic Community of West African States). Die ECOMOG-Truppen kooperierten teilweise mit der UN, waren aber auch im Alleingang tätig und verübten dabei Menschenrechtsverletzungen. [back]
- vgl. Uschi Eid/Helmut Asche: Deutsche Interessen und Pflichten in Afrika. In: epd-Entwicklungspolitik 22/2003 [back]
- vgl. Ulrich Menzel 2003: Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays [back]
Anne Jung arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung der Frankfurter Hilfsorganisation medico international.
erschienen in: iz3w 277, Freiburg 2004
Somalia: Telefonitis in Somalia
von Harun Hassan
Somalia gilt als ärmstes Land der Welt. Laut UN leben 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das durch Bürgerkriege zerrüttete Land ist weitestgehend von internationaler Hilfe abgeschnitten und den Launen marodierender Warlords und Milizen unterworfen. Doch eines scheint in diesem ruinierten Land zu funktionieren - das Telefonsystem. Für ein Land, das nicht mal eine eigene Regierung hat, weist Somalia eine unglaublich gut entwickelte Telefonindustrie auf, die fortgeschrittener ist als in den meisten anderen afrikanischen Ländern.
Das Wachstum der Telefonindustrie begann in den frühen 90er Jahren, als viele Somalis nach jahrelangen Auslandsaufenthalten zurückkehrten und ihre Devisen in das somalische Telefonsystem investierten, das zu diesem Zeitpunkt durch den Krieg nahezu völlig zerstört war. Rückkehrer aus Norwegen installierten mit Hilfe des norwegischen Telefongiganten TELENOR eine auf Satelliten basierende Telefonverbindung. Somalis, die aus den USA und den Golf-Staaten zurückkamen, errichteten mit Unterstützung der amerikanischen Firma Starlight Communication einen satellitengestützten Gateway, der innerhalb weniger Jahre zu einem Multimillionengeschäft wurde.
Die Preise für Telefonanrufe in ein beliebiges Land der Welt sanken kontinuierlich auf nunmehr 0,5 US-Dollar (ein Rückgang um ca. 90 Prozent in den letzten 9 Jahren). Telefonieren in Somalia ist heute billiger als in den meisten seiner weitaus weniger armen Nachbarländer. Der Telefonboom hat auch ein email-basiertes Finanzsystem hervorgebracht, das es den Somalis im Ausland ermöglicht, trotz des Chaos Geld sicher und einfach nach Hause zu senden. Laut UN überweisen Exil-Somalis jedes Jahr 500 Millionen Dollar.
Aber nur die Hälfte der Bevölkerung hat Verwandte im Ausland, die Geld überweisen, und erst recht haben nicht alle einen Zugang zum Telefonsystem. Vor allem ländliche Gegenden bleiben marginalisiert. Die meisten Telekommunikationsfirmen sind in der Hauptstadt Mogadischu angesiedelt, wo am meisten Geld zu holen ist. Die Unternehmen wollen nicht in Städte wie Kismaio investieren, die als Brennpunkte des anhaltenden Konfliktes gelten. Sie fürchten um ihre Sicherheit. Außerdem gibt es noch immer keine formale Regierung, welche die wachsende Telefonindustrie regulieren oder bei ihr Steuern eintreiben könnte. So verlässt fast jeder erwirtschaftete Dollar Somalia wieder.
Übersetzung und Bearbeitung: Daniela Röß
erschienen in: iz3w 272, Freiburg 2003
Südafrika: Das Ende der Unsichtbarkeit
Eine Frauengewerkschaft in Südafrika
In der südafrikanischen Hafenstadt Durban ist etwas Seltenes entstanden: eine Gewerkschaft ohne Männer, die Straßenhändlerinnen vertreten will. Und trotz zahlreicher Schwierigkeiten wird ihr allmählich immer größere gesellschaftliche Anerkennung zuteil.
von Birgit Morgenrath
Hunderte Sammeltaxis, Züge und Busse transportieren täglich einen Strom von Schwarzen in die Stadt hinein und in die Townships hinaus. Im »Warwick Triangle«, dem Supermarkt der Armen am Rande des Stadtzentrums sitzt Zodwa Khumalo, um ihre kleingehackten Rinden, Knollen und Wurzeln anzubieten. Die 55-jährige spielt an diesem Platz eine besondere Rolle. Sie kümmert sich um ihre Kolleginnen, und die suchen ihren Rat. Viele Frauen arbeiten nicht nur auf den Bürgersteigen, sondern sie leben auch dort. Tag und Nacht.
Zodwas Zuhause ist ein Wohncontainer im Township Kha Makhutha, ohne Strom- und Wasseranschluß. Das Klagen ist jedoch Zodwas Sache nicht. Fünf Frauen warten auf sie. Auf einem Tisch haben sie Selbstgenähtes ausgebreitet. »Die Frauen haben keinen Platz, um ihre Ware zu verkaufen. Sie müssen von Haus zu Haus gehen. Wir kämpfen jetzt dafür, daß ein Marktplatz angelegt wird.« »Wir«, das sind die Frauen der »Self Employed Women's Union«, SEWU. Wenn diese fünf Näherinnen noch weitere fünf Frauen finden, können Sie eine Ortsgruppe bilden.
Zodwa Khumalo ist seit 1983 Mitglied der SEWU, einer Gewerkschaft, die »survivalists« organisiert - Frauen also, die als Straßenhändlerinnen, Näherinnen, Friseusen, Telefonistinnen und Imbißverkäuferinnen ums tägliche Überleben kämpfen. Viele sind mit ihrem Schicksal unzufrieden aber mißtrauisch gegenüber Hilfsangeboten. Nur die Hartnäckigkeit der SEWU-Werberin nötigte Zodwa schließlich Respekt ab. »Ich bin mit meiner Nachbarin ins SEWU-Büro gegangen. Die haben uns die Satzung gezeigt und alles erklärt, und dann bin ich beigetreten. Ich war die erste Verkäuferin hier aus der Russellstreet und habe die anderen Mitglieder geworben.«
Mittlerweile sind es 300 Frauen, die Zodwa Khumalo davon überzeugt hat, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen, und daß eine Gewerkschaft ohne Männer viele Vorteile hat. »Die reden so viel«, meint sie, »sie schneiden den Frauen das Wort ab. Wenn nur Frauen zusammen sind, dann tauschen wir uns aus.«
Empowerment für survivalists
Die SEWU-Frauen setzten sich nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen wie überdachte Marktstände ein: »Empowerment« ist das Hauptziel. Die Gewerkschaft bietet den Frauen Aus- und Fortbildung an - etwa wie man mit Stadträten verhandelt. Die Mitglieder können sich auch handwerklich ausbilden lassen, überwiegend in Fertigkeiten, die nicht frauentypisch sind. Damit Frauen aus dem informellen Sektor solche Angebote überhaupt wahrnehmen können, müssen die Kurse in den einheimischen Sprachen abgehalten werden; sie müssen als Teilzeitbeschäftigung angeboten werden, weil keine ihren Arbeitsplatz mehr als zwei Tage verwaist lassen kann; sie müssen eine Kinderbetreuung bieten; schließlich müssen die Frauen mit Geduld und Respekt behandelt werden. SEWU beachtet diese eigentlich selbstverständlichen, aber häufig vernachlässigten Voraussetzungen für eine fruchtbare Interessenvertretung der Survivalists. Dennoch ist es keine leichte Sache, die Survivalists zu organisieren. Viele Frauen unterliegen dem ›normalen‹ patriarchalen Druck, finden sich mit ihrer Unsichtbarkeit ab und verharren im Privaten. Obwohl sie wirtschaftlich tätig werden und den Lebensunterhalt ganzer Familien verdienen. Darüberhinaus sind die bestehenden Zusammenschlüsse der Straßenhändler von Männern dominiert. Mit der Folge, daß die wesentlichen Probleme der Frauen gar nicht behandelt werden und einen sehr niedrigen Status haben.
Kommen und gehen
SEWU ist zwar auf Expansionskurs: Seit der Gründung Ende 1994 sind rund 1500 Frauen beigetreten, und inzwischen arbeiten zwölf Festangestellte in drei regionalen und einem nationalen Büro der Gewerkschaft. Dennoch wurden wichtige Ziele nicht erreicht. Vor allem, daß SEWU noch nicht finanziell unabhängig und auf Gelder internationaler Geber angewiesen ist - meist Gewerkschaften aus Holland und Skandinavien. Ein wichtiger Grund für die zu geringen Einnahmen ist die hohe Fluktuation der Mitglieder. Überlebenskämpferinnen fällt es nun mal schwer, ihre Beiträge regelmäßig zu bezahlen. Auch die Gründung einer SEWU-eigenen Kreditgenossenschaft ist bislang an den fehlenden Einzahlungen gescheitert. Viele Frauen führen überhaupt kein Konto, womit sie etwa Daueraufträge einrichten könnten. Häufig werden die kleinen Sparerinnen von den Banken nicht akzeptiert. Hier muß die Gewerkschaft verhandeln. So wie es die indische Schwestergewerkschaft SEWA vorexerziert hat, die nun schon beim Eintritt des neuen Mitgliedes die Angabe der Kontonummer verlangen kann. »Wenn wir daran scheitern, Frauen zu einem Schlüsselfaktor der Wirtschaft zu machen, wird unsere gesamte Wirtschaftspolitik scheitern«, sagte Südafrikas Wirtschaftsminister Alec Erwin im November letzten Jahres. Nur dadurch sei Gleichheit in einer ehemals höchst gespaltenen Gesellschaft zu erlangen. SEWU kann bestätigen, daß die südafrikanische Regierung es ernst meint. Zumindest auf dem Papier. »Der informelle Sektor hat inzwischen ein höheres öffentliches Profil erreicht«, sagt Pat Horn, Gründerin der SEWU (siehe iz3w 212). Nach nun vier Jahren werde die Frauengewerkschaft jetzt als Modell und als Vertreterin der Survivalists sowohl von der Regierung, als auch in den Medien anerkannt.
Birgit Morgenrath arbeitet im Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln.
erschienen in: iz3w 230, Freiburg 1998
Südafrika: Kap in guter Hoffnung
Südafrika und die wirtschaftliche Integration der Region
In einer kleinen Reihe zum Verhältnis von Globalisierung und Regionalisierung beschäftigten wir uns bisher mit Wachstumsdreiecken in Südostasien (Nr.220), Regionalismus in Afrika (221) und dem Europa der Regionen (222). Oftmals sind die sich im Zuge der ökonomischen Globalisierung zusammenschließenden, als Wachstumsräume postulierten Regionen von einem starken wirtschaftlichen Machtgefälle zwischen den einzelnen Staaten geprägt. Das gilt etwa für die Verflechtungen in Ost- und Südostasien, für die NAFTA und auch für das südliche Afrika, wo die Republik Südafrika die Entwicklung der Region dominiert.
von Bernhard von der Haar
Mit dem Ende der Isolation Südafrikas verbindet sich in internationalen Wirtschaftskreisen die Hoffnung, ganz Afrika könne Anschluß an die Weltwirtschaft finden. Seit dem Beitritt Südafrikas zur Southern African Development Community (SADC) wird insbesondere diesem regionalen Wirtschaftsbund eine Lokomotivfunktion für die wachstumsorientierte Integration der Region in die Globalisierungsprozesse zugetraut.
Die Wachtumsraten der Volkswirtschaften im südlichen Afrika können tatsächlich Anlaß zu solchen Erwartungen geben. Erstmalig seit zwei Jahrzehnten konnten alle zwölf SADC-Staaten 1996 ein positives Wirtschaftswachstum verzeichnen.1 Ebenso wie die Strukturanpassungsauflagen des IWF zwingt mittlerweile der Expansionskurs der neuen Regionalmacht Südafrika auch die eher planwirtschaftlich und staatsinterventionistisch strukturierten Volkswirtschaften der Region zu einer wachstumsorientierten, tendenziell neoliberalen und investorfreundlicheren Wirtschaftspolitik.
Der regionale Wirtschaftsgigant Südafrika ist nach einer kurzen keynesianischen Phase (RDP; vgl. iz3w Nr. 212) auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs geschwenkt. Einschneidende wirtschaftspolitische Maßnahmen verdeutlichen das Bestreben, sich im internationalen Kampf um Investoren und benötigte Kapitalzuflüsse zu behaupten: Devisenbeschränkungen wurden abgeschafft, Zollbestimmungen gelockert und die Körperschaftssteuer von 48% auf 35% gesenkt. Um Investitionen zu erleichtern, räumt Südafrika heute umfangreiche Abschreibungsmöglichkeiten und Exportanreize ein. Außerdem werden Großinvestoren, die mehr als 3 Millionen Rand (1,2 Mill. DM) anlegen, mit einer Steuerbefreiung von bis zu sechs Jahren belohnt. Mit dieser Marktöffnung konnten zwar Beschäftigungsziele nicht erreicht werden und das Wirtschaftswachstum fiel mit nur noch 0,3% im dritten Quartal'97 äußerst enttäuschend aus, jedoch führte die Konsolidierungspolitik zu investorfreundlichen Eckdaten: Die Inflation ist mit einer Rate von 7,5% (Oktober 1997) niedrig, das Defizit des Staatshaushaltes relativ gering und der Handelsüberschuß konnte mit knapp 25 Mrd. Rand 1997 innerhalb eines Jahres verdoppelt werden (RSA 2000, Südafrikanische Botschaft Bonn, 11/97).
Trotz dieser Entwicklung und einer guten Kapitalrendite von 20-24% wird laut Aussage von Weltbankpräsident James Wolfensohn die Attraktivität des Produktionsstandorts Südafrika derzeit noch unterschätzt. Diejenigen »global players« jedoch, die auch während der Apartheidjahre ihre Produktion in Südafrika aufrechterhielten und bereits über Zweigwerke in Südafrika verfügen, beziehen diese Standorte seit der Marktöffnung zunehmend in ihr globales Unternehmenskalkül ein. Volkswagen Südafrika beispielsweise exportierte bereits 1995 27.000 Golfs an China (Auftragsvolumen: 750 Mill. Rand) und erhielt kürzlich einen Exportauftrag für die Lieferung weiterer 5.000 Autos an Großbritannien. Ähnliches ist von den Mercedes-Benz Werken in East-London (Südafrika) zu vermelden, die im November 1997 120 Exemplare des Modells C180 in Australien absetzten und das Exportvolumen auf 6.000 Einheiten pro Jahr steigern wollen (ebd. 11/97). Jürgen Schrempp, Daimler-Chef und Vorsitzender der »Initiative Südliches Afrika der Deutschen Wirtschaft«, erklärte gar, daß das südliche Afrika ein ebenso dynamisches Wachstumspotential wie Asien in sich berge.
Frontstaaten zu Marktstätten
Die Rolle Südafrikas als Wachstums- und Entwicklungsmotor für die Region ist aber vielschichtig und umstritten. Schließlich wurde der Vorläufer der SADC, die Southern African Development Coordination Conference (SADCC), 1980 gerade mit dem Ziel gegründet, durch einen wirtschaftspolitischen Verbund der damaligen »Frontstaaten«2 die politischen und ökonomischen Abhängigkeiten vom Apartheidsstaat Südafrika abzubauen. Allerdings gab es entgegen aller Rhetorik auf dem afrikanischen Kontinent wohl keinen einzigen Staat, der während dieser Periode die Wirtschaftsbeziehungen zu Südafrika vollständig eingefroren hätte. Unter anderem trugen ausgerechnet die internationalen Sanktionsmaßnahmen zu einer steigenden Ausrichtung Südafrikas auf afrikanische Märkte bei: Als insbesondere durch den Boykott auf den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten der südafrikanische Produktionsstandort empfindlich getroffen wurde, konnten wichtige Investitionen und Rationalisierungsmaßnahmen nicht hinreichend getätigt werden. So gingen die Innovationswellen, die die Weltökonomie in den 70er und 80er Jahre erfaßten, an Südafrika weitgehend vorbei. Angesichts des schleichenden Verlusts an Konkurrenzfähigkeit ab Mitte der 80er Jahre wurde das übrige Afrika ein zunehmend wichtiger Markt für das auf den stark umkämpften Weltmärkten nicht mehr absetzbare südafrikanische Warensortiment (vgl. iz3w Nr. 194).
Nach der Demokratisierung und dem uneingeschränkten Bekenntnis Südafrikas zur Marktwirtschaft erhielt das Land binnen weniger Monate Zutritt zu den wichtigsten internationalen politischen Organisationen und Wirtschaftsverbänden. Auch das ehemalige Frontstaatenbündnis mußte sich infolge des politischen Wandels in Südafrika umorientieren und versteht sich seither als eine mehr oder minder lockere Staatengemeinschaft, die eine Nutzenoptimierung der regionalen Wirtschaftspotentiale zum Gewinn aller Mitgliedsländer anstrebt. Nach dem Vorbild anderer Wirtschaftbündnisse, wie der EU, der NAFTA oder den ASEAN-Staaten, wird ein harmonisierter Wirtschaftsraum beschworen; und es ist das primäre Ziel der SADC, die Kapitalkraft zu bündeln, den regionalen Binnenmarkt zu vergrößern und makroökonomische Stabilität herzustellen. Konkret wird für das Wirtschaftsbündnis im südlichen Afrika die Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes bis zum Jahr 2004 angestrebt.
Diesem gleichberechtigten und egalitären Anspruch steht die Realität gravierender Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle sowie erheblicher nationalstaatlicher Eigeninteressen innerhalb der SADC-Region entgegen. Das fängt bei der Infrastruktur an: Transport- und Kommunikationsbedingungen sind mangelhaft, die Zollabfertigung innerhalb der Region gilt als kompliziert und schleppend, und einige Staaten verlangen von den Bürgern anderer SADC-Staaten weiterhin Visa bei der Einreise. Auch die Finanzmärkte sind völlig unkoordiniert. Die dennoch stattfindende Liberalisierung der Handelsbeziehungen hat zudem die Konkurrenzsituation in der ganzen Region verschärft. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Südafrika und einzelnen ehemaligen Frontstaaten gelten als angespannt. Während Südafrika durch teilweise hohe Importzölle (Textilien) und nicht tarifäre Handelsrestriktionen (Fleischprodukte) versucht, die einheimischen Produzenten vor ausländischer Konkurrenz zu schützen, wird - so der Vorwurf - die Region der SADC als Absatzmarkt für südafrikanische Waren mißbraucht; dort ansässige Produzenten werden aus dem Markt verdrängt und die bestehenden Ungleichgewichte in der Region zementiert oder gar weiter verstärkt.
Ein Hegemon und seine Satelliten
Die zum Beitrittszeitpunkt Südafrikas (August 1994) oft gestellte Frage »Wer tritt eigentlich wem bei? Südafrika der SADC oder die SADC Südafrika?« ist somit weiter berechtigt. Die Perspektive des gemeinsamen Binnenmarktes löst bei den potentiell unterlegenen und halbindustrialisierten Ländern auch Vereinnahmungsängste aus. Dies erscheint begründet, denn die wirtschaftliche Dominanz Südafrikas im südlichen Afrika ist frappierend, und der schnelle Eintritt in das Geschehen der Region hat deren Machtgefüge gründlich verändert. Gegenwärtig erwirtschaftet Südafrika mit einer geschätzen Wirtschaftsleistung (BSP) von 130 Mrd. US-Dollar (1996) fast die Hälfte des gesamten Sozialproduktes Afrikas südlich der Sahara bzw. das Fünffache sämtlicher anderer SADC-Mitgliedsstaaten zusammen. Zimbabwe, bis zum Beitritt Südafrikas stärkste Wirtschaftsmacht innerhalb der SADC, erscheint mit einem BSP von 5,4 Mrd. US-Dollar (1994) neben dem Wirtschaftsgiganten Südafrika wie ein ökonomischer Winzling.
Die zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen in der Region sind gegenwärtig nicht nur ungleich intensiver als vor dem Beitritt Südafrikas, sondern auch von einer grundsätzlich neuen Qualität: Beschränkten sie sich für Südafrika vor der Wende primär auf die Ausfuhr von Waren und die Einfuhr von Arbeitskräften, so sind es heute vor allem der südafrikanische Kapitalexport, Direktinvestitionen und Firmenbeteiligungen, die in den Wirtschaftsblättern von sich Reden machen. Allen voran sei in diesem Zusammenhang der südafrikanische Brauereiverbund ›South African Breweries‹ (SAB) genannt, der weltweit fünftgrößte Brauereikonzern. In den letzten Jahren hat sich SAB mit 14 Mio. US-Dollar erfolgreich in Mosambik eingekauft und hält heute 65% an den zwei Brauereikonzernen in Beira und Maputo. In Tanzania besitzt SAB bereits 46% an der ›Tanzania Brewery Company‹ und steht derzeitig mit der ugandischen ›Nil Brewery‹ in Verhandlungen, die 60% des nationalen Biermarktes beliefert. Noch weiter nördlich, in der Nähe Nairobis, entsteht unter der Beteiligung von SAB eine gigantische Großbrauerei mit einem veranschlagten Wert von 4,5 Mio. US-Dollar, und auch der namibianischen Regierung ist der Vorschlag unterbreitet worden, im Norden des Landes eine Großbrauerei im Wert von 2,5 Mio. Dollar zu errichten. Weitere Direktinvestionen in die Nachbarregionen sind geplant, und entsprechende Verhandlungen werden gegenwärtig mit den Regierungen Angolas und Äthiopiens geführt.
Aber nicht nur SAB, sondern insbesondere die mächtigen Minenkonzerne Südafrikas, wie z.B. die ›Anglo-American Corporation‹, haben ihre Fühler in die Nachbarregion ausgestreckt. Ein geringeres Lohnniveau, keine schlagkräftigen Gewerkschaftsverbände, Steuervergünstigungen und weitgehend unberührte Rohstoffvorkommen verheißen eine gesicherte Rendite. Allein im letzten Jahr investierte die ›Anglo American Corporation‹ 82,4 Mio. Dollar in Zimbabwe und plant innerhalb der nächsten fünf Jahre weitere Ausgaben in Höhe von ingesamt 380 Millionen. In Mali soll nach einer bereits getätigten Investitionen von 300 Mio. Dollar das Sadiola-Goldschürfprojekt noch in diesem Jahr anlaufen und zehn Tonnen Gold über die nächsten zwölf Jahre erbringen. Von südafrikanischer Seite als auch von den Regierungen der Zielländer wird die Ausdehnung südafrikanischer Firmeninteressen prinzipiell begrüßt. Dabei zeigt das Engagement der finanzkräftigen Investoren auch deutliche Schattenseiten: Auf der Suche nach günstigeren auswärtigen Investitionsbedingungen wurde etwa im Minensektor die Beschäftigung in Südafrika mehr und mehr abgebaut. Standen vor einem Jahrzehnt noch 534.000 Menschen auf der Lohnliste der Goldminen, so ist diese Zahl inzwischen auf 337.000 Beschäftigte abgesunken. Bei einer Arbeitslosigkeit von über 40% in Südafrika herrscht innerhalb der um die Interessen ihrer Mitglieder besorgten Arbeitnehmerverbände wenig Verständnis für das Engagement des nationalen Kapitals auf fernen Märkten.
Ein Hauch von weiter Welt
Eine weitere Konsequenz der offenen Grenzen und des enormen Reallohngefälles innerhalb der SADC-Region ist der Zustrom arbeitsuchender Menschen nach Südafrika aus dessen Nachbarländern. Den Immigranten bleibt in ihrer recht- und schutzlosen Situation kaum etwas anderes übrig, als die ihnen angebotenen Arbeitskonditionen zu akzeptieren; so arbeiten sie z.B. in der südafrikanischen Landwirtschaft für teilweise weniger als 50 Pfennig pro Tag. Vor dem Hintergrund der ohnehin katastrophalen Arbeitsbedingungen und der extremen Arbeitslosigkeit entlädt sich die Frustration und die Hoffnungslosigkeit der südafrikanischen Bevölkerung immer häufiger gegen die Einwanderungsgruppen.
Aber auch in den Nachbarländern wird die zunehmende Verflechtung des Wirtschaftsraums mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen. Besonders die lokalen Unternehmer in den ärmeren Nachbarstaaten sehen sich den südafrikanischen Multis hilflos ausgesetzt, da diese mit ihrer immensen Kapitaldecke Märkte besetzen und deren Preise diktieren können. Das jüngste Beispiel für diesen Trend stammt aus dem von Bürgerkriegen zerstörten Mosambik, wo die südafrikanische Handelskette Shoprite für 7 Mio. US-Dollar einen nach südafrikanischem Vorbild ausgestatteten Supermarkt eröffnete - das erste neue Gebäude in der Hauptstadt Maputo seit 20 Jahren. Die Eröffnung, die sowohl von südafrikanischer wie auch von mosambikanischer Seite als sichtbarer Ausdruck des Wiederaufbaus frenetisch gefeiert wurde, war aus der Sicht Antonio Barcas, Präsident des Wirtschaftsverbandes Maputos, ein rabenschwarzer Tag. Zahlreiche Vergünstigungen und Ausnahmeregelungen, wie die Befreiung von Import- und Verkaufssteuer für das Inventar und für das erste - weitgehend aus Südafrika importierte - Warenangebot sowie die auf die ersten zwei Jahre um 50% ermässigte Unternehmenssteuer verdrängen die mosambikanischen Importeure. Allein für die Erorberung des mosambikanischen Marktes durch insgeamt 10 Großmärkte hat Shoprite 60 Mio. Dollar eingeplant - eine Summe, die die Ausgaben für Erziehung und Gesundheit in Mosambik für das Jahr 1995 um fast ein Drittel übersteigt. Von Shoprite bereits getätigten Investitionen in Namibia, Lesotho, Swaziland, Sambia und Malawi soll bald der Aufbau eines flächendeckenden Netzwerkes folgen, welches zusätzlich Angola, Botswana, Zimbabwe, Uganda, Ruanda, Burundi, Kenia und Tanzania umfassen wird. Die Höhe der Gesamtinvestitionen südafrikanischer Firmen in Mosambik ist nicht bekannt, aber alleine die elf kapitalintensivsten Vorhaben (Maputo Corridors Projekt, Aluminium-, Eisenverarbeitung, Stromerzeugung), belaufen sich auf eine Gesamtinvestitionssumme von über 4,2 Mrd Dollar, das dreifache des Bruttosozialprodukts Mosambiks im Jahr 1994 (UN-Bericht über die Menschliche Entwicklung 1997, S.231).
Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich in Zimbabwe ab, wo bereits 1995 die übermächtige südafrikanische Konkurrenz zum Konkurs des zimbabwischen Textilunternehmens ›Cone Textiles‹ führte und 6.000 Menschen ihre Arbeit verloren. Derzeit drängen die in Zimbabwe neu entstehenden Läden der südafrikanischen Clicks und CNA-Schreibwarenkette die alteingesessenen Kingsgate-Buchläden langsam aus dem Markt. Verglichen mit dem kosmopolitisch-modernen Ambiente der CNA-Läden, die mit ihrem ausdifferenzierten Warenangebot und der Musikberieselung einen Hauch von »erster Welt« vermitteln, wirken die zimbabwischen Kingsgate-Läden provinziell, alt und verstaubt. Ob im Einzelhandel, im Minengeschäft oder im Tourismusbereich - Südafrika tritt derzeit als siebtgrößter Investor in Zimbabwe auf. Angesichts der Größenverhältnisse und der damit verbundenen Verhandlungsmacht überrascht es nicht, daß hier die weltgewandten südafrikanischen Firmenvertreter bisweilen als belehrend oder überheblich wahrgenommen werden und hinter dem "Marktimperialismus" nach Niedergang des Apartheidssystems zuweilen die letzte Bastion des burischen Aggressors vermutet wird.
Die Durchdringung Afrikas mit südafrikanischem Kapital ist aber weniger den strategischen Interessen Einzelner als vielmehr der universellen Suche nach neuen Märkten und guten Investitionsbedingungen geschuldet. In dem Maße, in dem sich die südafrikanische Wirtschaft nach der Wende den Anforderungen einer interdependenten, liberalisierten Weltwirtschaft stellen muß, in dem Maße versuchen südafrikanische Firmen, ihre Geschäftsinteressen in den noch weniger entwickelten Nachbarstaaten zu realisieren. Vermittelt durch Südafrika setzt sich in der gesamten Region schlicht das Diktat der Globalisierung fort...
Nachtrag: Auch wenn die Größenverhältnisse im südlichen Afrika beeindrucken und an Südafrika die Hoffnung auf einer Lokomotive für das restliche Afrika herangetragen wird, so ist das Land nach Einschätzung des südafrikanischen Wirtschaftsmagazins ›Southern African Economist‹ auf dem internationalen Parkett wiederum »nicht mehr als eine Ameise auf einem Feld voller Elefanten«. Tatsächlich entspricht die oben erwähnte Wirtschaftsleistung von 130 Mrd US-Dollar (1996) gerade einmal etwas mehr als der Hälfte des Bruttosozialprodukts Belgiens (228 Mrd). Die Großmacht Südafrika ist in ihrer Wirtschaftskraft dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen unterlegen und wesentlich weniger in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen integriert. Auch die vielgepriesene hochentwickelte Infrastruktur der Region relativiert sich im internationalen
Vergleich: Das gesamte südliche Afrika einschließlich Südafrikas verfügt über weniger als die Hälfte der Telefonanschlüsse, die gegenwärtig allein in Hong Kong bestehen.
Anmerkungen
- Inzwischen hat die SADC mit Angola, Botswana, DR Kongo, Lesotho, Malawi, Mauritius, Mosambik, Namibia, Sambia, Seychellen, Simbabwe, Südafrika, Swasiland und Tansania 14 Mitglieder. Die genannten statistischen Wachstumsraten eines Großteils dieser Staaten müssen allerdings angesichts eines geringen Ausgangsniveaus und außerordentlich guter landwirtschaftlicher Erträge der letzten Jahre relativiert werden.
- Gründungsmitglieder der SADCC waren Angola, Botswana, Lesotho, Malawi, Mosambik, Namibia, Sambia, Simbabwe und Tansania.
Bernhard von der Haar ist Wissenschaftler in der Abteilung Entwicklungssoziologie der FU Berlin und war zuletzt im Herbst 1997 in Südafrika.
erschienen in: iz3w 227, Freiburg 1998
Südafrika: Waschen, schneiden, legen?
Pluralismus, Zensur und Anpassung in der neuen Medienlandschaft
von Birgit Morgenrath
In den 80er Jahren, als in den brennenden Townships von Kapstadt der Ausnahmezustand herrschte, brachten ein paar Leute Kassetten mit politischen Reden und Musik unters Volk. Unzensierte Information und Volksbildung waren ihre Ziele. Auch heute noch fühlen sich die Mitarbeiter von »Bush Radio«, dem ehemaligen Untergrund-Radio, ihrer »community« verpflichtet - den Unterprivilegierten in den »Cape Flats«, den Wohngebieten der Schwarzen und »Farbigen« im Osten Kapstadts. Bush Radio ist eines von rund 100 Community Radios, die bei der Unabhängigen Radiobehörde in Johannesburg Lizenzen beantragen können. Bisher halten sich die meisten noch mit Spenden über Wasser. Sie sind ein Zeichen des »neuen« demokratischen Südafrika und stehen für die Beteiligung der Bevölkerung an der Entwicklung des Landes. Man schätzt, dass sie bislang rund zwei Millionen Hörer und Hörerinnen haben.
Das sind allerdings nur zehn Prozent der Hörerschaft, die die 22 Stationen der Southafrican Broadcasting Corporation, SABC, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erreichen. Früher wurde dieser als Staats- und Apartheid-Funk boykottiert, heute werden die Mitglieder des Rundfunkrates vom Parlament öffentlich angehört und vom Staatspräsidenten ernannt. Doch der Sender steht auch heute noch unter dem Einfluß der Politik. Das mag nicht einmal Chris Vick vom Presseamt der Regierung leugnen. Im Gegenteil. »Für uns ist das ziemlich nützlich,« sagt er. »Wenn man eine Botschaft an 23 Millionen Südafrikaner verbreiten will, dann geht man zur SABC und sagt denen: ›Sendet das bitte‹ - und sie tun es!« Ähnliche Regierungsnähe wird dem SABC-Fernsehen nachgesagt. Minister versuchten, ihre Mitteilungen direkt über die Redaktionen zu lancieren. Laura Pollecutt vom unabhängigen Institut für Meinungsfreiheit, FXI, das früher Anti-Zensur-Kampagnen organisierte, erzählt von empörten Berichten der Redakteure über regierungshörige »Kräfte«. Der Abschlussbericht einer internen Untersuchung habe aber alle Verdächtigen von dem Versuch freigesprochen, die Redaktionen zu beeinflussen.
Die privaten kommerziellen Medien stellen keine ernsthafte Konkurrenz dar. Nur wenige der 16 privaten Radios sind heute so engagiert wie etwa »Radio 702« in seinen Anfängen. Seit Anfang der 80er Jahre opponierte es vom Gebiet des »unabhängigen« Homelands Boputhatswana aus gegen die Apartheid. Menschen aller Hautfarben legten bei »702« Platten auf. Darum nannte sich der Sender »Rainbow-Station«, lange bevor Nelson Mandela den Begriff für die südafrikanische Nation entdeckte.
Während sich die Radio- und Fernsehlandschaft - im üblichen privatwirtschaftlichen Rahmen - ausdifferenziert, ist die Presse noch immer von Monopolen beherrscht. Viele einst vom Ausland finanzierte alternative Blätter sind nach dem Ende der Apartheid wegen Geldmangels eingestellt worden. Mit wenigen Ausnahmen, wie die ehemalige »Weekly Mail«. Die »Mail«, berühmt wegen ihrer zahlreichen Enthüllungen über die Verbrechen der Apartheid, konnte ihre Unabhängigkeit bewahren: Sie muss keinen Profit machen. Denn sie gehört zu 72 Prozent dem britischen Guardian, der seinerseits von der Scott-Stiftung finanziert wird, die die Unabhängigkeit von Medien in vielen Commonwealth-Staaten fördert. Mit der gleichen Härte wie früher untersucht die »Mail«, ob die ANC-Regierung ihre Wahlversprechen erfüllt und enthüllt Fälle von Korruption oder Misswirtschaft. Die ANC-geführte Regierung jedoch verlangt Loyalität. Rehana Rossouw, die stellvertretende Chefredakteurin, lacht: »Wir nennen das ›the Big Sulk‹ - das große Schmollen.« Weniger Kritik hat die südafrikanische Regierung von den beiden großen Presse-Monopolen zu befürchten. Die Zeitungen des Rohstoff-Konzerns Anglo American wurden zum Teil in die »schwarzen Hände« der Times-Gruppe unter dem ehemaligen ANC-Politiker Cyril Ramaphosa gegeben. Der größere Teil ging an den Independent-Verlag des Iren Tony O'Reilly. Über 70 Prozent der englischsprachigen südafrikanischen Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 3,3 Millionen sind jetzt in O'Reillys Hand. Bei den anderen Medien ist ausländische Beteiligung auf 20 Prozent beschränkt. Barry Streek, früher bei der »Independent«-Zeitung »Cape Times«, meint, der irische Verlag sähe seine Rolle darin, »das neue Südafrika nicht ins Wanken zu bringen«. Der größte Teil der englischsprachigen Presse betreibe Verlautbarungs-Journalismus. Wahrscheinlich befürchte O'Reilly, die Regierung werde bei unbotmäßigen Artikeln seiner Zeitungen südafrikanische Anteile an seinem Imperium fordern. Chris Vick, heute beim südafrikanischen Presseamt und früher selbst kritischer Journalist, erzählt, Mandela habe bei einigen Treffen den Chefredakteuren »den Kopf gewaschen«, danach hätten sie sich nicht mehr getraut »den Präsidenten zu brüskieren«.
Verantwortlich für die unkritische Berichterstattung ist auch die schlechte Ausbildung der Journalisten. Viele erfahrene (weiße) Journalisten und (schwarze) Nachwuchskräfte sind auf besser bezahlte Jobs in Verwaltung und Wirtschaft gewechselt, andere wurden entlassen. Die meisten leitenden Redakteure sind weiterhin konservativ, weiß und männlich. Nach einem Bericht der südafrikanischen Menschenrechtskommission über Rassismus in den Medien werden auch immer noch die Klischees bedient, Schwarze seien kriminell, irrational und inkompetent. Leider berief sich der Bericht auf einige sehr dubiose Beispiele. Die Presse lehnte den Befund daher fast einhellig ab und bezichtigte ihrerseits die der Regierung unterstellte Menschenrechtskommission eines Angriffs auf die Pressefreiheit.
Birgit Morgenrath, Rheinisches JournalistInnenbüro, arbeitet für Hörfunk und Presse zum südlichen Afrika.
erschienen in: iz3w 244, Freiburg 2000
Sudan: Massenmord im Land der Fur
Ursachen der humanitären Katastrophe im Sudan
Bereits am 23. April 2004 erklärte der UN-Nothilfekoordinator für den Sudan, Jan Egeland: »Das schlimmste humanitäre Drama der Welt spielt sich zur Zeit weder im Irak noch in den palästinensischen Territorien ab, sondern in Darfur.« Bis heute hat sich die Lage im Westsudan und im angrenzenden Tschad nicht wesentlich verbessert. Worauf beruht die Eskalation der Gewalt?
von Thomas Schmidinger
Seit Anfang 2004 sind hunderttausende BewohnerInnen der westsudanesischen Provinz Darfur in den benachbarten Tschad geflüchtet und dort vollkommen von der Hilfe internationaler Hilfsorganisationen abhängig. Insbesondere die bäuerliche Bevölkerung der Fur - nach der die Provinz benannt ist - und der Zaghawah wurde in den letzten Monaten Opfer systematischer Vertreibungen und Massaker. Ganze Dörfer werden von regierungsnahen arabischen Janjawid-Milizen ausgelöscht.
Die Repression im Westsudan verschärfte sich, seit sich im Februar 2003 die Darfur Liberation Front (DLF), die sich im März 2003 in Sudan Liberation Movement (SLM) und Sudan Liberation Army (SLA) umbenannte, gegen die systematische Marginalisierung der nichtarabischen Bevölkerung durch das islamistische Militärregime in Khartoum zur Wehr zu setzen begann. Der sudanesische Präsident Umar al-Bashir schloss von Anfang an alle Verhandlungen mit den Rebellen aus. In der ersten Jahreshälfte 2003 konnte die SLA dann einige spektakuläre militärische Erfolge verbuchen. Die kurzfristige Eroberung der Provinzhauptstadt Al-Fasher wurde von der SLM mit der Gesprächsverweigerung des Militärregimes begründet.
Der Aufstand der SLA, zu der sich Anfang 2004 mit dem Justice and Equality Movement (JEM) eine zweite Rebellenbewegung gesellte, kam nicht überraschend. Bereits im Sommer 2001 äußerten Vertreter der verbotenen Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei in Khartoum dem Autor gegenüber ihre Sorge vor einer »Somalisierung« des Landes, sollte die Regierung nicht bald ihre systematische Marginalisierung der ethnischen Minderheiten des Landes beenden und entschiedene Schritte zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation der Randgebiete des Sudan setzen. Keiner der damaligen GesprächspartnerInnen glaubte jedoch daran, dass das Militärregime freiwillig etwas in diese Richtung unternehmen würde.
Militante Arabisierung...
Das aus der islamistischen Muslim-Bruderschaft hervorgegangene Regime Umar al-Bashirs betreibt eine militante Arabisierungspolitik, der selbst die islamischen nichtarabischen Minderheiten des Landes ausgesetzt sind. Diese Politik führte schon vor 2003 zu Spannungen im Westen und Osten des Landes. Selbst im Norden klagten Angehörige der nubischen Minderheit, deren Territorium durch einen geplanten Staudamm am Nil bedroht ist, über ihre Behandlung als StaatsbürgerInnen zweiter Klasse. Verschärft wurde diese Lage durch die ökologische Krise am Südrand der Sahara. Selbst geringe Temperaturerhöhungen führen dort zu einer rasanten Ausbreitung der Wüste. Die Wasserknappheit hatte bereits Ende der 90er Jahre blutige Konflikte zwischen nichtarabischen Bauerngesellschaften und arabischen Nomaden zur Folge. Durch die Ausrüstung letzterer mit modernen Waffen, die ihnen teilweise bereits Mitte der 80er Jahre die demokratisch gewählte Regierung Sadiq al-Mahdis zukommen ließ, fanden im Westen des Landes immer wieder kleinere Massaker statt, die von der Regierung kaum eingedämmt wurden. Zwar liegt die Verantwortung für die derzeitige Eskalation primär beim islamistischen Militärregime. Doch blicken die zahlreichen Regionalkonflikte des Sudan auf eine lange Geschichte zurück. Letztlich geht die ökonomische und politische Spaltung des Landes bis auf die anglo-ägyptische Kolonialherrschaft zurück, die selektiv für eine wirtschaftliche Entwicklung der Zentren im Nordsudan und über das System der »indirect rule« für eine (Re-)Tribalisierung des Sudan sorgte. Wo keine »Stämme« nach Vorstellung der Briten existierten, wurden einfach Stammesstrukturen geschaffen. Der Südsudan wurde unter christlichen Missionsgesellschaften aufgeteilt. Nordsudanesen durften den Süden nur mit Sondergenehmigungen betreten. Der so abgeschlossene Südsudan konnte weder ökonomisch noch im Bereich der Bildung mit dem Norden konkurrieren.
Darfur konnte bis 1916 seine Unabhängigkeit bewahren. Dem unabhängigen Sultanat der Fur wurde erst sein Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands und des Osmanischen Reiches zum Verhängnis. Das Land wurde als Provinz annektiert. Für die neuen Kolonialherren blieb das schwer zu erreichende Land jedoch ökonomisch uninteressant.
Bis zu Beginn der 50er Jahre befürworteten Teile der Kolonialmacht die Errichtung zweier Staaten auf dem Territorium des heutigen Sudan und forcierten die Anglisierung des Südsudans. Als klar wurde, dass der Sudan 1956 als ökonomisch, kulturell und politisch gespaltenes Land gemeinsam in die Unabhängigkeit gehen würde, begannen im Süden schon vor der Unabhängigkeit Kampfhandlungen. Damit wurde ein Bürgerkrieg losgetreten, der erst 1972 mit einem Autonomieabkommen für den Südsudan endete. Das Abkommen von Militärdiktator Numayri mit den Rebellen litt jedoch von Anfang an unter Demokratiemangel auf nationalstaatlicher Ebene und an den teilweise ethnisierten Rivalitäten südsudanesischer Akteure. Diese wurden vom Regime genutzt, um 1983 das Autonomiegebiet in drei Teile aufzuteilen und damit den Süden zu schwächen. Dies sowie die Einführung der »Septembergesetze«, die den Sudan in einen »islamischen Staat« gemäß Numayris Vorstellungen verwandeln sollten, führten noch im selben Jahr zum Wiederaufleben der Kämpfe. Mit der ethnisch-tribalen Anya Nya II und der ursprünglich marxistischen SPLA traten zwei neue Guerillabewegungen auf den Plan. Die SPLA ist trotz mehrerer Spaltungen bis heute der wichtigste politische und militärische Akteur im südsudanesischen Bürgerkrieg.
Nach dem Sturz Numayris 1985, dem eine kurze demokratische Periode folgte, dauerte der Bürgerkrieg an. Die neue konservative Regierung in Khartoum unter Sadiq al-Mahdi und die SPLA konnten sich nicht auf ein Ende der Kampfhandlungen einigen. Arabisierte Nomadenstämme, die meist unter dem Namen Baggara zusammengefasst wurden und bereits zuvor mit den sesshaften Bauernbevölkerungen des Südens, den Bergbauern in den Nuba-Bergen und der ebenfalls bäuerlichen Bevölkerung Darfurs um Weideplätze und Wasserstellen konkurrierten, wurden derweil zunehmend zu einer bewaffneten Bedrohung für die nichtarabischen Bauern. Die »Septembergesetze« Numayris, die in der Endphase der Militärdiktatur zu zahlreichen Hinrichtungen und Strafen wie Amputationen und Auspeitschungen geführt hatten, wurden von der demokratischen Regierung nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt. Die Menschenrechtslage verschlechterte sich Ende der 80er Jahre sogar wieder.
...und lukrative Geschäfte
Als endlich eine Friedenslösung in greifbarer Nähe schien und als Vorbedingung dafür die »Septembergesetze« abgeschafft werden sollten, putschten sich im Juni 1989 islamistische Militärs an die Macht. Damit rückte ein Friedensvertrag wieder in weite Ferne. Insbesondere in den ersten Jahren der Militärdiktatur - hinter der eine sudanesische Abspaltung der Muslimbrüder, die Nationale Islamische Front Hasan al-Turabis, die Fäden zog - kam es auch im Norden zu einer Repressionswelle gegen KommunistInnen, DemokratInnen, GewerkschafterInnen, Feministinnen und VertreterInnen ethnischer Minderheiten. Das neue Regime unterstützte sowohl das irakische Regime als auch islamistische Gruppierungen in der gesamten islamischen Welt (siehe iz3w 260). Mitte der 90er Jahre hielt sich Osama bin Laden längere Zeit im Sudan auf, wo seine Firma al-Hijra Construction and Development Co. Ltd. Großaufträge wie die Straßenverbindung von Khartoum nach Port Sudan erhielt.
Trotz dieser Zustände machten europäische und arabische Firmen insbesondere seit Beginn der Ölförderung gute Geschäfte mit dem Sudan, wie etwa der österreichische Ölkonzern OMV. Während die Mehrheit der sudanesischen Bevölkerung weiter verarmte, führte der »islamische Neoliberalismus« der Regierung zu makroökonomischen Erfolgen. Der IWF honorierte dies, indem er 1995 den Status des Sudan als »unkooperativ« aufhob. Ende der 90er konnte der Sudan erstmals seit über einem Jahrzehnt aus eigener Kraft die vereinbarten Zahlungen an den IWF begleichen. Erst unter dem Druck der USA wies der Sudan bin Laden schließlich aus und brach zumindest die offensichtlichsten Kontakte zu islamistischen Terrorgruppen ab. Schließlich fiel im Herbst 1999 der Chefideologe des Regimes, Hasan al-Turabi, einem internen Machtkampf zum Opfer und wurde als Parlamentspräsident abgesetzt und inhaftiert. Seither kontrollieren Militärs den Staat. Der dennoch zustande gekommene Waffenstillstand zwischen Regierung und SPLA seit Dezember 2003 ist ein Resultat des Drucks von außen und der langwierigen Verhandlungen während der letzten Jahre. Bisher konzentrierten sich diese jedoch primär auf die Aufteilung von Ressourcen und Einflusssphären zwischen der Regierung und der SPLA-Führung. Eine umfassende Demokratisierung des Landes, ohne die eine Friedenslösung nicht auskommt, findet bislang kaum statt. Zwar haben sich in jüngster Zeit die Möglichkeiten für nordsudanesische Oppositionelle etwas ausgeweitet, Verhaftungen unliebsamer Kritiker der Regimes sind jedoch weiterhin an der Tagesordnung.
Vorbild Ruanda?
Die Regierung nutzte seither die im Süden frei gewordenen militärischen Ressourcen, um diese in den Westsudan zu verlagern und die beiden Guerillaorganisationen in Darfur zu bekämpfen. Die schwelenden Konflikte im Westsudan konnten deshalb gerade durch den Friedensprozess im Südsudan eskalieren. Die Regierung wälzt dabei die Verantwortung für die schlimmsten Gewaltexzesse gegen die Zivilbevölkerung Darfurs auf die arabischen Janjawid-Milizen ab. Der Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, lässt sich von dieser Verschleierungstaktik jedoch nicht täuschen: »Die Janjawid können nicht länger einfach nur als von der sudanesischen Regierung unterstützte Milizen bezeichnet werden. Diese Milizen arbeiten ganz gezielt mit den Regierungstruppen zusammen und können zudem mit Straffreiheit für ihre Verbrechen rechnen.« Mittlerweile befürchten manche Menschenrechtsorganisationen eine Eskalation bis hin zum Völkermord nach ruandischem Vorbild. Ob die internationale Öffentlichkeit diesmal vor vollbrachter Tat einschreiten wird? Bislang wird die Bevölkerung Darfurs jedenfalls ausschließlich den humanitären Hilfsorganisationen überlassen. Von einem politischen oder gar militärischen Druck auf das Regime in Khartoum ist wenig zu spüren.
Thomas Schmidinger ist Redakteur der Zeitschrift Context XXI und Mitarbeiter der im Irak aktiven entwicklungspolitischen Organisation Wadi. Anfang 2004 erschien im Peter Lang Verlag sein Buch »ArbeiterInnenbewegung im Sudan«.
erschienen in: iz3w 278, Freiburg 2005
Uganda: Beeindruckender Fortschritt
Billiger Kaffee für Deutschland vertreibt arme Bauern in Uganda
Für die neue Plantage eines der weltweit größten Kaffeehandelsunternehmen, der Neumann Gruppe aus Hamburg, wurden im ugandischen Mubende vor drei Jahren 2.000 Menschen von der Armee vertrieben. Die Opfer bleiben bis heute ohne Entschädigung. Immerhin hat sie ihr Weg mit Hilfe der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN inzwischen bis in die Hamburger Konzernzentrale und in Berliner Ministerien geführt.
von Frank Braße
»Meine Eltern haben schon hier in Mubende gelebt. Wir hatten Vieh, Ziegen, Hühner, Schweine und 35 Rinder,« erinnert sich Anna Nandyose. »Es ging uns nicht schlecht, alle meine Kinder konnten zur Schule gehen. Seit dem 21. August 2001 haben wir alles verloren.« Die 19fache Großmutter ist betroffen, wenn sie über den Tag der Vertreibung berichtet. »Am Morgen kamen viele Soldaten in unser Dorf, sie waren bewaffnet, drangen in unsere Häuser ein, meine Möbel wurden auf die Straße geworfen, zertrampelt oder gestohlen. Wir hatten Angst und flohen in die Wälder, nachts hörten wir Schüsse.« Seitdem lebt Anna Nandyose am Rande der entstehenden Kaffeeplantage. Einige Kühe hatte sie wiedergefunden, sie starben aus Mangel an Futter. Ein Fleckchen Land, das sie bebaut, gibt kaum ausreichend Nahrungsmittel her. Die Regierung überlässt sie ihrem Schicksal. Anna versorgt ihre Enkel, überwiegend Waisen, da viele ihrer Eltern in Kampala an AIDS gestorben sind.
Der Fall Mubende, 144 Kilometer nordwestlich von Ugandas Hauptstadt Kampala gelegen, enthüllt beispielhaft die Dynamiken des internationalen Kaffeemarktes und die in die neoliberale Globalisierungsstrategie eingefügte Wirtschaftspolitik der Regierung Museveni. Uganda ist der siebtgrößte Kaffeeexporteur der Welt und bezieht 60 Prozent seiner Exporterlöse aus Kaffee. Der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt ist extrem niedrig, was mit zur problematischen Wirtschaftsentwicklung Ugandas beigetragen hat, obwohl das Land das Lieblingskind des Internationalen Währungsfonds und Paradebeispiel für die Entschuldungsinitiative HIPC ist.
Der Multi im Hintergrund
Die in Hamburg beheimatete Neumann Gruppe ist mit 46 Niederlassungen in 26 Ländern einer der größten Global Player im Kaffeegeschäft. Das Familienunternehmen ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, da es keine eigene Marke hat, sondern an Aldi, Tchibo und andere weiterverkauft. Die Neumann Gruppe bestreitet ein Drittel der Kaffeeimporte nach Deutschland, oft von eigenen Töchtern wie der Kaweri Coffee Plantation Ltd. in Mubende.
Ausländer dürfen in Uganda kein Land erwerben, nur pachten. Deshalb ließ der ugandische Staat das für die Plantage vorgesehene Areal räumen, allerdings ohne die eigenen, geschweige denn internationale Rechtsstandards zu beachten. Die Besitzverhältnisse in der Heimat von Anna Nandyose waren sehr unterschiedlich, teils umstritten und angesichts der historischen Rechtsformen unübersichtlich. Als die Regierung im Juni 2001 die Räumung für Ende August verkünden ließ, fühlten die Bauern sich davon nicht bedroht, legt das Landgesetz von 1998 doch fest, dass niemand ohne Entschädigung enteignet werden darf. Selbst unrechtmäßige Ansiedler dürfen nach 12 Jahren nicht vertrieben werden. Anfang August verkündete der Distriktverwalter, die Anwohner müssten nun schon Mitte des Monats gehen. Die Eile und Brutalität der Vertreibungsaktion wird verständlich, wenn man weiß, dass bereits am 24. August 2001 Ugandas Präsident Yoweri Museveni und Firmenchef Michael Neumann persönlich den Grundstein der Kaweri Kaffeeplantage legten. Da hätten sich protestierende AnwohnerInnen nicht gut gemacht.
Besuch der Vertriebenen
Für die ugandische Regierung ist die Neumann-Plantage ein Prestigeprojekt mit Modellcharakter für ihren »Modernisierungsplan für die Landwirtschaft« aus dem Jahr 2000, mit dem sie eine wettbewerbsfähige, exportorientierte Landwirtschaft anstrebt. Peter Kayiira, dem Leiter der Schule in Mubende, klingt das wie eine offene Drohung für andere landwirtschaftliche Gemeinden in den Ohren. »Dies war der erste Fall einer so brutalen Zwangsräumung in Uganda, weitere können folgen. Auch deshalb müssen wir dagegen kämpfen, dass dieser Fall einfach zu den Akten gelegt wird,« sagte er bei seinem Deutschlandbesuch im Mai 2004. FIAN hatte ihn und Anna Nandyose eingeladen. Beide zeigten sich vor der Rückreise sehr zufrieden. Sie sprachen mit Vertretern des Auswärtigen Amtes und Bundestagsabgeordneten von CDU und SPD. »Bis heute ist es uns nicht gelungen, mit dem Abgeordneten von Mubende auch nur ein Gespräch zu führen«, so Kayiira. Das faktische Einpaarteiensystem unter Museveni ist offenbar längst nicht so bürgernah, wie der seit 1986 regierende Präsident vorgibt.
»Unsere Hauptkritik richtet sich nicht gegen die Firma«, erläutert Peter Kayiira. »Doch die Vertreibung verstieß klar gegen das ugandische Gesetz. Das muss auch Herrn Neumann mit Scham erfüllen. Die Firma hat uns nun zugesichert, bei der Regierung für unsere Rechte vorstellig zu werden.« Bislang versuchten deren Anwälte in Uganda aber mit allen Mitteln, einen Prozess der Selbstorganisation der Vertriebenen gegen das Unternehmen zu verhindern. »Indem wir uns der natürlichen und sozialen Umwelt gegenüber verantwortlich verhalten, wollen wir als Modell für andere Landwirtschaftsunternehmen gesehen werden,« präsentiert sich demgegenüber das internationale Kaffeeunternehmen ganz modern. »An jedem Ort unserer Aktivitäten sollen wir als gute Geschäftsleute anerkannt werden, die faire Arbeitsmöglichkeiten anbieten und Respekt für das lokale Recht und die lokale Kultur zeigen.«
Die ugandische Gewerkschaft hat sich inzwischen über den mangelnden Zugang zur Plantage beklagt, im März kam es dort zu einem Streik. In Uganda gibt es nicht einmal einen gesetzlichen Mindestlohn wie in den meisten afrikanischen Staaten. Auffällig ist, wie schwer sich das Hamburger Familienunternehmen mit dem Dialog mit seinen Kritikern tut. Erst als Anna Nandyose und Peter Kayiira vor der Tür standen, wurde die Weigerung, sie zu empfangen, zurückgezogen. Sie haben den beiden Gästen, die von der Selbstorganisation der Vertriebenen zu dieser Reise delegiert worden waren, versprochen, für einen Runden Tisch mit allen drei beteiligten Gruppen - Opfer, Regierung und Unternehmen - einzutreten. Auf diesem Wege soll eine einvernehmliche Lösung für die menschliche Katastrophe in Mubende gefunden werden.
Die »Kaffeekrise« förderte offenbar das Engagement Neumanns in Uganda, wo die Ernte bislang fast ausschließlich von Kleinbauern eingefahren wird. Der Kaffeepreis ist seit 1970 kontinuierlich gefallen, für die hochwertige Arabica-Sorte um jährlich drei, für Robusta um fünf Prozent. Die Kaffeeunternehmen mischen immer mehr Robusta unter: So können immer neue Sonderangebote die Verbraucher erfreuen und die Kaffeemultis trotz - oder wegen? - der »Krise« durchgehend schwarze Zahlen schreiben. Die Kaweri Plantage in Mubende produziert Robusta, vermutlich preisgünstiger, zu einheitlicher Qualität und zuverlässiger verfügbar als die bisherigen kleinbäuerlichen Strukturen. Privatwirtschaftlich ein naheliegender Schritt, aus dem Blickwinkel der sozialen Menschenrechte allerdings ein Skandal.
Entwicklung gegen Menschenrechte
Skandalös ist auch, dass deutsche Ministerien einseitig die Neumann Gruppe und die ugandische Regierung unterstützen. »Der Lebensstandard im Einzugsbereich der Farm hat sich nach unserer Kenntnis stark verbessert,« schrieb das Auswärtige Amt an FIAN. Staatssekretär Stather vom BMZ äußerte sich ähnlich. Der Streit um Land und Entschädigung betreffe »einen innerugandischen Konflikt« (AA), in den sich die Bundesregierung offenbar nicht einmischen will. Stattdessen wird die ugandische Regierung im neuen Länderpapier (April 2004) des BMZ gelobt: »Besonders positiv hervorzuheben sind die beeindruckenden Fortschritte im Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Rechte.« Nicht ein einziges konkretes Beispiel wird hierfür angeführt, sondern nur hervorgehoben, dass »ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial in der Landwirtschaft [liege], in der durch stärkere Kommerzialisierung Einkommenssteigerungen erzielt und zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden können.« In diese Analyse passt die Neumann-Plantage ideal. Trotz der Zwangsvertreibungen erhielt sie im übrigen auch einen Millionenkredit der Afrikanischen Entwicklungsbank, die zur Weltbankgruppe gehört.
Die Parteinahme für Neumann zeigt, dass die Rechte auf Nahrung, Bildung und Gesundheit für das Auswärtige Amt offenbar ohne jede Bedeutung sind und beim BMZ nur noch in den Kategorien von neoliberalen Wirtschaftsreformen gedacht wird. Dabei sind die negativen Auswirkungen der Vertreibungen evident: Die Hilfsorganisation ActionAid Uganda hat mindestens fünf an Unterernährung verstorbene Kinder gezählt. Die Schule blieb für ein Jahr geschlossen und wurde danach in sehr viel schlechterer Ausstattung neu eröffnet. Eine Untersuchung der Makarere Universität in Kampala verzeichnete eine starke Zunahme von Durchfallerkrankungen, da die Vertriebenen sich nun aus ungesicherten Wasserquellen versorgen müssen. Medizinische Versorgung ist kaum mehr existent. Die Zerstörung gewachsener sozialer Strukturen und die Traumatisierung der Zwangsvertriebenen sind weitere Folgen. Der Firma Neumann waren von Anfang an die Auswirkungen der staatlichen Menschenrechtsverletzungen klar: Sie ließ nach der Vertreibung über die katholische Kirche Nahrungsmittel und Decken an die Opfer verteilen.
Zusätzliche Brisanz erhält der Konflikt durch das Bemühen der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz) und des Deutschen Kaffeeverbandes (in dem Neumann einflussreich ist), die Kaffeekrise mit einem internationalen Verhaltenskodex zur sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit abzufedern. Neben den Kaffeehändlern und Produzenten sind auch die Internationale Landarbeitergewerkschaft (IUF) sowie Oxfam, Greenpeace und FIAN an der Diskussion über die mögliche Ausgestaltung und Umsetzung eines solchen Kodex beteiligt. Ob hier ein Konsens aller Beteiligter erzielt werden kann, soll bis September 2004 entschieden werden. Vorgesehen ist, dass »Zwangsvertreibung« ein Ausschlusskriterium für die Beteiligung am Kodex-Prozess ist. Mit etwas Mut ließe sich daher am Fall Mubende in der Realität erproben, ob die Umsetzung von Sozialstandards und Menschenrechten mit der Ökonomie der Kaffeeindustrie in Einklang gebracht werden kann.
Frank Braßel ist freier Autor und Mitarbeiter von FIAN. Ein aktuelles Hintergrunddossier »Der Fall Mubende« ist für 4 Euro erhältlich bei FIAN e.V., Overwegstr. 31, 44625 Herne, Tel. 02323/490099; Fax: 02323/490018, info@fian.de
erschienen in: iz3w 278, Freiburg 2004
Zimbabwe: Schon vergessen?
Zimbabwe und die Kontinuität des Kolonialismus
von Jochen Müller
Genau 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von Zimbabwe lassen die Medien derzeit wenig Gutes an dem südafrikanischen Land - schon gar nicht an Präsident Robert Mugabe. Er habe die Landbesetzungen gefördert, denen jetzt weiße Farmer zum Opfer gefallen sind. Indem er den Rassenhass schüre, wolle er von der extremen sozialen Misere ablenken, in die er selbst das Land in den vergangenen Jahren geführt habe, und sich den Sieg bei den anstehenden Wahlen retten. Bilder einer aufgebrachten, brutal gegen weiße Farmer vorgehenden schwarzen Landbevölkerung untermalen diese Analysen.
Tatsächlich ist die Situation in Zimbabwe durch eine lange Misswirtschaft geprägt, die nicht zuletzt Mugabe zu verantworten hat. Tatsächlich auch zeichnet sich seine Führung durch eine zuletzt immer ausuferndere Korruption aus - viele der wenigen Begünstigten der sich nur schleppend bewegenden Landumverteilung sind Familienangehörige oder Kader der Staatspartei ZANU. Und tatsächlich wiegelt er die Landbevölkerung gegen »die Weißen« auf, denn erstmals ist sein Wahlsieg ernsthaft bedroht. Unter der Führung des Gewerkschaftlers Morgan Tsvangirai hat sich eine Oppositionsbewegung (MDC) konstituiert, die vor allem in den Städten Rückhalt hat. Sie wird von vielen Weißen im Lande unterstützt - u.a. weil sie sich gegen entschädigungslose Enteignungen ausspricht.
Jenseits der berechtigten Kritik und Empörung zeugen die Reaktionen in Europa jedoch von erschreckender Ignoranz. Wie inzwischen häufig in der Dritte-Welt-Berichterstattung wird auch im Fall Zimbabwe allein die politische Führung für die Krisenerscheinungen verantwortlich gemacht, weil diese sich nicht an die westlichen Spielregeln des Good Governance gehalten habe. Sämtliche weltwirtschaftlichen Bedingungen werden ignoriert. Die Landfrage in Zimbabwe wird lediglich als lokale soziale Krise dargestellt. Dabei geht es hier doch nicht zuletzt um das Verhältnis von weißen und schwarzen StaatsbürgerInnen in der postkolonialen Gesellschaft. Denn die Wurzeln der jetzt entstandenen Dynamik reichen weit in die Geschichte zurück - und das verbietet es, Zimbabwes Problem auf die Figur eines machtversessenen Präsidenten und seiner Clique zu reduzieren. Auf diese Weise wird eine ganze Kolonialgeschichte nebst ihren Langzeitfolgen entsorgt - und das mit rassistischem Unterton.
Dargestellt werden die LandbesetzerInnen nämlich meist in schlechtester kolonialistischer Tradition als wütende, fanatisierte Kinder, die nicht begreifen, dass sie lediglich instrumentaliert werden. Um so »aufgehetzt« zu werden, bedarf es jedoch nicht nur eines Robert Mugabe, sondern Menschen in einer bestimmten Situation, Menschen mit einer Geschichte, mit Überzeugungen und der Bereitschaft, dafür aktiv zu werden. Sie oder ihre Eltern waren es, die bis vor 20 Jahren unter menschenverachtender Diskriminierung und härtester Unterdrückung durch den Siedlerkolionialismus zu leiden hatten und dagegen kämpften. Mit dem Befreiungskrieg und der Unabhängigkeit - Zimbabwe war bis 1980 die letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent - hatten sich für sie Hoffnungen auf ein Leben in Würde und materieller Sicherheit verbunden. Nachdem das Land aber in den 80er Jahren noch als Modell galt - u.a. auch für einen Weg aus dem südafrikanischen Apartheitsregime - waren die vergangenen Jahre durch rapide zunehmende Verelendung großer Bevölkerungsteile geprägt, während eine kleine - schwarze und weiße - Elite im Land die Pfründe unter sich aufteilt. Jetzt reißt vielen der Geduldsfaden.
Das entschuldigt nicht die teils brutalen Übergriffe oder die Verschwörungstheorien gegen »die Weißen« im Land, gegen die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien und gegen die Oppositionsbewegung. Ebensowenig rechtfertigt es die positive Bezugnahme auf den deutschen Faschismus als quasi stellvertretenden mächtigen Gegner Englands und Frankreichs, der in vielen einst kolonisierten Dritte-Welt-Staaten verbreitet ist und jetzt erneut zum Ausdruck kommt, wenn sich einer der Führer der LandbesetzerInnen den womöglich noch aus den Tagen des Befreiungskrieges stammenden Kampfnamen »Hitler« zulegt, wie es von der hiesigen Presse wiederholt aufgegriffen wurde. Das alles zeigt aber, dass das Trauma einer beinahe 100 Jahre währenden Kolonialherrschaft nicht überwunden ist. Wie sollte es auch - gerade mal zwanzig Jahre danach.
Auf der politischen Tagesordnung steht mit der Situation in Simbabwe also die Geschichte der Dekolonisierung. Für die Gewährung der Unabhängigkeit hatten die meist eher zermürbten als militärisch besiegten Kolonialstaaten weitgehende Zugeständnisse von der Führung der neuen Staaten verlangt. Dazu zählte häufig die Garantie, dass Angehörige der Besatzungsmacht, von denen mittlerweile viele im Land geboren waren, nicht verfolgt oder enteignet würden und eine politische Vertretung erhielten. Ein charakteristisches Beispiel für die damals geführten Diskussionen um die koloniale Hinterlassenschaft ist der Disput zwischen Albert Camus und Jean Paul Sartre um das Schicksal der französisch-algerischen SiedlerInnen nach dem Befreiungskrieg: Camus, selbst in Algerien aufgewachsen, wandte sich gegen eine Trennung der Menschen nach nationaler Identitätszuschreibung, während Sartre darauf bestand, dass alle »Franzosen« Algerien verlassen müssten. Schwer (schon damals), sich eindeutig auf eine Seite zu schlagen. Meist blieb jedenfalls ein großer Teil der "einheimischen Weißen" - und mit ihnen die krasse Ungleichheit insbesondere bei den Landbesitzverhältnissen. Das jüngste Beispiel für diesen Kompromissweg ist Südafrika. Bis heute bewohnen und bearbeiten im ganzen südlichen Afrika und in vielen lateinamerikanischen Staaten große Teile der zu Kolonialzeiten vertriebenen (indigenen) Landbevölkerung die meist wenig fruchtbaren Gebiete oder werden als ArbeiterInnen auf den entstandenen Großgrundbetrieben zu Hungerlöhnen ausgebeutet.
Aus dieser grob erzählten Geschichte ergibt sich keine Lösung für die komplexe und belastete Situation in Zimbabwe. Ihre Betrachtung lässt aber innehalten in der schnellen Be- und Verurteilung. Denn bemerkenswerter als die Landbesetzungen selbst ist eigentlich, dass sie so selten vorkommen. Auch lässt sich vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte erst erkennen, wie unerträglich selbstgerecht und vermessen die Reaktionen in den ehemaligen Kolonialstaaten und ihren Medien daherkommen, wenn aus diesem Munde jetzt moderates, rationales Verhalten eingefordert wird. Und es lässt einen erschauern, wenn der britische Afrika-Staatssekretär Peter Hain Robert Mugabe als »unzivilisiert« beschimpft. Als wäre nie etwas gewesen.
Jochen Müller ist Mitarbeiter im iz3w.
erschienen in: iz3w 245, Freiburg 2000
Zimbabwe: Zweite Befreiung
Die Geschichte der verschleppten Landreform in Zimbabwe
Die Problematik einer krass ungleichen Landverteilung als Folge der Kolonialherrschaft besteht in vielen Staaten im südlichen Afrika, aber auch in Lateinamerika. In Zimbabwe ist die dringend erforderliche Landreform von allen Beteiligten - der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, der zimbabwischen Regierung und dem Großbauernverband des Landes - immer wieder verschleppt worden.
von Sabine Fiedler-Conradi
Seit seiner späten Unabhängigkeit im Jahre 1980 ist Zimbabwe nicht mehr so ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wie im vergangenen Frühjahr. Damals hatte der zum Premierminister gewählte Führer der Ex-Befreiungsbewegung ZANU, Robert Mugabe, die Versöhnungspolitik zwischen Schwarz und Weiß noch zum nationalen Programm erhoben. Anlässlich der Unabhängigkeit Zimbabwes hatte ihm vor allem Moçambiques Staatspräsident Samora Machel empfohlen, die Wirtschaftskraft der Weißen nicht über Bord zu werfen, sondern in eine umzustrukturierende Volkswirtschaft zu integrieren.
Nelson Mandela hat in Südafrika nun einen ähnlichen Weg beschritten. Alle drei Länder kämpfen - ebenso wie Namibia und Kenia - bis heute mit der Hinterlassenschaft des Siedlerkolonialismus. In Zimbabwe produzieren immer noch knapp 4.500 Großfarmen in überwiegend weißer Hand auf 11 Millionen Hektar eher fruchtbarem Boden. Demgegenüber müssen rund acht Millionen Menschen ihr Auskommen nur 16 Millionen Hektar eher trockenem und wenig produktivem Boden abringen. Dabei nahm die Landreform auf der politischen Tagesordnung in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit Zimbabwes den obersten Platz ein - zusammen mit der breitenwirksamen Bereitstellung von Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Die Landfrage hatte 1979 um ein Haar die Lancaster-House-Verhandlungen mit der Kolonialmacht Großbritannien gekippt. Joshua Nkomo und Robert Mugabe unterzeichneten 1979 das Abschlussdokument mit einem Kloß im Hals: Es verpflichtete das unabhängige Zimbabwe dazu, die bestehenden Eigentumsrechte bis 1990 zu respektieren. Im Gegenzug wurde ihnen versichert, ein Geberkonsortium werde unter Führung von Großbritannien und den USA Mittel bereit stellen, mit denen in Zimbabwe Land auf dem freien Markt angekauft und eine großangelegte Umsiedlung von zimbabwischen Familien bewerkstelligt werden kann. Diese Vereinbarung wurde jedoch nicht in die sogenannte Lancaster-House-Verfassung aufgenommen.
Im unabhängigen Zimbabwe kam es dann während der ersten Jahre in den häufig überbesiedelten und trockenen Kommunalgebieten, den ehemaligen Reservaten, zu einem regelrechten Boom, der die Potenziale der kleinbäuerlichen Landwirtschaft freilegte. Die ländlichen Entwicklungsprogramme der neuen Regierung, gespeist von zahlreichen ausländischen Geberorganisationen, wirkten auf subsistenzorientierte ProduzentInnen zunächst ebenso ermutigend wie die Hoffnung auf mehr Verteilungsgerechtigkeit im jungen Zimbabwe. Mit Zuversicht nahm das Land ein großes Landreform- und Wiederansiedlungsprogramm in Angriff, das in Afrika seinesgleichen sucht. Mit britischer Unterstützung erwarb der Staat zwischen 1982 und 1985 knapp 3 Millionen Hektar Land von weißen Farmern. Darauf fanden bis 1987 schließlich rund 60.000 Familien ein neues Zuhause mit ausreichendem Ackerland.
Das Programm, das die Umsiedlung von insgesamt 160.000 Familien vorsah, verlor jedoch ab Mitte der 80er Jahre sein Momentum: Es gab nicht mehr viel produktiven Boden zu kaufen. Die im Land gebliebenen weißen Farmer hatten sich auf dem Hintergrund der Versöhnungspolitik der schwarzen Mehrheitsregierung ihrer Zukunft in Zimbabwe vergewissert. Zudem wurden die aus Kolonialzeiten stammenden Subventionen der kommerziellen Landwirtschaft fortgeführt, sowohl im Kreditwesen als auch beim Angebot staatlicher Forschungs- und Beratungsdienste.
Den neuen Siedlerfamilien auf den ehemaligen Großfarmen hingegen ging es oft keineswegs besser als vor ihrer Ansiedlung. Viele klagten über mangelnden Zugang zu Märkten, Krediten und Beratungsdiensten, über ungenügende Wasserversorgung, zu wenig Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Ihnen waren nie auch nur annähernd so viel staatliche Subventionen und Dienstleistungen zugänglich wie der kommerziellen, von Weißen dominierten Landwirtschaft. Die ländlichen Entwicklungsprogramme erreichten sie selten. Ihre Nutzungsrechte waren nicht geklärt - die meisten produzierten auf Staatsland.
Großgrund gegen Bodensteuer
Großbritannien setzte seine finanzielle Unterstützung vorläufig aus, während sich die zimbabwische Regierung auf das Ende der Karenzzeit für uneingeschränkte private Eigentumsrechte an Land einstellte. Erst 1992 trat schließlich ein Gesetz in Kraft, das es dem Staat ermöglichte, produktive Böden für Zwecke der Umsiedlung zu enteignen. Dieses Gesetz enthielt die Bestimmung, dass für die enteigneten Ländereien entschädigt werden muss. Das vorgeschriebene Procedere war jedoch so kompliziert und ließ so viele rechtliche Lücken, dass die meisten Großgrundbesitzer mit ihren Einsprüchen vor dem Verwaltungsgericht Erfolg hatten. 1995 wurde eine Neufassung des Gesetzes zur Landenteignung verabschiedet. Nun waren die für Enteignungen zulässigen Kriterien klarer, und auch die Durchführungsbestimmungen wurden »gerichtsfester«. Um eine abschließende Klärung der Entschädigungsfrage hatte man sich allerdings weiter gedrückt: Die Regierung vertrat den Standpunkt, dass sie nur für infrastrukturelle und technische Werte auf den enteigneten Böden zur Entschädigung verpflichtet sei, nicht aber zu solchen für das Land selbst. In der Juristerei setzte sich unterdessen die Rechtsauffassung durch, dass die Formulierung des Gesetzestextes die entschädigungslose Enteignung von Böden nicht zuließe - offen blieb allein die Frage, was unter »angemessener« Entschädigung durch den Staat zu verstehen sei.
Ein entscheidender Grund für das Schnekkentempo des Landreformprogramms ist wohl in dem Umstand zu suchen, dass Zimbabwe seit 1991 mit der Durchführung eines Strukturanpassungsprogramms (SAP) beschäftigt war. Damit wurden die staatlichen Energien zunehmend auf eher städtische als ländliche Entwicklungsziele verlagert. Mit der Liberalisierung von Handel und Wirtschaft war vor allem die Hoffnung auf stärkere Industrialisierung, mehr Arbeitsplätze und ausländisches Investment verbunden, um das die Regierung - allen voran Präsident Mugabe persönlich - jahrelang heftig warb. Die Infragestellung von Eigentumsrechten, die durch entschädigungslose Enteignungen von landwirtschaftlichen Böden durch den zimbabwischen Staat entstanden wäre, hätte potenzielle Investoren abgeschreckt.
Allerdings ist bereits seit den 80er Jahren immer wieder die Erhebung einer Bodensteuer für die kommerzielle Landwirtschaft sowie die Zulassung von Größenreduzierungen bestehender Farmen empfohlen worden. Dies hätte wie von selbst ungenutzte Böden auf den Markt gebracht, ohne Eigentumsrechte anzugreifen, denn rund zwei Drittel der Landoberfläche von Großfarmen liegen dauerhaft brach. Die Bodensteuer hätte zudem einen Staatsfond zur Finanzierung der Landreform speisen können. Der Druck gegen solche Maßnahmen kam und kommt - mit internationaler Rückendeckung - weiterhin vor allem vom "weiß" dominierten Großbauernverband CFU. Auch viele der rund 700 schwarzen Großfarmer gehören diesem Verband an, darunter über die Hälfte der Kabinettsmitglieder der Regierung Mugabe. Die Umsetzung einer ernsthaften Landreform wurde demnach auch aus Regierungskreisen blockiert - allen voran vom bisherigen Landwirtschaftsminister und mehrfachen Großgrundbesitzer Kumbirai Kangai, der noch dazu unter Anklage steht, den Staat um 228 Millionen Zimbabwe-Dollar für persönliche Zwecke erleichtert zu haben.
Nicht alle Plünderer sind Veteranen
Auf ähnliche Weise wurde auch das Landreformprogramm in Misskredit gebracht. In den 90er Jahren hat die Regierung in drei kleinen Reformschüben gerade mal 200.000 Hektar an einige Tausend neue Siedlerfamilien verteilt. Immer wieder wurden dabei ParteifunktionärInnen, deren Familien oder andere getreue Gefolgschaft besonders bedient. Jedesmal gingen die Umsiedlungen mit großem Revolutionsgedöns einher, und jedesmal wurde das Programm auch als die Maßnahme zur Armutsbekämpfung verkauft.
Letzeres ist angesichts der volkswirtschaftlichen Entwicklung besonders pikant: Das SAP, zwei Dürreperioden und staatliche Misswirtschaft sorgten dafür, dass sich von 1991 bis 1996 der Anteil der Armen um 40% auf drei Viertel der Bevölkerung erhöht hatte. Für eine wachsende Bevölkerung gibt es weniger statt mehr Arbeitsplätze. Die verarbeitende Industrie entindustrialisiert sich. Das staatliche Haushaltsdefizit wächst und die Diskrepanzen zwischen obersten und unteren Einkommensschichten reißen zusehends auseinander. Die Inflation - inzwischen auf ähnlichem Niveau wie die der kriegsgebeutelten Länder Angola und DR Kongo - führt zu massiven Verlusten bei den Realeinkommen. Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen wurde in Qualität wie Quantität erheblich beschnitten.
Noch dazu sickerte durch, dass sämtliche Staatsfonds, die - teilweise im Rahmen des SAP - zur Abfederung der sozialen Folgen der Wirtschaftsentwicklung gedacht waren, von ParteifunktionärInnen und anderen Getreuen systematisch geplündert wurden. Zu den Beuteobjekten gehörte auch ein Kriegsinvalidenfonds für ehemalige BefreiungskämpferInnen. Als der Vereinigung der KriegsveteranInnen der Kragen platzte, versprach Mugabe seinen ehemaligen KampfgenossInnen - ohne das Kabinett oder gar das Parlament in dieser Frage zu bemühen - einmalige Zuwendungen sowie lebenslange Pensionszahlungen. Außerdem sicherte er den KriegsveteranInnen und ihren Familien einen Anspruch auf 20% der Bodenfläche bei der zu beschleunigenden Landreform zu. Während der Staatshaushalt mit Ach und Krach die unvorhergesehenen Zuwendungen an 55.000 KriegsveteranInnen zu bewältigen suchte, reiste Robert Mugabe im Oktober 1997 wochenlang im Land herum, um die Bevölkerung für die »zweite Befreiung« zu mobilisieren. Hieß es im Befreiungskampf noch vor allem »Ein Mann (!) - eine Stimme!«, so musste es nun lauten: »Ein Mann (!) - eine Farm!« Er erklärte, dass es für die Rücknahme des kolonialen Landdiebstahls keinen Cent Entschädigung gebe. Es stünde den Briten frei, diese zu leisten, falls sich ihr Gerechtigkeitssinnn an der Verfahrensweise stoße. Diese neuerliche Infragestellung der Eigentumsrechte verschreckte in- und ausländische Wirtschaftskreise. Zugleich schnellte das Defizit des Staatshaushalts aufgrund der Zuwendungen an die BefreiungskämpferInnen in die Höhe. Im November 1997 fiel der Zimbabwe- gegenüber dem US-Dollar um rund 300 Prozent. Eine rapide Preisinflation folgte, und es gab die ersten Brotunruhen und Generalstreiks in der Geschichte des unabhängigen Zimbabwe, wo sich mittlerweile der Keim einer ernstzunehmenden außerparlamentarischen Opposition gegen die »Zanukratie«, den - de facto - Einparteienstaat, gegründet hatte. Darin fanden sich zusammen: Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Intellektuelle, Wirtschaftsverbände, eine differenziertere und staatsunabhängige Presselandschaft, Kirchen, Frauen- und Jugendverbände. Es entstand eine Verfassungsbewegung, die die nicht weniger als vierzehn Mal zwecks Stärkung der Staatsgewalt geänderte Lancaster-House-Verfassung als Kern des nationalen Problems betrachtet.
Präsidiale Alleingänge
Ende 1997 legte dann die Regierung eine Liste von rund 1.500 zu enteignenden Großfarmen vor, die mit ca. 5 Millionen Hektar gut zwei Fünftel der Gesamtfläche der kommerziell genutzten Ländereien ausmachen. Der Kriterienkatalog, der den Enteignungen zugrunde liegen sollte, war einsichtig: Enteignet werden sollten vor allem unzureichend genutzte Böden, sowie Spekulationsland von Landbesitzern im Ausland. Besitzer mehrerer Farmen sollten Land abgeben. Wer nur eine Farm sein Eigen nannte und produktiv nutzte, sollte unbeschadet bleiben. Allerdings hatte die zimbabwische Regierung diesen Kriterien nicht allzu viel Beachtung geschenkt. Sie gab schließlich dem Druck aus dem In- und Ausland nach und unterzog die verunglückte Liste einer neuerlichen Prüfung. Im April 1998 wurde dann die Enteignung von nunmehr 841 statt 1.500 Farmen vorgesehen.
Der Schaden, der durch dieses Debakel entstand, ist kaum wiedergutzumachen. Auf den von Enteignung bedrohten Farmen wurden Investition und Produktion zurückgeschraubt, oder sie erhielten keine Kredite mehr. FarmarbeiterInnen und deren Familien, die verwundbarste und größte Gruppe unter der Arbeiterschaft, wurden massiv verunsichert und auf die Seite ihrer Arbeitgeber geschlagen, zumal für ihre Absicherung nach den Enteignungen keinerlei Vorkehrungen getroffen worden waren.
Ende 1998 endete ein von UNDP und der zimbabwischen Regierung gestarteter Versuch, ein internationales Geberkonsortium zur Finanzierung der Landreform zu bewegen, in der Aufforderung der Geber, dem Projekt eine zweijährige Pilotphase vorzuschalten. Darin sollen die Durchführungsmodalitäten, die Siedlungsformen und Produktionsmodelle, die Gestaltung der Nutzungsrechte sowie die Auswahl der Zielgruppen auf Wirksamkeit getestet und für die »große« Phase ausgewertet werden. Die Gelder würden nach der Erfüllung von drei Grundvoraussetzungen fließen: erstens ein transparentes Verfahren bei Auswahl und Vergabe der zu enteignenden Böden an die neuen Siedlergruppen; zweitens die Sicherheit, dass die Produktivität der zimbabwischen Landwirtschaft durch die Reform nicht beeinträchtigt werde; und drittens die Armutsbekämpfung durch das Programm.
Seit Mitte 1999 liegt nun ein durchdachtes und realistisches Planungsdokument für die Pilotphase vor. Die Finanzierungen blieben allerdings aus. Zum einen blieb die Entschädigungsfrage weiter im Dunkeln und zum anderen waren die Mitglieder des Geberkonsortiums, die sich bei großen Finanzierungsprojekten an eine Richtlinienkompetenz der Weltbank halten, inzwischen auch schon bei der Unterstützung anderer Projekte zögerlich geworden. Zimbabwe hatte Vereinbarungen mit den Bretton-Woods-Institutionen nicht eingehalten. Zu diesen gehörte unter anderem das Eindämmen des staatlichen Haushaltsdefizits und eine Offenlegung der Kosten des militärischen Engagements Zimbabwes in der Demokratischen Republik Kongo, das Robert Mugabe seinem Land seit August 1998 per Präsidialdekret zumutet. Mittlerweile droht die zimbabwische Volkswirtschaft, einst die große Hoffnung am afrikanischen Horizont, zusammenzubrechen. Es gibt auf dem formalen Markt keine Devisen mehr; die Kraftstoffe sind knapp; der Strom wird rationiert; die Inflation von Preisen und Zinsen eskaliert ins Unermessliche; Produktionen müssen zurückgeschraubt oder stillgelegt werden; Arbeitskräfte werden auf Kurzarbeit gesetzt oder entlassen, und in Sachen sozialer Ungleichheit steht Zimbabwe an der Weltspitze. Es fehlt an allen Ecken und Enden - außer an Land. Deshalb hat Mugabe versucht, dem rechtstechnischen Theater um die Entschädigungen für Landenteignungen im Vorfeld zu den Parlamentswahlen ein Ende zu bereiten. Dem Entwurf einer von ihm selbst einberufenen Verfassungskommission fügte er höchstpersönlich eine Klausel bei, die besagte: Großbritannien ist für die Entschädigung des Bodenwerts zuständig, wenn der zimbabwische Staat Land enteignet. Letzterer entschädigt nur für infrastukturelle und technische Werte. Wenn Großbritannien seiner Pflicht nicht nachkommt, ist die Enteignung trotzdem rechtmäßig.
Der Entwurf wurde im Februar diesen Jahres per Volksentscheid abgelehnt. Als Vorwahlbarometer verpasste dieses Ergebnis der Regierungspartei einen Schlag. In ihrer Kampagne setzte sie angesichts der trostlosen Wirtschaftsentwicklung schließlich alles auf die letzte Karte: das Land. Der Wahlkampf wurde in den Metaphern des Befreiungskrieges geführt - der einzigen unangefochtenen Quelle von Glaubwürdigkeit, die der Befreiungsbewegung nach zwei Jahrzehnten an der Macht noch geblieben ist. Die Kriegsveteranenvereinigung wurde nach den ersten Landbesetzungen für eine beträchtliche Summe hochoffiziell als Wahlkampfhilfe für die Regierungspartei angeheuert.
Halbherzige Schützenhilfe
Der Kampf ums Land wurde identisch mit dem Kampf um Wählerstimmen. Die Kampagne breitete sich von den Farmen in die Städte und in die Kommunalgebiete aus. Es gab »Umerziehungscamps«, Verletzte, Tote und bis zu den Wahlen am 24./25. Juni Zehntausende von Menschen, die dem Druck nicht mehr standzuhalten vermochten - Flüchtlinge im eigenen Land.
Inmitten diesen Klimas staatlich gesteuerter Gesetzlosigkeit ging im April auf Vermittlung des nigerianischen Staatspräsidenten und mit der Unterstützung einiger SADC-Staatschefs eine zimbabwische Regierungsdelegation nach London und forderte Großbritanniens uneingelöste Versprechungen in Sachen Landreform ein. Die Atmosphäre war eisig - von beiden Seiten. Großbritannien wiederholte seine grundsätzliche Bereitschaft, die Landreform vor allem in ihrer Umsiedlungskomponente unter den Bedingungen der Geberkonferenz von 1998 mitzutragen, wollte damit jedoch nicht in der Hitze des Gefechts kurz vor den Parlamentswahlen beginnen. Im übrigen sei die Wiederherstellung von Recht und Ordnung und die Einhaltung der einfachsten Menschenrechte in Zimbabwe eine Grundvoraussetzung für jede Finanzierung. Der Delegationsleiter der Zimbabwer, John Nkomo, zäumte das Pferd andersherum auf: Er versprach, man werde die Farmbesetzungen sofort beenden, sobald Großbritannien mit seinen Zahlungen beginne. Zum Wahlkampfterror wollte er nichts sagen.
Die Verhandlungen endeten in einer Sackgasse, der Repräsentant von UNDP in Zimbabwe bemühte sich ebenso um Vermittlung wie der südafrikanische Staatspräsident Mbeki. Weitere SADC-Staaten, die sich mit ungelösten Landfragen herumschlagen müssen, insbesondere Namibia und Moçambique, hatten Mugabe moralische Schützenhilfe bei seinem Versuch gegeben, Großbritannien zur Finanzierung der Landreform zu zwingen. Wenn es gelungen wäre, ein Exempel zu statuieren, hätten möglicherweise auch sie davon profitieren können. Jetzt fürchten sie jedoch ein Überschwappen der zimbabwischen Entwicklung in ihre Territorien. Sie bekommen auch wirtschaftlich zu spüren, dass Zimbabwe in der Einschätzung potenzieller ausländischer Investoren für die Stabilität der Region eine herausragende Rolle spielt.
Angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs muss es fast erstaunen, dass die ZANU bei den Wahlen vom 24./25. Juni eine - wenn auch knappe - Mehrheit der Sitze errungen hat. Die erst neun Monate junge Oppositionspartei MDC (Bewegung für demokratischen Wandel), deren Vorsitzender Morgan Tsvangirai sich in zwei Jahren den Präsidentschaftswahlen stellen will, freut sich hingegen, dass sie es trotz der massiven Einschüchterungen auf 57 der 120 Sitze bringen konnte. Dies ist die eigentliche »zweite Befreiung« der Nation - diejenige von der Befreiungsbewegung an der Macht. Allein das Aufbrechen eines für lange Zeit unverrückbar erschienenen Monoliths ist für viele Anlass zum Jubel.
Für Präsident Mugabe stellt sich nun angesichts der seit der Parlamentswahl neu besetzten Farmen vor allem die Frage, wie er die Geister wieder los wird, die er rief. In den vergangenen Jahren hat er sich der Loyalität eines großen Teils der ehemaligen BefreiungskämpferInnen versichert. Auf der anderen Seite wird es ihm nicht gelingen, Großbritannien oder ein multinationales Geberkonsortium zur Finanzierung der Landreform zu bewegen, solange er nicht deren Bedingungen erfüllt, was etwa die Aufgabe des Prinzips der Günstlingswirtschaft betrifft. Auch die MDC wird sich der Landfrage stellen müssen, die nicht mit Mugabe gekommen ist und auch nicht mit ihm gehen wird. Zimbabwe muss 8 Millionen Menschen ein Auskommen ermöglichen, die heute direkt von den Früchten des Bodens abhängen und zu großen Teilen am Hungertuch nagen. Dies wird mit der endlichen Ressource Boden nicht dauerhaft möglich sein. Aber es wäre ein Anfang in einem der ressourcenreichsten Länder Afrikas.
Sabine Fiedler-Conradi ist Sozialwissenschaftlerin. Sie hat in den vergangenen neun Jahren in Zimbabwe gelebt und war dort zuletzt als entwicklungspolitische Beraterin tätig. 1996 ist ihre Studie: Arbeit und Recht im kolonialen Zimbabwe: Die Geschichte einer nachhaltigen Entwicklung erschienen.
Infos zu Kolonialismus, Korruption und Konditionen
Die hiesige Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Zimbabwe im Frühjahr war in großen Teilen geprägt von rassistischen Untertönen sowie der Ignoranz von materiellen wie psychischen Folgen der langen Kolonialgeschichte, die Ende des 19. Jahrhunderts mit weißen Siedlern und Missionaren aus Südafrika begann. Widerstände gegen deren Besiedlung wurden in der Folgezeit niedergeschlagen. 1924 wurde das Gebiet von Südafrika getrennt, und als "Südrhodesien" bekam es den Status einer von den weißen Siedlern selbst regierten Kolonie im britischen Commonwealth. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten sich die weißen Siedler 40% des Landes angeeignet und in über 6.000 Farmen aufgeteilt. Die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung wurde in 174 landwirtschaftlich kaum tragfähige "Reservate" (heute "Communal Lands" genannt) zwangsumgesiedelt. Diese Übersiedlung, die Einführung von Steuern sowie rassistische Arbeits- und Passgesetze, die den Aufenthalt außerhalb der Reservate an Arbeitsverträge banden, machten aus der schwarzen Bevölkerung ein Reservoir billigster Arbeitskräfte für die Großfarmen und den städtischen Arbeitsmarkt - eine Voraussetzung für das Florieren der weißen Wirtschaft. 1965 erklärte die von den Weißen gewählte rassistische Rhodesian Front (RF) unter Führung von Ian Smith einseitig die Unabhängigkeit Rhodesiens. Einen UN-Wirtschaftsboykott konnte sie u.a. mit Hilfe Südafrikas überstehen. 1966 begann die ZANU (Afrikanische Nationalunion Zimbabwe) den Guerilla-Kampf - später zusammen mit anderen Organisationen - gegen die weiße Herrschaft. Sie zwangen die RF Ende der 70er Jahre zu Verhandlungen, die schließlich in die Unabhängigkeitsverhandlungen mit Großbritannien mündeten.
Für die neue Regierung Mugabe galt es zunächst, materielle Kriegszerstörungen zu bewältigen und ca. zwei Millionen Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelte (ein Viertel der Bevölkerung) zu reintegrieren. Dabei verweigerte die Mehrheit der weißen Bevölkerung die Zusammenarbeit und unterstützte weiterhin den ausgewiesen rassistischen Ian Smith, dessen Partei alle zwanzig den Weißen vorbehaltenen Sitze im Parlament erhielt. Die weiße Minderheit saß weiterhin an den wirtschaftlichen Schalthebeln, ihr Kapital blieb trotz sozialistischer ZANU-Rhetorik unangetastet. Überdies blieb Zimbabwe ökonomisch von Südafrika abhängig, das gleichzeitig alles tat, um das Land zu destabilisieren. Zimbabwes von wirtschaftlichem Verfall und aufklaffenden sozialen Widersprüchen geprägte Entwicklung in den 90er Jahren ist durch exogene Faktoren wie durch die koloniale Hinterlassenschaft, neokoloniale Strukturen, wirtschaftliche Abhängigkeiten, die Schuldenfalle und aufgezwungene neoliberale Strukturanpassungsprogramme genauso bestimmt wie durch hausgemachte Gründe: korrupte und unfähige Staatseliten, die in undemokratischen, repressiven Systemen in die eigene Tasche wirtschaften und die Verelendung der Bevölkerung in Kauf nehmen.
Aus letzterem leiten viele die Forderung nach Good Governance ab. So knüpft auch die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien die zugesagte Finanzierung der Enteignungsentschädigungen immer wieder an die Erfüllung von Konditionen durch die zimbabwische Regierung. Von den als erforderlich geschätzten ca. 3 Mrd. DM hat Großbritannien bisher lediglich 120 Millionen gezahlt und begründet dies u.a. mit der Korruption und der Verletzung von Menschenrechten in Zimbabwe. Dem Konzept von Good Governance widersprechen auch entschädigungslose Enteignungen - gleich vor welchem aktuellen oder historischen Hintergrund sie stattfinden mögen. Denn der globale Geltung beanspruchende Grundsatz der Sicherheit von Privateigentum steht in kapitalistischer und neoliberaler Denkart ganz oben auf der Liste der Menschenrechte. Dies garantiert den Großfarmern auch weiterhin politische Unterstützung.