Asien
Burma-Reisen: boykottieren oder buchen?
Seit Mitte der 90er Jahre rufen einige tourismuskritische Organisationen in Europa und Nordamerika zum Reiseboykott gegen Burma auf. Sie wollen verhindern, dass die dortige Diktatur ihren ramponierten Ruf durch den Tourismus aufbessern und mit den Einnahmen den Militärapparat stärken kann. Im Rahmen unserer Reihe »FernWeh« greifen wir die Frage nach Sinn und Unsinn eines Burmaboykotts auf. Hilft der Verzicht auf Reisen nach Burma der demokratischen Bewegung im Lande, oder kann im Gegenteil der Tourismus - zumindest auf Umwegen - zu ihrer Stärkung beitragen?
Isolation bewirkt Gleichgültigkeit
von Hamish Keith
Seit 1988 wird Burma von einer Junta regiert, die die Menschenrechte mit Füßen tritt. Scheinbar unberührt von internationaler Ächtung und taub gegenüber den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, steht die burmesische Regierung im Ruf, eines der unnachgiebigsten totalitären Regimes der Welt zu sein (vgl. iz3w 212). Die Nobelpreisträgerin und demokratisch gewählte Führerin der oppositionellen National League for Democracy (NLD) Burmas, Daw Aung San Suu Kyi, bat AusländerInnen ausdrücklich darum, ihr Land solange nicht zu bereisen, bis die Demokratie wiederhergestellt ist. Dennoch kamen insbesondere seit der Regierungskampagne »Visit Myanmar« von 1996 jährlich etwa 250.000 Besucher ins Land. Dieser Wert liegt zwar noch weit unter den angestrebten 500.000, ist aber dennoch bedeutend.
Immer wieder wird bekannt, dass touristische Attraktionen und Infrastruktur auch mittels Zwangsarbeit erstellt werden. Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, um Platz für Hotels zu schaffen - so geschehen mit den 5.200 EinwohnerInnen Alt-Bagans 1988. Ein solches Verhalten ist zwar völlig unentschuldbar, innerhalb der Region jedoch keinesfalls einzigartig. Die kambodschanische Regierung lässt regelmäßig ganze Dörfer räumen - die verstümmelten Kriegsopfer schaden dem Tourismus. Von China wird berichtet, dass dort Gefangene in Tourismusprojekten arbeiten müsssen, und Vietnam schickt noch immer der Prostitution verdächtigte Personen in Umerziehungslager. Tatsächlich ist insbesondere die Liste der chinesischen Menschenrechtsverletzungen vergleichbar mit der burmesischen. Doch während China kurz vor seiner Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO steht, wird Burma als 'Schurkenstaat' eingestuft.
Demokratische AktivistInnen in Burma vergleichen ihr Anliegen mit dem Kampf um die Befreiung Südafrikas von Apartheid und treten gegen jegliche Investitionen ein - in der Hoffnung, eine bankrotte Junta an den Verhandlungstisch zwingen zu können. Burma ist jedoch kein isolierter Staat. 1997 trat das Land der ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) bei und genießt gute wirtschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarn. 1999 beliefen sich die offiziellen Handelsbeziehungen zwischen Thailand und Burma auf eine Gesamtsumme von 414 Millionen Dollar. Diese Zahlen beziehen sich nur auf den legalen Handel, der Umsatz aus illegalen Transaktionen ist wahrscheinlich um ein vielfaches höher, bedenkt man die Exporteinnahmen aus dem Schmuggel mit Methamphetamintabletten und Heroin. Zwar könnte der Rückzug multinationaler Konzerne die Junta zu politischen Zugeständnissen zwingen, doch Boykotts und Sanktionen allein werden das Regime nicht stürzen. Und das gilt vor allem in Hinblick auf die Rolle Chinas, das die burmesische Junta massiv unterstützt.
Die vom malaysischen Außenminister geforderten Verhandlungen mit Aung San Suu Kyi zeigen, dass das Militär zu Kompromissen bereit sein könnte. Ob diese Treffen mehr als die übliche Regierungspropaganda zur Folge haben werden, bleibt noch offen. Westliche Quellen sehen in den beginnenden Verhandlungen einen Sieg der Sanktionspolitik, während die asiatischen feststellen, dass ihr integrierender und vorsichtig überredender Ansatz Früchte trägt. Interessant ist, dass die Gespräche gerade zu dem Zeitpunkt auf dem Programm stehen, als das burmesische Militär die letzte der aufständischen Armeen in den Grenzgebieten vernichtend geschlagen hat. Nachdem die innere Sicherheit unter Kontrolle zu sein scheint, kann die Junta sich diese Zugeständnisse offensichtlich leisten.
Eine organisierte Opposition innerhalb des Landes ist nun so gut wie nicht mehr existent. Seit 1988 wurden alle Oppositionsmitglieder und andere regimekritische Stimmen inhaftiert oder zum Schweigen gebracht, einschließlich Aung San Suu Kyi, die noch immer quasi unter Hausarrest steht. Es gibt keinerlei freie Presse, und die Menschen haben berechtigte Angst, offen über die politische oder wirtschaftliche Situation zu sprechen. Im modernen Burma stehen fünfzehn Jahre Gefängnis auf das unerlaubte Benutzen eines Faxgerätes. Zusammenkünfte von mehr als fünf Personen sind verboten, Telefongespräche werden abgehört und ein (ohnehin zensierter) Internetzugang ist nur mit Genehmigung der Regierung möglich.
Es bleibt den TouristInnen letztlich selbst überlassen, mit ihrem Gewissen zu ringen und sich zu entscheiden, ob die Freude daran, ein wunderschönes Land zu besuchen, mehr wiegt als das moralische Dilemma, ein totalitäres Regime mit ihrer Reise zu unterstützen. Einige ausländische Reiseveranstalter vertreten sogar die Ansicht, dass Tourismus den Kampf für Demokratie unterstützt, indem er das burmesische Volk in Berührung mit westlichen Ansichten bringt. Die Burmesen selbst halten eine solche Argumentation für mehr als nur ein bisschen gönnerhaft; sie brauchen keine Fremden, die ins Land kommen, um ihnen ihre eigene Zwangslage ins Bewusstsein zu rufen. Ebenso irrig ist die Behauptung der NLD, die Pauschalreisenden, die die Regierung so verzweifelt für sich zu gewinnen versucht, würden kaum mehr als das zu sehen bekommen, was die Junta sie sehen lassen will. Nur wenige der TouristInnen, die Zeuge des militärischen Propagandaapparats in Aktion wurden, glauben wirklich, dass in Burma gut regiert wird.
Die TouristInnengruppen mit ihren Shorts und verschwitzten Souvenir-T-Shirts mögen in den Augen mancher Leute dumm erscheinen. Sie sehen aber viel mehr, als die Regierung möchte. Und wenn sie nach Hause zurückkehren, werden sie sich wahrscheinlich eher dafür interessieren, was in Burma geschieht. Die Opposition riskiert indes mit ihrer Isolationspolitik, dass der Westen mit Gleichgültigkeit statt mit dringend benötigter Unterstützung reagiert.
Hamish Keith ist freier Journalist und Reiseveranstalter und lebt in Thailand. Übersetzung aus dem Englischen: Caroline Willand.
Tourismus stützt die Diktatur
von Lara Marsh
Die britische Organisation Tourism Concern setzt sich mittels Kampagnen für ethischen Tourismus ein und ruft entschlossen zum »Don't visit Burma!« auf. Wir haben viele Jahre daran gearbeitet, dass Reisende Burma als Ferienziel meiden, solange es eine Diktatur ist. Reiseunternehmen wollen wir dazu bringen, Burma aus dem Programm zu nehmen, und Verlage davon abhalten, für Reisen nach Burma zu werben bzw. den Weg zu bahnen. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf einen der größten unabhängigen Herausgeber von Reiseführern, den australischen Verlag Lonely Planet, der auch einen Burma-Reiseführer im Programm hat.
Die Tourismusentwicklung in Burma ist direkt mit massiven Menschenrechtsverletzungen verknüpft - Raub, Folter und Mord inbegriffen. Doch warum Burma boykottieren und nicht China oder Malaysia, oder andere menschenrechtsverletzende Regime? Auch die USA, Australien oder Großbritannien vertoßen gegen die Menschenrechte. Doch in Burma gehen viele dieser Vergehen als direkte Folge der Tourismusindustrie vonstatten. Die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) berichtet, dass »...das Militär die Zivilbevölkerung als unbegrenzte Quelle unbezahlter Arbeitskraft und für sie frei verfügbarer Bediensteter behandelt. Die Nutzung von Zwangsarbeit soll private Investitionen in den Aufbau der Infrastruktur, in den öffentlichen Arbeitssektor und in Tourismusprojekte fördern.« Die US-Arbeitsbehörde berichtete, dass Dorfbewohner für den neulich eröffneten Internationalen Flughafen in Mandalay von ihrem Land vertrieben und als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Wer nach Burma reisen möchte, sollte über diese unmittelbaren Zusammenhänge zwischen Tourismus und Menschenrechtsverletzungen nachdenken.
Das direkte Ersuchen der demokratischen Bewegung an uns, nicht in das Land zu reisen, unterscheidet Burma von anderen Fällen. Im Falle Tibets sagte der Dalai Lama kürzlich, dass es hilfreich sei, wenn die TouristInnen hingingen. Anders Burmas demokratisch gewählte, oppositionelle Führung: »Ich hoffe, ihr könnt eines Tages in unser Land zurückkommen, wenn die Menschen nicht mehr in Angst leben. Burma wird es viele Jahre geben, also sagt euren Leuten, sie sollen uns später besuchen. Ein jetziger Besuch läuft auf stillschweigendes Dulden des Regimes hinaus«, so die Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.
Es geht nicht einfach nur um ein moralisches Dilemma: Tourismus liefert vielmehr konkrete finanzielle Unterstützung für eines der weltweit brutalsten Regime. Im Jahre 1999 verdiente Burma 33 Mio. Dollar am Tourismus. Einreisende sind verpflichtet, direkt am Flughafen 200 Dollar einzutauschen. Zugleich befinden sich viele Hotels, inländische Fluglinien und andere »nur gegen Dollar«-Serviceanbieter ganz oder teilweise im Besitz der Regierung und ihrer Assoziierten. So konnte ein bankrottes und schwaches Regime seit 1988 die ganzen 90er Jahre hindurch ausländische Devisen dazu benutzen, die militärische Stärke zu verdoppeln und seine Macht zu festigen.
Die Stimmen der IndividualtouristInnen, wie beispielsweise die einer australischen Rucksackreisenden, die angeblich nicht gleichgültig dem Walten der burmesischen Regierung zuschauen, sprechen Bände. »Es ist uns nicht egal, was passiert. Wir wollen es nur mit eigenen Augen sehen«. Doch warum? Reicht es nicht, dass Einrichtungen wie die ILO oder Amnesty International regelmäßig über die vielen Gewalttaten berichten? Warum in aller Welt solche Tatsachen selbst sehen? Touristen würden diese sowieso nicht zu Gesicht bekommen, da sie sicherlich nicht durch den Zimmerservice auf dem Tablett serviert werden.
Individualreisende beteuern gerne, dass immer mehr von ihrem Geld direkt in die Hände der lokalen Bevölkerung fließt. Doch die breite Mehrheit der Bevölkerung bleibt nach wie vor vom Tourismus ökonomisch unberührt. 75% der Erwerbstätigen leben in Burma von der Landwirtschaft. TouristInnen könnten sicherlich einzelne Beschäftigte aus der Tourismusindustrie mit ein paar Dollars unterstützen. Hält man sich jedoch vor Augen, dass der Tourismus gleichzeitig ein Regime mit Devisen speist, das 48 Millionen Menschen in Armut leben lässt, dann sind diese Beträge zu vernachlässigen.
Die TouristInnen sollten also wenigstens nicht vorgeben, durch ihre Reisen nach Burma die demokratische Bewegung zu unterstützen. Es scheint mir unmöglich, den Tourismus nach Burma unter ethischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. TouristInnen müssen mit dem eigenen Gewissen ringen und selbst entscheiden, argumentiert Keith Hamish in seinem Beitrag. Tourism Concern wagt zu behaupten, dass es Situationen gibt, in denen die Rechte von Reisenden zweitrangig sind und primär die Rechte der jeweiligen besuchten Bevölkerung gewahrt werden sollten. Es gibt Situationen, in denen nicht die TouristInnen und ihre Meinungen im Mittelpunkt stehen, in denen sie nachdenken sollten, dass es wichtigeres gibt als ihre eigenen Reiseerfahrungen. Die BürgerInnen von Burma haben im Namen der Demokratie gebeten, wegzubleiben. Ist es denn zu viel verlangt, dieser Bitte nachzukommen?
Lara Marsh ist Campaignerin bei der tourismuskritischen Organisation Tourism Concern in London.
Übersetzung: Martina Backes und Agnieszka Zimowska.
China: »Es gibt Raum für Veränderungen«
Interview mit Lau Kin Chi, Mitherausgeberin von "China Reflected"
iz3w: Was soll mit der Herausgabe von "China Reflected" erreicht werden?
Lau Kin Chi: Der Titel sollte in zweifacher Hinsicht verstanden werden: Einmal im Sinne einer Widerspiegelung der Probleme Chinas, die Intellektuelle in China heute für bedeutend halten. Solche Informationen und Diskussionen gibt es in den vorherrschenden Medien nicht. Zum anderen im Sinne von Reflektion, um besser verstehen zu können, was vor sich geht, und somit die Aktivitäten von ARENA zu stärken. Das Buch ist eine kritische Bestandsaufnahme verschiedener Probleme in China, geschrieben von Leuten, die etwas verändern wollen. Eine Folgeveröffentlichung müsste die derzeit in China praktizierten Alternativen aufgreifen. Sie mögen sehr bescheiden sein - eine Dorfbücherei, eine Bauernkooperative, eine nachhaltige Volkstradition - aber sie können bedeutend sein. Wir wollen nicht nur mit dem Finger auf Missstände zeigen. Menschen wie die AutorInnen können das Handeln des Staates nicht sehr stark beeinflussen. Wir können aber immer unser eigenes Verhalten ändern und die Initiative ergreifen, um Alternativen auszuprobieren. Es gibt andere Möglichkeiten, als lediglich zynische Kritik oder entkräftenden Pessimismus zu verbreiten.
iz3w: Welches Spektrum der chinesischen Gesellschaft repräsentieren die AutorInnen?
LKC: Die kritischen Intellektuellen. Wang Hui beispielsweise lehrt als Sozialwissenschaftler an der Tsinghau Universität in Beijing. Mitherausgeber Huang Pin ist Leiter des Büros für Internationale Beziehungen der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS). Beide sind Herausgeber von Dushu, einer wichtigen intellektuellen Zeitschrift in China. Dai Jinhua ist eine der wenigen bekannten Feministinnen in China. Chen Xin ist Leiter der Abteilung Jugendstudien von CASS und gibt eine gleichnamige Zeitschrift heraus. Sie alle gehören zu den engagierten Wissenschaftlern, mit denen ARENA in Asien zusammenarbeitet.
iz3w: Das klingt nach hohen sozialen Positionen. Zudem haben die Institute, für die sie arbeiten, halbstaatlichen Charakter.
LKC: Ja, es sind prominente Intellektuelle in der chinesischen Szene. Ihr Denken hat großen Einfluss auf ihre Studenten und Leser. Die meisten von ihnen sind in den 1950er Jahren geboren. Diese Generation hat die Jahrzehnte politischer Umbrüche mit unterschiedlichsten Erfahrungen erlebt. Huang Ping wurde z.B. während der Kulturrevolution im Alter von 16 Jahren anlässlich einer Kampagne zur Verbringung städtischer Jugendlicher aufs Land in ein entlegenes Dorf geschickt und lebte dort mehrere Jahre. Danach arbeitete er als Bauarbeiter in einer großen Fabrik. Durch Selbststudium war es ihm 1978 möglich, an die Universität zu kommen. Chen Xin war stellvertretender Leiter einer Kreisverwaltung im Gebiet der Drei Schluchten (am Yangtse-Fluss, wo der Staudamm gebaut wird, P.F.). Dai Jinhua hat als Oberstufenschülerin an den regierungskritischen Demonstrationen auf dem Tiananmen Platz 1976 teilgenommen. Wang Hui hat die Ereignisse auf dem Tiananmen Platz 1989 miterlebt. Alle sind Wissenschaftler in einer Forschungseinrichtung oder Universität. Das sind Orte, wo Intellektuelle Raum zum Arbeiten finden. Sie haben durch ihre kritischen Ideen Einfluss, weniger durch ihre Position. Es geht nicht darum, ob sie in einer staatlichen oder halbstaatlichen Einrichtung arbeiten. Vor der Gründung von NGOs vor etwa zehn Jahren gab es in China gar keine nicht-staatlichen Organisationen. Außerdem sind diese NGOs ebenfalls vom Staat oder von Geldgebern außerhalb Chinas beeinflusst.
iz3w: Welche politischen Strömungen gibt es unter den chinesischen Intellektuellen?
LKC: Es gibt zwei sehr unterschiedliche Hauptgruppierungen. Die einen nennen sich »Neoliberale«. Sie unterstützen die Idee des freien Marktes, die Liberalisierung und die Vorstellung, dass China sich zu einem modernen Staat wie die USA entwickeln soll. Ich fürchte, das ist die stärkste Strömung. Auf der anderen Seite gibt es Intellektuelle, die der sozialen Wirklichkeit kritisch gegenüberstehen. Sie werden manchmal als »Neue Linke« bezeichnet, weil sie die sozialistische Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit unterstützen. Sie lehnen nicht die gesamte neuere Geschichte Chinas ab, sondern versuchen, die Komplexität von individueller und sozialer Entwicklung zu verstehen. Da viele von ihnen auf dem Dorf oder in der Fabrik gearbeitet haben, haben sie ein Verständnis für die Probleme von Bauern, Frauen, Arbeiter oder Minderheiten entwickelt. Das bedeutet aber nicht, dass sie den staatlichen Zwang verteidigen oder die Verfolgungen und das Leid vieler Menschen während der Kulturrevolution nicht sehen. Sie können als »Neue Linke« in dem Sinne bezeichnet werden, als dass sie nicht zu den alten Partei-Demagogen gehören. Sie weigern sich einfach, den Kapitalismus als Rezept für Chinas Entwicklung zu akzeptieren.
iz3w: Die »Neue Linke« bezieht sich in gewissem Ausmaß auf den so genannten Maoismus. Wie steht es um andere Ansätze? Welche unterschiedlichen Fraktionen gibt es im anti-neoliberalen Lager?
LKC: Diese simple Unterscheidung zwischen den Unterstützern Deng Xiaopings und Mao Zedongs gibt es außerhalb und selbst innerhalb Chinas. Man kann aber die Gruppen, die gegen neoliberale Marktwirtschaft sind, nicht einfach als Maoisten bezeichnen. Einige stehen Mao wegen der Diskrepanz zwischen seiner Theorie und Praxis kritisch gegenüber. Mao setzte sich zwar für den Kampf gegen Bürokratie ein, leitete aber selbst Partei und Staatsbürokratie. Mao sprach davon, dass das Land die Stadt umlagern sollte, hatte aber nicht - wie etwa Gandhi - die Modernisierung kritisiert. Seine Visionen für China waren Urbanisierung und Industrialisierung. Was die Unterstützer des Neoliberalismus angeht, so gibt es auch unter ihnen zahlreiche Widersprüche, die das Chaos im heutigen China widerspiegeln. Zum Beispiel kursierte unmittelbar vor der Entwicklung der Demokratiebewegung 1989 unter neoliberalen Intellektuellen die Vorstellung, dass China eine Art neo-autoritären Staat wie Singapur bräuchte, dass politische Kontrolle nötig sei, um die Wirtschaft zu entwickeln. Die Ereignisse von April bis Juni 1989, die zum Tiananmen-Zwischenfall führten, nötigten dieselben Leute schließlich zu einem Bekenntnis für Demokratie und Bürgerrechte. Es fällt schwer, sich weiterhin für neoliberale Marktwirtschaft einzusetzen, wenn man zugleich die USA wegen ihres Krieges im Irak und ihren Versuchen, die Ölressourcen zu kontrollieren, kritisiert. Wenn man sich auf die Politik der Sicherung von Ölressourcen einlässt, muss man sich damit auseinandersetzen, welche Modernisierung man für China anstrebt und wie sich das mit der Frage der Energiesicherung verträgt. Die Diskussionen hierzu waren in China sehr lebhaft. Natürlich wurde darüber in den westlichen Medien nicht viel berichtet. Die greifen nur auf, was sie gern hören und sehen wollen.
iz3w: Woran liegt das? An der Sprachunkenntnis vieler westlicher Korrespondenten, die kein Chinesisch können?
LCK: In den westlichen Medien wird Chinas Wirtschaftsreform und Weltmarktintegration sowie der Einparteien-Herrschaft viel Aufmerksamkeit geschenkt. Viele andere wichtige Themen werden ausgelassen, obwohl es innerhalb Chinas viele interessante Berichte und Diskussionen in kleineren oder lokalen Zeitschriften gibt. Darum versuchen wir mit »China Reflected« einige Debatten vorzustellen, insbesondere über ländliche Entwicklung, die wir für sehr wichtig halten.
iz3w: Wie ist es um die chinesische Medienlandschaft bestellt?
LCK: Hin und wieder wird die eine oder andere Zeitschrift verboten. Aber es gibt einen wirklich großen Markt an Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Es wird von über 2.000 Zeitungen und 8.000 Zeitschriften gesprochen. Außerdem finden viele Diskussionen im Internet statt. Diejenigen, die Zugang zum Netz haben sind, sind Intellektuelle jüngeren und mittleren Alters. Hin und wieder haben Web-hosts Schwierigkeiten mit den Behörden und werden ins Gefängnis gebracht. Das Ausland registriert diese Kontrolle und Zensur in China sehr aufmerksam. Aber 90 Prozent von dem, was diskutiert wird, liegen außerhalb der Kontrolle durch den Staat.
iz3w: Welche Themen werden in Chinas kritischer Öffentlichkeit vor allem diskutiert?
LCK: Ein wichtiges Problem, das früher wenig Beachtung gefunden hat, ist die Situation auf den Land. Der Grund dafür ist die zunehmende Sichtbarkeit von Arbeitsmigration aus den ländlichen Regionen in die Städte. Es handelt sich um rund 200 Millionen Menschen, die aufgrund des Arbeitskräfteüberschusses auf dem Land in die Städte ziehen. Vielen ist nicht bewusst, dass die landwirtschaftliche Nutzfläche in China pro Kopf sehr klein ist. Viele verschiedene Faktoren tragen zu diesen Wanderungsbewegungen bei: Die Maßnahmen der Zentralregierung wie der lokalen Behörden, der Bedarf an Geld und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten in den Städten. Aber im Allgemeinen ist die Frage der ländlichen Entwicklung für die städtischen Intellektuellen nicht von großer Bedeutung. Die meisten gehen davon aus, dass es sich hier um ein Problem der unzureichenden Modernisierung handelt. Der Staat ist allerdings besorgt über die sich verschlechternde Lage der ländlichen Bevölkerung.
iz3w: Ist der soziale Hauptwiderspruch zwischen ländlicher und urban-industrieller Entwicklung anzusiedeln?
LCK: Ich würde es nicht in einer solchen Gegensätzlichkeit beschreiben. Auch in den städtischen Regionen erleben wir eine gegenüber früheren Zeiten wesentlich verschärfte Ausbeutung von Frauen. Viele der sozialen Widersprüche, die wir heute in China in ihren kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Dimensionen beobachten, sind nicht einzigartig, sondern geradezu klassisch für Entwicklungsländer. Die Besonderheit in China ist die Frage, welche Menschen die Elite bilden, wer über die Möglichkeit verfügt, sich die Reichtümer anzueignen. In China herrscht noch immer der Einparteien-Staat. Die Eliten in der Partei- und Staatshierarchie haben Vorteile aus der Übergangssituation gezogen und kontrollieren die wesentlichen Rohstoffquellen, die großen Unternehmen und das Kapital. Chinas wirtschaftlicher Übergang ist schon weit gediehen, auch wenn anscheinend noch keine politischen Veränderungen des Regimes stattgefunden haben. Man könnte es als eine Art friedlichen Übergang mit schwerwiegenden Folgen bezeichnen. Noch immer kontrolliert eine Minderheit den gesellschaftlichen Reichtum und verteilt ihn ungleich. Es ist daher wichtig, sich um die Situation der Mehrheit der Menschen zu kümmern, selbst wenn es heute bereits eine beachtliche Mittelklasse gibt, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten aufgrund von Aufstiegsmöglichkeiten herausbilden konnte.
iz3w: Wie groß ist diese Mittelklasse?
LCK: Sie macht zwischen zehn und zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus, je nach dem, wie man sie definiert. Beispielsweise wird von 250 Millionen Handy-Besitzern berichtet. Darum sagen ja einige Leute auch, dass die derzeitige Mittelklasse für den Markt ausreichend groß ist. Das Problem bleibt, dass 70 Prozent der Chinesen kaum über etwas verfügen. Es gibt unzählige Geschichten darüber, dass Arbeiter ihren Lohn nicht ausbezahlt bekommen. Jeder in China weiß, dass das Missverhältnis zwischen Arm und Reich wächst. Es handelt sich aber nicht nur um eine Spannung zwischen den Menschen, sondern auch zwischen den Menschen und der Natur. In China hat sich im letzten Vierteljahrhundert so viel verändert, wenn man sich Degeneration der Umwelt und idiotische Projekte wie die Aufstauung des Yangtse-Flusses sowie die Lage der dort benachteiligten Menschen ansieht. Es gibt reichlich Gründe für große Besorgnis.
iz3w: Was sind weitere Hauptthemen der chinesischen Öffentlichkeit? Der autoritäre Staat?
LCK: Die meisten Menschen kümmert das nicht so sehr. Natürlich gibt es bestimmte Tabus in China, Dinge, die man nicht sagen oder auf dem Tiananmen-Platz machen darf. Wenn jemand politisch hoch sensible Bereiche aufgreift und verhaftet wird, wird diese Nachricht in den westlichen Medien erscheinen. Aber häufig handelt es sich dabei nicht gerade um zentrale Probleme, welche die meisten Menschen in China bewegen, anders als zum Beispiel Korruption, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Armut und Kriminalität.
iz3w: Wird in China viel über Menschenrechte diskutiert?
LCK: Es gibt viele Diskussionen über konkrete Lebensbedingungen, wie z.B. unter Bauern über die Verfügbarkeit von sauberem Wasser, das von der Industrie verschmutzt wird. Diese Fragen interessieren die westlichen Medien aber wenig. Ich habe das Gefühl, sie leben immer noch in einer Welt des Kalten Krieges. Wenn sie über China berichten, dann über den Eisernen Vorhang, den autoritären Staat, Korruption und Menschenrechtsverletzungen. Politische Rechte werden aber auch in den USA oft verletzt, etwa im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Terrorismus und der damit verbundenen Inhaftierung ohne ordentliche Gerichtsverfahren. Man ist im Westen viel mehr über die 3.000 Todesopfer des Anschlages auf das World Trade Centre besorgt als über die mehr als 30.000 Kinder, die weltweit täglich an Hunger und heilbaren Krankheiten sterben. Deshalb meinen wir, dass unsere Aufmerksamkeit verschoben werden sollte. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht um die Menschenrechte sorgen. Wir Intellektuelle sind aber keine in zwischenstaatlichen Konflikte verwickelten Politiker. Wir haben kein Interesse daran, das Thema Menschenrechte aus taktischen Erwägungen für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Wir können mit der Frage der Menschenrechte kritischer umgehen. Obgleich sie Universalität für sich beanspruchen, ist der Diskurs über Menschenrechte eurozentrisch und nach dem Modell des erwachsenen Mannes in einer modernen, westlichen und christlichen Kultur gestaltet. Menschenrechte können aufgrund der Blindheit gegenüber ihrer eigenen Entstehungsgeschichte in nichtchristlichen Kulturen sehr problematisch werden. Für uns, von der Position der regierten Menschen aus, sind Rechte sehr wichtig, aber nicht wie sie im Menschenrechtsdiskurs behandelt werden, sondern eher in Bezug auf die Lebensbedingungen. Politische Rechte - wie das auf Gründung von Gewerkschaften - und soziale Gleichheit dürfen nicht voneinander getrennt betrachtet werden.
iz3w: Die Menschenrechtslage in China spielt doch aber im Westen nicht nur für Kalte Krieger eine wichtige Rolle, sondern auch für NGOs.
LCK: Ich habe Vorbehalte gegenüber Menschenrechtsgruppen außerhalb Chinas, die sich für politische Rechte einsetzen, aber nicht in der Lage sind, Veränderungen herbeizuführen. Sie setzen auf eine Statistenrolle, wie z.B. Lobbyarbeit bei der US-Regierung, um China anzuprangern oder die Aufmerksamkeit der westlichen Medien zu erlangen. Ich finde, Parolen helfen wenig. Die soziale Wirklichkeit Chinas ist sehr kompliziert. Dort, wo es Ungerechtigkeit gibt, finden die Menschen den Raum, sich zu organisieren, Petitionen einzureichen, ihr Land zu verteidigen, für Entschädigungen zu kämpfen und sich für Veränderungen einzusetzen. Sie müssen dabei gegen viele Mächte kämpfen, nicht nur gegen die Regierung und die Bürokratie, sondern auch gegen die multinationalen Unternehmen, die zu einer starken Kraft geworden sind. In diesem Kampf - etwa um die Verteidigung der Frauen- und Arbeiterrechte - spielen auch staatliche und halbstaatliche Institutionen wie die Frauenförderation oder die Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Wir sollten uns ansehen, wie in den verschiedenen Bereichen vor Ort gegen die Auswirkungen der Logik des Freien Marktes und des Kapitals gekämpft wird.
iz3w: Worin besteht das Hauptproblem chinesischer Intellektueller?
LCK: Zwischen den Intellektuellen und den Menschen, um deren Anliegen sie sich vorgeblich kümmern, besteht eine Kluft. Immer noch ist der negative Einfluss der Kulturrevolution zu spüren, als Intellektuelle und einfache Leute zwangsweise zusammengebracht wurden und doch nur ein Keil zwischen sie getrieben wurde. Die meisten Intellektuellen bleiben heute in ihrem akademischen Elfenbeinturm oder werden Berater von multinationalen Unternehmen, NGOs oder der Weltbank. Es gibt inzwischen eine Reihe von Aufstiegsmöglichkeiten, die meines Erachtens korrumpieren. Angesichts eines Gehaltes von ca. 1.500 Yuan für einen Regierungsangestellten oder Akademiker sind Angebote von 6.000 bis 10.000 Yuan von einer vom Ausland finanzierten NGO attraktiv. Die Krise in China liegt nicht so sehr in der staatlichen Unterdrückung begründet. Es gibt viel Raum, um an Veränderungen zu arbeiten, aber viele Intellektuelle machen keinen Gebrauch davon.
Das Interview wurde von Peter Franke geführt und aus dem Englischen übersetzt. Als "Asia-Europe Issue Interpreter" von ARENA soll er einen Dialog zwischen den sozialen Bewegungen und Zivilgesellschaften in Asien und Europa entwickeln.
erschienen in: iz3w 277, Freiburg 2004
China: Der Preis der Reformen
Die 89er Bewegung und die Wurzeln des Neoliberalismus in China
Die Niederschlagung der Protestdemonstrationen auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« durch den Staat markierte 1989 das vorläufige Ende der Demokratiebewegung in China. Die wirtschaftlichen »Reformen« hingegen wurden unter Beteiligung von Teilen der Bewegung fortgeführt. Die chinesische Variante des Neoliberalismus funktioniert aber nur unter den Bedingungen eines repressiven Staates.
von Wang Hui
Seit Ende der 1970er Jahre und verstärkt seit 1989 setzt Chinas Staat auf radikale Marktorientierung und Eingliederung in die Weltwirtschaft. Infolge des Reformprozesses, der vorläufig in Chinas WTO-Mitgliedschaft gipfelt, wurde der Neoliberalismus zum hegemonialen Diskurs in China. Ohne die Intervention des Staates - der zwar das politische System beibehielt, aber all seine anderen gesellschaftlichen Funktionen veränderte - hätte dies nicht umgesetzt werden können. Um die historischen Wurzeln des Neoliberalismus in China zu verstehen, an dem keine Debatte über alternative Perspektiven vorbeikommt, muss man insbesondere auf zwei historische Entwicklungen zurückblicken: auf die ökonomischen Transformationen zwischen 1978 und 1989 sowie auf das Scheitern der sozialen Bewegung, deren soziale und demokratische Bestrebungen am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz regelrecht zermalmt wurden.
Die soziale Mobilisierung der 89er Bewegung geht auf den Reformprozess ab 1978 zurück. Dessen erste Phase von 1978 bis 84 betraf vor allem die ländlichen Gegenden, die zweite urbane Phase schloss sich daran an. Die ersten Reformen erwiesen sich durchaus als Erfolg: Durch die Erhöhung der Preise für landwirtschaftliche Produkte, durch die Steigerung des Konsums in ländlichen Regionen sowie durch die Entwicklung lokaler Industrien wurden die Einkommensunterschiede zwischen Land und Stadt verringert. Obwohl die partielle Einführung von Marktmechanismen eine unterstützende Rolle spielte, basierten die Reformen auf traditionellen Praktiken der Landverteilung in China, die am Gleichheitsprinzip orientiert sind. Die chinesische Provinz verwandelte sich somit von einem Staatsmonopolismus der Volkskommune zu einem kleinbäuerlich-sozialistischen, anti-monopolistischen Modell. Dies führte zum Wachstum der landwirtschaftlichen Produktivität und verringerte zumindest zeitweise die Polarisierung zwischen Stadt und Land.
Chinesische Globalisierung
Die sich anschließende urbane Phase ab 1984 wird gemeinhin als entscheidendes Moment der Marktexpansion interpretiert. Betrachtet man jedoch ihren tatsächlichen sozialen Gehalt, war ihr Kern vor allem die Dezentralisierung von Macht und Interessen. Damit ist die Umverteilung sozialer Privilegien und Interessen durch den Transfer sozialer Ressourcen gemeint, die zuvor vom Staat und nun von lokalen und regionalen Stellen kontrolliert und koordiniert wurden. Dies lässt sich an den sinkenden Staatsausgaben ablesen: 1978 betrugen sie noch 37,2 Prozent des Bruttosozialproduktes, 1998 nur noch 19,3 Prozent. Angesichts deflationärer Bedingungen, welche die Bedeutung ausländischer Investitionen und ausländischen Kapitals massiv stärkten, gewannen die lokalen Regierungen an Autonomie und Macht.
Dieser Trend führte zu Steuerflucht, zur Beschaffung von Finanzmitteln durch lokale Regierungsinstitutionen, zu deren Kontrolle über den Bankverkehr und sogar zur Entwicklung eines großangelegten Schmuggelwesens. Der chinesische Soziologe Zhang Wanli stellte fest, dass die Dezentralisierung die Macht der öffentlichen Organe über die Verteilung des Volkseinkommens nicht minderte; vielmehr wurde lediglich die Macht der Zentralregierung geschwächt. Die neuen lokalen Formen der Intervention in die Wirtschaft waren sogar eher direkter als die der Zentralregierung. Sie führten nicht zum Verschwinden der Kommandowirtschaft, eher zur Miniaturisierung dieser traditionellen Struktur. Die Betonung lag dabei auf der Reform der Staatsunternehmen, die fortan größere Autonomie haben sollten und dazu gezwungen wurden, ihre Aktivitäten und ihr Management zu reorganisieren. Im Zuge der Reformen führten Fusionen, Vermögenstransfers und Firmenschließungen zu Veränderungen der Produktionsbeziehungen. Unter dem Druck der wachsenden Arbeitslosigkeit bevorzugte der Staat Umstrukturierungen gegenüber Schließungen, doch die Hauptrichtung der Reformen wurde beibehalten. Während der Staat seine bisherigen Eingriffe in Industrie und Handel aufgab und die Planwirtschaft in eine makroökonomische Anpassungspolitik umwandelte, wurde die ungleiche Ressourcenverteilung des alten Kommandosystems in neue Ungleichheiten transformiert.
Die urbane industrielle Reform betraf die gesamte nationale Volkswirtschaft. Angesichts des Mangels an demokratischer Kontrolle und unzureichender wirtschaftlicher Strukturen war es nahezu unausweichlich, dass der Reformprozess extreme soziale Ungleichheiten hervorbringen würde. Die Position und die Interessen der Arbeiter - und sogar die der Staatsangestellten - wurden massiv unterminiert. Dies äußerte sich in zurückgehenden Einkommen, in wachsenden Disparitäten innerhalb der jeweiligen sozialen Schichten sowie in einer zunehmenden Beschäftigungsunsicherheit von Schwachen, Kranken, Behinderten und Schwangeren. Nichtsdestotrotz umgab die Reform eine Aura der Legitimität - dank ihrer unbestreitbaren Liberalisierungseffekte, der von ihnen ausgelösten intellektuellen Debatten und der Einbeziehung der grassroots-Ebene. Die Stabilität des Staates während der 1980er Jahre basierte nicht allein auf Zwang, sondern gerade auch auf diesen Momenten.
Marktwirtschaft mit Staatsbetrieben
Mitte der 1980er Jahre lösten die wachsende Inflation, das drohende ökonomische Chaos und die massenhafte soziale Unsicherheit eine Debatte über das weitere Vorgehen aus. Ihre beiden Hauptthemen waren die Wahl zwischen radikaler Reform der Besitzverhältnisse versus Strukturanpassung unter staatlicher Aufsicht sowie die zwischen einem am Markt orientierten Preissystem versus großangelegte Privatisierung von Staatsbetrieben. Man entschied sich dazu, marktorientierte Preisreformen vorzunehmen und zuungunsten von Privatisierungen an der Reformierung der Staatsbetriebe festzuhalten. Dieses Vorgehen war im großen und ganzen erfolgreich, weil die Preisreformen alte Monopole aufbrachen und die Marktmechanismen stärkten.
Doch brachte dies auch eine Reihe von Problemen mit sich. China hatte ein zweigleisiges Preissystem: Die Preise für die Produktionsmittel wurden vom Staat festgesetzt, während die Preise für Konsumgüter vom Markt reguliert wurden. Dieses duale System förderte jedoch Korruption und andere illegale Aktivitäten unter den staatlichen Organen, die es zu ihrem Vorteil nutzten. Zugleich führte die Reformierung der Staatsbetriebe trotz einer Rhetorik der Trennung von Politik und Wirtschaft dazu, dass ein Großteil ihrer Ressourcen legal oder illegal zugunsten einer kleinen Minderheit transferiert wurde. Somit fand öffentlicher Besitz seinen Weg in die Taschen einiger privater Rentiers. Hinzu kam, dass die Ausweitung des Kontraktsystems, das es lokalen Regierungsbehörden gestattete, Verträge mit ausländischen Investoren oder Handelsunternehmen abzuschließen, ab 1988 zu Inflation führte.
Um diesen Problemen zu begegnen, kündigte die Regierung 1988 an, das duale Preissystem zugunsten reiner Marktpreise aufzugeben. Dies führte jedoch zu Panikkäufen und zu sozialer Instabilität, weshalb der Staat zu einer stärkeren Überwachung der Wirtschaft zurückkehrte. Das brachte wiederum wachsende Widersprüche zwischen dem Staat und den Resultaten seiner eigenen Politik mit sich: den lokalen und regionalen Interessensgruppen. Der hauptsächlich motivierende Faktor hinter der 89er Bewegung war die Entstehung neuer sozialer Ungleichheit. In städtischen Regionen polarisierten sich die Einkommensunterschiede der einzelnen Schichten extrem. Die »eiserne Reisschüssel« der Arbeiter war bedroht. Unter den Angestellten der Staatsbetriebe wuchs die Arbeitslosigkeit (wenngleich noch nicht auf das heutige dramatische Ausmaß). Die Inflation trieb die Lebenshaltungskosten in die Höhe, während die Sozialleistungen stagnierten. Die Arbeiter waren allerdings nicht die einzigen Opfer: Zwischen den Angestellten im öffentlichen Sektor und jenen, die in der Privatwirtschaft tätig waren, klaffte die Einkommensschere ebenfalls weit auseinander. Vor diesem Hintergrund kam es innerhalb des Staatsapparates zu Interessenskonflikten, die zur Legitimationskrise des Staates beitrugen. Sie erfassten auch jene Intellektuelle innerhalb des Staatsapparates, die an der Definierung der Reformideologie beteiligt waren.
Klassen übergreifend
Zwar haben die meisten Studien die Rolle der StudentInnen, der Intellektuellen sowie der Reformkräfte innerhalb des Staatsapparates betont. Die soziale Bewegung, die zu Tiananmen führte, mobilisierte jedoch größere Teile der Gesellschaft. Natürlich spielten die StudentInnen darin eine wichtige Rolle, und die intellektuellen Freiheiten und Einsichten der 80er Jahre unterliefen alte Ideologien und öffneten neue Horizonte kritischen Denkens. Aber die Spontaneität und die Breite des Protestes von 1989 demonstrierten eine weitaus größere und differenziertere soziale Basis. Die Bewegung umfasste ArbeiterInnen, selbstständige Unternehmer, staatliche Kader, LehrerInnen und viele andere. Selbst Mitglieder des Zentralkomitees, verschiedener Ministerien, des Volkskongresses sowie verschiedene Presseorgane (wie z.B. das Sprachrohr der Partei, die Volkszeitung und die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua) waren daran beteiligt. Mit Ausnahme der ländlichen Kleinbauern waren Menschen aus allen sozialen Klassen an der Bewegung beteiligt, was die wachsenden Widersprüche innerhalb des Staates offenbarte.
Die Grundforderungen der StudentInnen und Intellektuellen umfassten Verfassungsrechte wie eine funktionierende demokratische Politik, Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie die Rechtsstaatlichkeit (statt personaler Herrschaft). Sie verlangten, dass der Staat die Bewegung als eine patriotische, studentische Bewegung anerkenne. Vertreter anderer sozialer Schichten unterstützten die Forderungen der Studenten, füllten sie aber mit wesentlich konkreteren sozialen Anliegen. Sie verlangten nach Widerstand gegen Korruption, Misswirtschaft und die Privilegien der Parteikader, nach stabilen Preisen, nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit sowie nach Regulierung der Verhältnisse in Hainan (einem Gebiet, das ausländischen Investoren offen stand).
Bemerkenswert an der Mobilisierung von 1989 ist, dass sie das traditionelle System des »alten Staates« kritisierte, ihre Forderungen aber an den neuen »Reformstaat« und dessen Politik richtete. Damit soll nicht gesagt sein, dass es keine Kontinuitäten zwischen neu und alt gab; der »neue Staat« samt seiner Förderung von Markt und sozialem Wandel beruhte auf dem politischen Instrumentarium des »alten Staates« ebenso wie auf dessen Methoden der ideologischen Herrschaft. Die 89er Bewegung war daher eine spontane Protestbewegung sowohl gegen die durch die Marktexpansion verursachten Ungleichheiten als auch gegen die Methoden der autoritären Herrschaft. Ähnlich wie der Staat zeichnete sich jedoch auch die Bewegung durch unterschiedliche Strömungen aus. Unter ihnen waren Interessensgruppen, die zu den Gewinnern des Dezentralisierungsprozesses der 1980er Jahre gehörten und die inzwischen mit der daraus hervorgegangenen Strukturanpassungspolitik unzufrieden waren. Sie forderten nunmehr vom Staat radikalere Privatisierungsprogramme. Dies brachte sie in eine Position zwischen der höheren Staatsnomenklatura und der Bewegung. Letztere instrumentalisierten sie dazu, die internen Machtbeziehungen innerhalb des Staates zu ihren Gunsten zu verschieben.
In diesem Umfeld begann sich die neoliberale Ideologie auszubreiten. Ihre zentralen Bestandteile waren die Radikalisierung des Trends zur Dezentralisierung von Macht und sozialen Errungenschaften sowie der Forderung nach umfassender Privatisierung, die mangels demokratischer Kontrolle mit dem bestehenden Gesetzesverfahren legal umgesetzt werden sollte. Dieser während der Legitimitätskrise des Staates voranschreitende Marktradikalismus wurde zunächst als »Neo-Autoritarismus« oder als »Neokonservatismus« bezeichnet (um so die Nutzung des Staates und seiner Eliten zugunsten von radikaler Marktexpansion zu charakterisieren). Die chinesischen Neoliberalen nahmen zur Kenntnis, dass der Staat im Kontext von Globalisierung und Binnenmarktexpansion eine entscheidende Rolle spielte: Marktausweitung verlangt Staatsintervention. Gegenüber der Weltöffentlichkeit gaben sich die chinesischen Neoliberalen als Gegner des Staates aus, als Kämpfer gegen die »Tyrannei«. Innerhalb des Landes hingegen setzten sie auf den extrem konservativen Staat, um ihre Politik durchzusetzen. Hier handelte es sich um komplexe Beziehung mit gegenseitiger Abhängigkeit.
Das Scheitern der Bewegung
Sämtliche sozialen Schichten unterstützten die Ausweitung politischer und wirtschaftlicher Reformen und Dezentralisierungsprozesse. Doch was sie darunter verstanden und davon erwarteten, variierte erheblich. Die große Mehrheit der Bevölkerung dachte an weitaus mehr als nur an vordergründig neue Verfahrensweisen in Politik und Justiz. Sie hoffte auf eine Reorganisation von Politik und Rechtssystem, die soziale Gerechtigkeit und die Demokratisierung des wirtschaftlichen Lebens gewährleistet. Doch diese Forderungen standen in grundsätzlichem Widerspruch zu jenen Interessensgruppen, die eine radikale Privatisierung verlangten. Zum damaligen Zeitpunkt wurde dieser Konflikt jedoch noch gar nicht recht erfasst. Diese Interessensgruppen hatten vom bisherigen Reformprozess am meisten profitiert und nahmen an der Bewegung teil, um daraus für sich Vorteile zu ziehen. Deswegen ist es wenig sinnvoll, mittels der Unterscheidung von »pro« oder »contra« Reformen die Charakteristika der 89er Bewegung zu erfassen. Die Ereignisse am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmenplatz zerstörten die historischen Chancen, die in der Bewegung lagen. Ihr Scheitern geht direkt auf die Gewalt des Staates zurück. Indirekt ist jedoch auch die Unfähigkeit der Bewegung dafür verantwortlich, Brücken zwischen den Forderungen nach demokratischer Politik und nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu bauen. Die Bewegung war nicht in der Lage, eine stabile soziale Kraft zu bilden. Indem der sozialistische Staat zum Hauptziel der Opposition wurde, erwies sich das kritische Denken zudem als unfähig, die Besonderheiten der sozialen Widersprüche in China zu verstehen: Während der Staat vor der Reform unter dem Deckmantel der Gleichheit mittels Planung und Zwang systemische Ungleichheit sicherte, transformierte der ›Reformstaat‹ diese systemische Ungleichheit in Einkommensunterschiede zwischen Klassen und sozialen Schichten, was zu scharfer sozialer Polarisierung führte. Die Kritiker begriffen insbesondere nicht, dass im Zuge der sozialen Mobilisierung der 80er Jahre der »Sozialismus« der alten Staatsideologie, wie er im System des Staatsmonopols zum Ausdruck kam, längst aufgegeben worden war - zugunsten eines neuen Sozialismus, der gerade durch die Verbindung von Staatsmonopol und Marktexpansion soziale Sicherheit, Gleichheit und Demokratie zu erreichen vorgab. Trotz der darin liegenden Widersprüche und der verschiedenen Vorhaben der unterschiedlichen Interessensgruppen, richtete die soziale Bewegung sich allein gegen das Staatsmonopol und die damit verbundenen Privilegien und setzte Demokratie und soziale Sicherheit dagegen.
Die 89er Bewegung sollte im Kontext von nationaler und globaler Marktexpansion und als Teil einer Entwicklung gesehen werden, die beispielsweise 1999 in Seattle in Protesten gegen die WTO und den IWF kulminierten. All diese Mobilisierungen drückten die utopische Hoffnung aus, egalitäre demokratische Reformen und individuelle Freiheit miteinander zu verbinden. Doch anstatt diese Doppelgleisigkeit zu sehen, war die weltweit dominierende Einschätzung der 89er Bewegung monokausal: Letztere wurde ausschließlich als Beweis für die Überlegenheit des westlichen Systems gesehen. Dies raubte der Bewegung ihre wahre historische Bedeutung und ihren kritischen Impetus als Protest gegen die neue Hegemonie und die neue Tyrannei in China - nicht allein gegen die alte. Nach 1989 wurde der Neoliberalismus in China wie in der gesamten Welt zur vorherrschenden Ideologie. Der Staat trieb Reformen und Strukturanpassung voran, insbesondere nach Deng Xiaopings Reise in die weiterentwickelten südlichen Küstenprovinzen 1992 (»SouthernTour«). Aufgrund der Androhung von Gewalt war jeglicher sozialer Widerspruch in sehr kleine Nischen abgedrängt worden. Im September 1989, nur drei Monate nach dem 4. Juni, setzte der Staat die beiden bislang wenig erfolgreichen und unvollständigen Preisreformen der 1980er Jahre durch. Die Währungspolitik wurde ein wichtiges Instrument wirtschaftspolitischer Kontrolle. Die Wechselkurse wurden vereinheitlicht, um die Exporte anzukurbeln. Der Wettbewerb im Außenhandel führte zur Gründung und zum Wachstum von Managementfirmen. Der Pudong-Distrikt im Westen von Shanghai - vormals Agrarland - wurde für wirtschaftliche Entwicklung geöffnet, und auch andernorts schossen »development areas« wie Pilze aus dem Boden.
Reformen mit Gewalt
In den folgenden Jahren öffnete sich die Einkommensschere in allen sozialen Schichten und in allen Regionen. Die neue Armutsbevölkerung wuchs rasch. Dieser historische Wendepunkt brachte die alte Ideologie (die auf sozialer Gleichheit basierende sozialistische Weltanschauung) in direkten Widerspruch zur Realität. Die bisherige Funktion der Staatsideologie konnte nicht mehr erhalten werden. Nach 1989 implementierte der Staat daher die Strategie des »Stark auf beiden Fronten«, womit Ideologie und Ökonomie gemeint waren. Zusammen mit den wirtschaftlichen Reformen erwies sich dies als neue Methode der Tyrannei. Der Neoliberalismus wurde zum Ersatz für die bisherige Staatsideologie und gab die Grundrichtung der Staatspolitik, der internationalen Beziehungen und der entstehenden Wertvorstellungen in den chinesischen Medien vor.
Die Herausbildung der Marktgesellschaft in der 90er Jahren rüttelte nicht an den Bedingungen, die die 89er Bewegung hervorgebracht hatte. Im Gegenteil, sie legalisierte diese nurmehr. Alle bedeutenden Krisen der 1990er Jahre - Korruption, Privatisierung, der Einfluss von Interessengruppen auf die Politik, Immobilienspekulation in Shanghai, Hainan und andernorts, Finanzblasen, der Niedergang des sozialen Systems sowie die Arbeitslosigkeit - gehen direkt auf die Verhältnisse vor 1989 zurück. Der Unterschied zu damals besteht lediglich darin, dass seitdem das Ausmaß der Probleme und aufgrund der Globalisierung auch ihre räumliche Ausbreitung größer geworden sind. Die Marktexpansion, deren soziale Polarisation die Fundamente der Gesellschaft untergräbt, schuf die Bedingungen für Autoritarismus und Monopole. In diesem Sinne ist die Privatisierung eng mit autoritärer Politik verbunden. Diese Art autoritärer Durchsetzung des Marktes ist auch im ländlichen Sektor sichtbar, wo die landwirtschaftliche Arbeit zu Lohnarbeit wurde. Die überschüssigen Arbeitskräfte wurden in die städtischen Gebiete transferiert, um dort im Bau- und Infrastruktursektor eingesetzt zu werden. Diese Migration wurde indessen durch lokale und regionale Regierungsmaßnahmen eingeschränkt, was diskriminierende Verfahren entlang zugeschriebener sozialer Identitäten zur Folge hatte. Heute ist über ein Zehntel von Chinas Bevölkerung zwischen den und innerhalb der Regionen ständig in Bewegung. Besonders seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1996 wurde die ›überschüssige‹ landwirtschaftliche Arbeitskraft zu einem großen sozialen Problem und zu einer Hauptursache von Chinas derzeitiger »ungleicher Entwicklung«.
Natürlich hatten die wirtschaftlichen Reformen und die Öffnung nicht nur negative Effekte. Sie befreiten China von vormaligen Zwängen und von den Entstellungen durch die Kulturrevolution. Deshalb wurden die Reformen von den meisten chinesischen Intellektuellen begrüßt. Doch von einem historischen Standpunkt aus betrachtet haben sie auch tiefe Wunden hinterlassen.
Die Moderne neu denken
Für die nach der Kulturrevolution aufgewachsene Generation in China kommt alles relevante Wissen aus dem Westen, insbesondere aus den USA. Asien, Afrika und Lateinamerika - ganz zu schweigen von Ost- und Südeuropa - werden trotz ihrer vitalen Wissens-Kulturen vollkommen aus der intellektuellen Wahrnehmung ausgeblendet. Die Zurückweisung der Kulturrevolution ist zu einer Methode geworden, um die heute herrschende Ideologie und Politik zu verteidigen: zeitgenössische Kritik daran wird als irrationale Rückkehr zur Kulturrevolution zurückgewiesen. Umgekehrt ist die Kritik am Sozialismus und an der chinesischen Tradition zu einer Art Rechtfertigung von westlichen Entwicklungs- und Modernisierungsmodellen geworden.
Doch der westliche Kapitalismus und die Geschichte seiner globalen Expansion können nicht der Standard werden, an dem China sich misst. Im Gegenteil, er muss zum Gegenstand der Kritik werden - nicht um der Kritik willen, sondern um die Bedeutung der Geschichte und ihre neuen Möglichkeiten zu würdigen. Es geht dabei nicht darum, die Moderne zurückzuweisen, die ja zuvorderst eine Befreiungsbewegung von historischer Teleologie, von historischem Determinismus und Systemfetischismus ist. Es geht vielmehr darum, die Erfahrungen Chinas und anderer Gesellschaften für theoretische und systemische Neuerungen nutzbar zu machen. Historisch betrachtet war die chinesische sozialistische Bewegung sowohl eine Widerstands- als auch eine Modernisierungsbewegung. Um zu verstehen, wie das Streben nach Gleichheit und Freiheit letztlich in systemische Ungleichheit und soziale Hierarchien mündete, muss der Prozess der Modernisierung als solcher hinterfragt werden. Und es muss ein Weg zu einem Demokratisierungsprozess gefunden werden, der soziale Polarisierung und Desintegration vermeidet.
Der Historiker Wang Hui ist Professor an der Tsinghua Universität in Peking und der Chinese Academy of Social Sciences. Er gilt als einer der profiliertesten Kritiker der Wirtschaftsreformen in China. Zuletzt erschien von ihm: China's New Order. Society, Politics, and Economy in Transition (Harvard University Press 2003). Die ungekürzte Originalfassung des Artikels erschien unter dem Titel »The 1989 Social Movement and the Historical Origins of Neo-Liberalism in China« in China Reflected, Asian Exchange Vol. 18/19, No. 1/ 2, S. 211 - 223. Übersetzung aus dem Englischen: Christian Stock
Anmerkungen
Die Mehrheit derer, die hierbei während der "Neuen Ära" von 1978-88 eine wichtige Rolle spielten, waren ältere intellektuelle Führungskräfte von Universitäten und Forschungsinstituten. Die Einordnungen »links« und »rechts« rühren von den Fraktionierungen und Debatten innerhalb des Staats- und Parteiapparates her und wurden dann auf Intellektuelle im allgemeinen übertragen. Selbst heute wird das Modell der innerparteilichen Fraktionierung noch verwendet, um Chinas soziale Polarisierung mit den Begriffen »links« und »rechts« zu charakterisieren.
erschienen in: iz3w 277, Freiburg 2004
China: Wachsende Ungleichheit
Die Konsumideologie in der chinesischen Gesellschaft
Um das Wachstum auch in Zeiten weltwirtschaftlicher Krisen aufrechtzuerhalten, setzt Chinas Wirtschaftspolitik zunehmend auf den Binnenkonsum. Obwohl sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Luxusgüter leisten kann und obwohl die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Politik katastrophal sind, wird der Konsumismus zur vorherrschenden Ideologie.
von Chen Xin
In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts reihte sich in den asiatischen Ländern eine Wirtschaftskrise an die andere. Kurz darauf sprang die Krise auf Russland, Brasilien und in andere Länder über. Dies hatte große Auswirkungen auf die globale Ökonomie, und auch Chinas Exporte erfuhren dadurch einen rapiden Verfall. Um die negativen Einflüsse einzudämmen, reagierte die chinesische Regierung mit der Umsetzung einer Reihe haushaltspolitischer und monetärer Handlungsstrategien. Diese zielten darauf ab, die Binnennachfrage zu verstärken, um den Druck durch abnehmende Exporte abzubauen und das nationale Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Ungefähr zwei Jahre lang gab die Regierung einige hundert Milliarden Yuan (zehn Yuan entsprechen ca. einem Euro) für infrastrukturelle Maßnahmen aus und tat alles, um den Konsum anzuregen - mit dem Ziel, ein jährliches Wirtschaftswachstum von acht Prozent aufrechtzuerhalten. Eine Zeit lang schien es, als ob für dieses sich modernisierende Land mit einer Bevölkerung von 1,3 Mrd. die größte Gefahr nicht die Rohstoffarmut oder das Bevölkerungswachstum wären, sondern die schwache Binnennachfrage und der träge Markt. So wurden die Gehälter der Regierungsangestellten erhöht und die Bankgebühren verringert. Um die heimische Nachfrage anzukurbeln, zeigte die chinesische Wirtschaftswelt all ihre Talente. Im ganzen Land setzte man Projekte um, viele Geschäfte machten einen »großen Räumungsverkauf« und es wurden Verbraucher-Kredite eingeführt. Schwacher Konsum wurde zum Feind Nummer eins der ganzen Nation erklärt. In der Folge blieb Chinas Wirtschaftswachstumrate zwischen 1998 und 2000 bei über 7 Prozent, und im Jahr 2003 betrug sie sogar 9,1 Prozent.
China entwickelte die typischen Charakteristika einer Konsumgesellschaft. Die Regierung forderte von ihrem Staatsvolk nicht länger, die Familie durch emsiges Arbeiten und sparsames Leben zu ernähren oder der chinesischen Tradition des ›harten Kampfes‹ zu folgen, sondern ermutigte es, den Konsum zu steigern. Das war das erste Mal in der Geschichte der alten chinesischen Nation, dass dem freizügigen Verbrauch eine moralische Legitimität im wahrsten Sinne des Wortes zugesprochen wurde. Mehr noch, der konsumorientierte Lebensstil wurde zur nationalen Ideologie. Damit wurde eine wesentliche Prämisse verändert. Es wird nicht mehr für den Verbrauch produziert, sondern umgekehrt: Es wird für die Produktion konsumiert! Daraus wird abgeleitet, dass alle Bedürfnisse, die künstlich erzeugt werden können, rational sind, da sie das Wirtschaftswachstum antreiben. Bis jetzt hat jedoch weder die Marktideologie noch die Marktrealität das Problem gelöst, wie die richtige Mischung zwischen drei Elementen aufrechterhalten werden kann: zwischen den gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, den partikularen Bedürfnissen einzelner Verbrauchergruppen und den Interessen der Produzenten.
Halb drinnen, halb draußen
Die gängige Meinung besagt, dass die Individuen in einer Marktökonomie aus ihren eigenen Interessen heraus rationale Entscheidungen treffen, die letztlich zur Maximierung des Gemeinwohles beitragen. Jedoch sieht die Wirklichkeit leider nicht so strahlend schön aus, wie es die Wirtschaftstheorie besagt. Der Strategie, wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen, indem man den Verbrauch anregt, stehen mehrere Hindernisse im Weg. Bildlich gesprochen ist China gerade mit einem Fuß in die Konsumgesellschaft eingetreten, während der andere Fuß aus der Tür hinausgedrängt wird. Der Widerspruch zwischen der Einkommens- und der Produktionsstruktur hat die konsumorientierte Nationalökonomie in ein tiefes Dilemma gestürzt.
Die 900 Millionen gering verdienenden Bauern sowie die große Zahl der städtischen Armen können es sich immer noch nicht leisten, die riesigen Mengen von überproduzierten Konsumgütern zu kaufen. Besorgt zerbrechen sie sich den Kopf darüber, wie sie ihre Sozialversicherungsbeiträge, die Ausbildung ihrer Kinder, ihre Rentenbeiträge, ihre medizinischen Kosten und ihre Wohnungsmiete bezahlen oder wie sie mit vorübergehender oder dauerhafter Arbeitslosigkeit zurechtkommen sollen. Und seit Beginn der Finanzkrise wurden zahlreiche chinesische Arbeiter - vor allem in arbeitsintensiven Unternehmen - in eine noch schlechtere Position gedrängt. Zur gleichen Zeit haben sich die höheren Einkommensgruppen Autos, luxuriösem Wohnen, Handys und zahlreichen IT-Produkten und -Diensten und anderen meist importierten Luxusartikeln zugewandt. Daher leisten auch sie keinen Beitrag zur Förderung der Binnennachfrage. China hat einen ungenügenden Binnenmarkt und eine zu geringe Binnennachfrage. Ein Großteil der Wirtschaftswissenschaftler jedoch sorgt sich einzig darüber, dass die chinesische Wirtschaft noch immer unregelmäßige und niedrige Überschüsse erwirtschaftet. Jedoch spiegeln der niedrige wirtschaftliche Überschuss und die verzerrte Konsumstruktur lediglich die ernstzunehmende Beeinträchtigung von Nachfrage und Bedarf wider. Die unteren Einkommensschichten sind zwar nicht in der Lage, vielen ihrer dringlichsten Bedürfnissen wie Basis-Gesundheitsversorgung und Bildung nachzukommen. Trotzdem haben sie begonnen, sich an Konsumgütern aus der Werbung und an den Wohlhabenden zu orientieren. Sie fühlen sich von den modernen Lebensstilen angezogen, die ihnen angepriesen werden.
Als kultureller Repräsentant der Interessen des globalen Kapitals stimuliert, ja zwingt die konsumorientierte Kultur und Ideologie die Bevölkerung, immerfort unnötige Güter zu erwerben, um Wirtschaftswachstum sicherzustellen, selbst wenn diese Konsumgüter nichts mit der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen zu tun haben. Der groß angelegte Konsum hat ein Bedeutungs- und Wertesystem geschaffen, das Individuen, Unternehmen und ganze Nationen unter seine Kontrolle bringt. Die Regierungen verschiedener asiatischer Länder haben seit dem Beginn der Wirtschaftskrise in Asien politische Strategien entwickelt, um den aktiven Konsum anzuregen. Dies jedoch impliziert nur, dass die wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die hinter dem Phänomen der konsumorientierten Kultur stehen, objektiv einen Konsens in Hinblick auf Steuerungsfunktionen zwischen Staat und Regierung hergestellt haben. Die Konsumgüterindustrie ist das vom Staat gewählte Mittel zur Erlangung seiner politischen und ökonomischen Ziele geworden. Natürlich hat China als Entwicklungsland, inmitten der enthusiastischen Beifallsbekundungen für die herrschenden politischen, ökonomischen und kulturellen Kräfte, kaum eine Wahl. Nichtsdestotrotz muss China seine Entwicklungsvorstellungen und -methoden neu überdenken, da das Land in den nächsten fünfzig Jahren eine Bevölkerung von 1,6 Milliarden Menschen haben wird. China besitzt relativ wenig Kapital, Technologien und Rohstoffe und ist mit sich verschlechternden ökologischen Bedingungen konfrontiert. Die Konsequenzen der konsumorientierten Lebensweise stellen daher eine riesige Herausforderung dar, derer wir uns annehmen werden müssen.
Keine Lösung für die Armen
Kann die chinesische Bevölkerung die luxuriöse Beute des Konsumismus unter sich aufteilen? Bereits in einem 1997 veröffentlichten Bericht mit dem Titel »Sharing the Continuously Rising Income« stellt die Weltbank fest: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in China größer als in den Industrieländern, in anderen Ländern Ostasiens, in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa. Ironischerweise widersprechen diese Feststellungen dem Titel des Berichts. Der zu verteilende Kuchen wird zwar immer größer, aber das Problem, wie man ihn auf gerechte und vernünftige Weise in Stücke schneiden und verteilen kann, wird immer offensichtlicher.
Neueste Verbraucherumfragen zeigen, dass die Nachfrage nach teuren dauerhaften Konsumgütern wie Farbfernsehgeräten, Kühlschränken, Waschmaschinen und Hifi-Anlagen, die in China erst ab Mitte der 1980er Jahre populär wurden, bereits Ende der 90er Jahre gesättigt war. Heute richten sich die Bedürfnisse der Stadtbewohner darauf, verbesserte Modelle zu kaufen. Zugleich steigt die Nachfrage nach Wohnungseinrichtungen, hochwertiger Haushaltsausstattung und Automobilen immer mehr. Im Jahr 2001 wurden 2,3 Millionen Autos verkauft, 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Gegensatz zu früheren Jahren wurden die Autos außerdem mehrheitlich von Privatleuten erworben, nicht mehr vom öffentlichen Sektor. Ebenso erfuhren private Wohnimmobilien 2001 eine Umsatzsteigerung von 30 Prozent.
Die Wohlhabenden in den Städten geben inzwischen zehntausende Yuan für den Konsum aus, während sich viele der ländlichen Verbrauchergruppen nicht einmal einen tausend Yuan teuren Farbfernseher leisten können. Der Besitz von Geräten wie Fernseher, Waschmaschinen und Kassettenrekorder beträgt hier - verglichen mit den Stadtbewohnern - nur ein Viertel bis ein Drittel. Die Mittel- und Großverdiener konsumieren großzügig Coca Cola, Milch, Fruchtsaft, bekannte Markenzigaretten und - weine, während es 50 bis 60 Millionen Landbewohnern noch immer an Trinkwasser fehlt. Und während die kaufkräftige Minderheit mehrere hundert oder sogar mehrere tausend Yuan für Kosmetika und Gesundheitsartikel ausgibt, erhält die Mehrzahl der 900 Millionen Landbewohner und der städtischen niedrigen Einkommensgruppen nicht einmal eine Basisgesundheitsversorgung. Angesichts der mangelhaften Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse der unteren Einkommensgruppen hat die konsumorientierte Lebensweise also keine Lösung gebracht. Im Gegenteil, sie hat den wirtschaftlichen und psychologischen Druck auf diese Gruppen verstärkt. Die Betroffenen sind nicht nur mit den alltäglichen Lebensschwierigkeiten konfrontiert, sondern müssen zusätzlich der Versuchung durch die so genannten modernen Konsumstandards und den vorherrschenden Moden widerstehen. Die Disparitäten im Konsumverhalten haben von Frustration und Ärger geprägte Handlungsweisen sowie neue Schicht- und Klassenunterschiede erzeugt, die nicht unterschätzt werden dürfen. Die wachsenden Spannungen zwischen der Partei und dem Volk, den Führern und den Massen, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern sind klare Manifestationen solcher Antagonismen. Sie zeigen sich im Anwachsen immer schlimmerer krimineller Aktivitäten, in kollektiven Appellen an die Autoritäten, in Protesten und Demonstrationen und selbst in Krawallen unterschiedlichster Art.
Manche Wirtschaftswissenschaftler behaupten, das alles seien nichts als unausweichliche und natürliche »Übergangsphänomene« in der Periode der sozialen und institutionellen Transformation. Sie behaupten, dass der Kuchen noch nicht groß genug sei, und dass noch keine angemessenen Regeln zur Teilung und Verteilung des Kuchens geschaffen seien. Diese Auffassung gründet auf der Annahme, dass Chinas Entwicklung einen vorgeschriebenen Weg einschlagen kann. Wenn das zutrifft, dann muss die Frage beantwortet werden, nach welchem Modell sich unser »sozialer institutioneller Übergang« ausrichtet: nach dem amerikanischen oder nach dem westeuropäischen Modell? Nach dem japanischen oder nach dem Modell Osteuropas, Nordeuropas, Russlands oder Südamerikas?
Massenhaft offene Fragen
Wenn wir die notwendigen Bedingungen für die Entwicklung der Industriegesellschaften in Europa und Nordamerika aufzählen, kommen folgende Fragen auf: Kann man China hinsichtlich der natürlichen Ressourcen pro Kopf (Agrarland, Süßwasser, Wälder usw.) und hinsichtlich der historischen Chancen (inklusive Kolonisierung, Emigration und groß angelegte Angriffskriege) mit diesen Ländern vergleichen? Wie lange haben die Industrieländer gebraucht, um unter den gegebenen Bedingungen ihre Ziele zu verwirklichen? Wie lange werden wir brauchen, um unsere Ziele zu erreichen? Wir haben in China die letzten fünfzig oder sogar hundert Jahre damit zugebracht, nach dem Weg zur Modernisierung zu suchen. Chinas »institutioneller Übergang« dauert auch schon zwanzig Jahre lang. Wie viel länger werden wir noch brauchen? Zwanzig, fünfzig oder hundert Jahre? Wird Chinas Bevölkerung währenddessen die weit verbreitete Korruption, die großflächige Umweltverschmutzung und den moralischen Verfall tolerieren? Und selbst wenn China ein zweites Amerika oder Japan würde, wäre damit die Geschichte zu Ende? Eine weitere Frage ist, wie groß der zu verteilende Kuchen werden soll. Die Kuchen Amerikas und der anderen entwickelten Nationen werden unter Zuhilfenahme der ganzen Welt ständig vergrößert. Sind sie nicht schon groß genug? Fragen Sie doch mal die Industrienationen, ob sie mit ihrem Kuchen zufrieden sind oder nicht. Die letzte Frage ist: Wer wird die Regeln aufstellen, die die (Ver-)Teilung des Kuchens bestimmen? Wie sieht die Legitimität dieser Regeln aus? Können die durch die Industrienationen bestimmten Regeln für die Verteilung des globalen Kuchens auch unsere Bedürfnisse erfüllen (sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes)?
Die Vereinigten Staaten und andere westliche Industrieländer haben ihre konsumorientierte Lebensweise erlangt, indem sie globale Ressourcen verbraucht und die globale Umwelt zerstört haben. Auch China versorgt die USA unter den Bedingungen des ungleichen Tausches mit Ressourcen. Zugleich werden im eigenen Land die Ressourcen der unteren Einkommensgruppen und der unterentwickelten Regionen auch zu den selben ungleichen Austauschbedingungen gehandelt. Nur deshalb kann das Land einen kleinen Teil der Bevölkerung darin unterstützen, mit dem konsumorientierten Lebensstil der reichen Länder mitzuhalten. Wenn mehr als eine Milliarde Menschen dem konsumorientierten Lebensstil auf breiter Basis folgen würden, dann zum Preis der Zerstörung der Umwelt. Daraus würden aber noch mehr politische, ökonomische, soziale und ökologische Probleme folgen. Kann diese Logik durchgehalten werden? Wenn sie als machbar angesehen wird, dann muss folgende Annahme dahinterstehen: Die Mehrheit der niederen Einkommensgruppen und der Landbewohner werden für immer die Gelackmeierten bleiben. Falls China es aufgrund historischer, politischer, ökonomischer sowie ökologischer Restriktionen nicht schaffen sollte, das präsentierte Bild des »glücklichen Lebens« zu verwirklichen, dann wird die konsumorientierte Kultur die Realität nicht legitimieren, sondern umstürzen, so viel ist sicher.
Der Staat stellt zwar riesige Geldsummen zur Verfügung, um die Olympischen Spiele zu finanzieren, Eisenbahnen im ganzen Land zu bauen, immer bessere Geschäftswagen für die Regierungsbehörden anzuschaffen, immer größere Bürogebäude zu errichten und immer mehr für Verwaltungsaktivitäten auszugeben. Die finanzielle Unterstützung für die Grundausbildung oder die Basisgesundheitsversorgung in den weiten ländlichen Regionen, vor allem in den verarmten Regionen, ist hingegen nicht ausreichend. Soll das als Normalzustand hingenommen werden? China besitzt als Entwicklungsland weder genug Kapital noch genug technologischen Vorsprung. Momentan beläuft sich Chinas Agrarfläche pro Kopf auf nur ein Drittel des weltweiten Durchschnitts. Seine Wasserreserven betragen ein Viertel und seine Ölreserven ein Achtel. Unser so genannter komparativer »Vorteil« durch billige Arbeitskräfte basiert auf ungerechtem Austausch und sogar auf blutiger Plünderei. Die groß angelegte Nutzung dieses »Vorteils« schafft nicht nur innerhalb des Landes offensichtlich soziale Probleme, sondern wird China auch auf dem globalen Arbeitsmarkt weiterhin in einer marginalen Position belassen.
Die »chinesische Bedrohung«
Nehmen wir einmal an, dass China die vielfältigen politischen und ökonomischen Restriktionen durchbrechen kann, die dem Land durch das Weltsystem auferlegt worden sind. Nehmen wir an, wir überblickten die negativen sozialen und ökonomischen Konsequenzen, die das momentane Entwicklungsmodell in sich birgt, und nehmen wir an, China könnte die Kosten, die das Entwicklungsmodell der Industrienationen mit sich bringt, tragen. Dann wird Chinas Wirtschaft in den nächsten fünfzig bis hundert Jahren vier bis acht mal so groß werden wie die des heutigen Japans. Kann die Welt eine solche Realität akzeptieren? Kann diese Welt ein zusätzliches Konsumangebot bereitstellen, das zweimal so groß sein müsste wie das von ganz Westeuropa, Japan und den Vereinigten Staaten zusammen? Einige globale Beobachter betrachten die so genannte »chinesische Bedrohung« bereits mit großer Sorge, auch wenn ein Großteil dieser Angst de facto durch unsere eigene unvernünftige Angeberei hervorgerufen wurde.
Um ein ungefähres Bild von den Konsequenzen des konsumorientierten Entwicklungsmodells zu zeichnen, ist es notwendig, sich immer wieder die folgenden Statistiken vor Augen zu führen. Die Menge an Elektrizität, die während des Sommers in den USA durch Klimaanlagen verbraucht wird, übersteigt Chinas Verbrauch während eines ganzen Jahres. Um seine Lebensweise aufrechtzuerhalten, muss ein Amerikaner 10,3 Hektar der weltweiten Fläche verbrauchen, eine Person aus Hongkong 6 Hektar und eine Person aus Peking 3,8 Hektar. Um das Angebot an Rindfleisch für McDonald's sicherzustellen, werden jedes Jahr in Südamerika große Flächen Regenwald zerstört und in Tierfarmen umgewandelt. Dies bedeutet, dass jeder Hamburger ein Stück Wald zerstört, das so groß ist wie die Fläche einer Küche. Der Bevölkerungsanteil von Ländern mit hohem Einkommen beträgt 16 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, diese verbrauchen aber fast 60 Prozent der globalen Rohstoffe; zum Treibhauseffekt tragen sie mit 50 Prozent bei. Ebenso sind sie für den größten Anteil an der Zerstörung der Ozonschicht verantwortlich.
Die Lebensweise im amerikanischen Stil basiert auf einem riesigen Ressourcenverbrauch und auf einer enormen Umweltzerstörung. 1995 verbrauchten die Industrieländer 54,9 Prozent des globalen Energieverbrauchs, die Entwicklungsländer nur 30,9 Prozent. Neunzig Pro zent der jährlich zehn Milliarden Tonnen Müll kommen von den Industrieländern. 500 Millionen Tonnen davon sind giftig. 1990 verklappten allein die USA 571.000 Tonnen dieses Giftmülls im Meer. Chinas durchschnittliches Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt betrug im Jahr 2000 weniger als vier Prozent von dem der USA. Berücksichtigt man das Bevölkerungswachstum, dann würde China selbst bei einer nur halb so großen Pro-Kopf-Wirtschaftleistung wie in den USA sechsmal soviel Ausstoß haben, was die Produktion, den Verbrauch und die Umweltverschmutzung anbelangt. Was wird passieren, wenn die ganze Welt weiterhin diesem konsumorientierten Lebensstil praktiziert?
Es scheint, als ob Marktfundamentalisten und -Romantiker glauben, dass die oben genannten Probleme letztlich auf vernünftigem Wege gelöst werden könnten. Es heißt, dass der Bau eines globalen Dorfes, das auf amerikanischen Werten und der WTO fußt, zu globalem Wohlstand führe. Die WTO und die westliche Marktwirtschaft erfahren unter den meisten chinesischen Staatsangehörigen, inklusive vieler Gebildeter und Regierungsangestellter, weitaus mehr Zustimmung und Akzeptanz als Reflexion und Kritik. China folgt eher den von den Industrieländern geleiteten globalen Planspielen der WTO, als dass es aktiv an der WTO teilnähme. Zur unausgesprochenen Agenda der WTO gehört, die momentane Arbeitsteilung des globalen Marktes und die jeweiligen Interessen zu festigen. Sicherlich mag China in mancherlei Hinsicht in der Lage sein, einige Spiele in der WTO gewinnen. Doch werden dadurch die durch den Konsumismus hervorgebrachten ökonomischen und sozialen Probleme nicht verschwinden.
Ohne materielle Basis
Aus einem umfassenderen Blickwinkel gesehen, kann das Vorherrschen des Konsumismus in China nur negative Auswirkungen auf die gemeinsame nachhaltige Entwicklung der Welt mit sich bringen. Die konsumorientierte Ideologie hat dazu beigetragen, die Ungleichheit der Menschheit zu legitimieren und zu festigen. Das nach der Lebensweise der westlichen Industrienationen gestaltete Bild vom "glücklichen Leben" wird entweder eine Illusion oder ein exklusives Privileg einiger weniger sein. Aus der Perspektive der nachhaltigen Entwicklung gibt es keine materielle Basis für einen global unbegrenzten Konsumismus. Die Lebensweise der Industrienationen kann nicht zur allgemeinen Orientierung für die weltweite Entwicklung werden. Es gibt keinen inhärenten positiven Zusammenhang zwischen der konsumorientierten Lebensweise und der weltweiten Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Chinas ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozess benötigt eine globale Perspektive, denn es ist eine Bevölkerungs-Supermacht; die Zahl seiner Einwohner beträgt ein Fünftel bis ein Viertel der Weltbevölkerung. Vor dem Hintergrund der Globalisierung wird eine einzige Bewegung Chinas Auswirkungen auf die ganze Welt nach sich ziehen und umgekehrt. Wenn man die Marktwirtschaft als Entwicklungsoption heranzieht, ist es daher sehr wichtig, die Ziele der Entwicklung zu definieren. Die Analyse und Kritik der konsumorientierten Ideologie will herausstellen, dass diese nicht der einzige Weg zu sozialer Entwicklung in der Moderne ist, sondern lediglich ein partikularer Weg, die eng gefassten Interessen der Kapitalreproduktion zu verfolgen.
Chen Xin ist Professor für Soziologie an der Chinese Academy of Social Sciences. Er arbeitet vor allem über ländliche Armut, Armutsbekämpfung und Cultural Studies. Die ungekürzte Originalfassung des Artikels erschien unter dem Titel »New Development of Consumerism in Chinese Society in the Late 1990s« in China Reflected, Asian Exchange Vol. 18/19, No. 1/ 2, S. 162 - 175. Übersetzung aus dem Englischen: Stefanie Lämmermann
erschienen in: iz3w 277, Freiburg 2004
Indien: Kleinkredite für Khannawallis
Frauenselbstorganisation jenseits traditioneller Gewerkschaften
Die Gewerkschaften vieler Dritte-Welt-Länder kümmern sich aufgrund äußerer Zwänge oder mangelnder Einsicht kaum um die spezifischen Probleme von Arbeiterinnen. Insbesondere die Frauen aus dem informellen Sektor sind daher auf Selbstorganisation angewiesen. Die vielerorts entstandenen basisdemokratischen Gruppen kämpfen nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen.
von Birgit Schößwender und Christian Stock
Frauen tragen in nahezu allen Dritte-Welt-Ländern ganz erheblich zur Wirtschaftsleistung bei. Das Einkommen im informellen Sektor - der staatlich nicht registrierten und anerkannten Schattenwirtschaft - wird nach übereinstimmenden Schätzungen in Südamerika, der Karibik und Westafrika zu 70 bis 90 Prozent von Frauen erwirtschaftet. Auch im formellen, offiziellen Sektor ist der Frauenanteil oftmals überproportional. In den Exportfabriken Lateinamerikas - den sogenannten maquilas, in denen Textilien, Autoradios oder elektronische Bauteile für den Weltmarkt produziert werden - reicht er von 60% (Dominikanische Republik) bis 90% (Nicaragua).1 Doch in den traditionellen Gewerkschaften und sonstigen Arbeitnehmerorganisationen sind Frauen nicht nur in den Führungsgremien, sondern auch bei der Mitgliedschaft weit unterrepräsentiert, wie übereinstimmend aus den einzelnen Ländern berichtet wird.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen haben Gewerkschaften aufgrund staatlicher Restriktionen oder mangelnden Engagements oftmals keinen Zugang zu Wirtschaftsbereichen, in denen Frauen vorrangig tätig sind. Dies gilt nicht nur für den informellen Sektor, der aufgrund seiner hohen Fluktuation und der großen Rechtsunsicherheit ohnehin schwer organisierbar ist, sondern auch für die maquilas. Diese sind nicht selten in Freien Produktionszonen angesiedelt, in denen selbst rudimentäre gewerkschaftliche Rechte wie Vereinigungsfreiheit außer Kraft gesetzt sind. Zum anderen sehen sich Frauen von Gewerkschaften nicht angemessen vertreten. Viele Gewerkschaften in Dritte-Welt-Ländern sind ausgesprochen staatsfixiert, haben vor allem die »große« Politik im Auge und argumentieren dementsprechend standortorientiert. Die spezifischen Probleme und Ausbeutungsverhältnisse von Frauen wie sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz oder die Doppel- und Dreifachrollen als Arbeitende, Hausfrauen und Mütter werden in den männerdominierten Gewerkschaften kaum wahrgenommen. Zudem grenzen die üblichen gewerkschaftlichen Organisationsformen Frauen oftmals aus, weil diese z.B. während der abendlichen Treffen die Familie versorgen müssen.
Vor diesem Hintergrund entstanden in jenen Ländern, die Frauen wenigstens ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Autonomie zugestehen, gewerkschaftsähnliche Selbstorganisationen der Arbeiterinnen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich nicht nur auf rein arbeitsweltliche Fragen oder auf Lohnkämpfe beschränken, sondern auch das gesamte Lebensumfeld der Frauen wie Familie und Haushalt einbeziehen. So werden die Mitglieder nicht nur bei arbeitsrechtlichen, sondern auch bei gesundheitlichen Problemen beraten. Auch über allgemeine Frauenrechte - etwa im Falle eines sexuellen Mißbrauchs - wird aufgeklärt. Ein wichtiges Vorbild für Frauenorganisationen weltweit ist die Self-Employed Women's Association (SEWA) im indischen Ahmedabad. In Indien reicht die Organisierung von Frauen bis in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts zurück, als sie innerhalb der nationalistischen Befreiungsbewegung eine wichtige Rolle einnahmen. Die Frauenorganisationen, die sich im Umfeld der Befreiungsbewegung entwickelt hatten, waren allerdings sehr stark von oberen Kasten dominiert und hatten den Charakter von rein karitativen Wohltätigkeitsvereinen. Nach der Unabhängigkeit wurden die Frauen zudem rasch in den häuslichen Bereich zurückgedrängt.
Seit den 70ern sind aufgrund der Unzufriedenheit mit dieser Situation völlig neue basisdemokratische Frauenorganisationen entstanden, die eine Selbstorganisation der Ärmsten anstreben.2 Die 1972 gegründete SEWA ist die älteste dieser Organisationen. Ursprünglich gehörte SEWA zur Frauensektion der von Gandhi gegründeten Textile Labour Association (TLA), die sich jedoch eher zugunsten von Ausbildungsprogrammen für entlassene Arbeiterinnen engagierte als für deren Rechte.
Die Entstehung von SEWA löste eine weitreichende Debatte über Gewerkschaften und Arbeitsrechte für Frauen im informellen Sektor aus. Als 1981 Kastenunruhen im Bundesstaat Gujarat ausbrachen und Arbeiterinnen und Händlerinnen der untersten Kasten nicht mehr wagten, ihre Arbeit fortzusetzen, verfolgte die TLA eine Linie der »Nichteinmischung«, mit der sie sich de facto auf die Seite der oberen Kasten stellte. Die SEWA wurde aus der TLA und der National Labour Organisation ausgeschlossen. Trotz der feindlichen Einstellung der TLA und ihrer Boykott-Versuche gründete die SEWA eine eigene Bank, die auf die Bedürfnisse der Frauen aus dem informellen Sektor zugeschnitten war. Damit wirkte sie am Wandel des ganzen Bankenwesens Indiens mit, das nun zunehmend die Armen als neue Klientel wahrnahm. Einige Monate später erreichte die SEWA den Gewerkschaftsstatus für Arbeiterinnen im informellen Sektor. Ihre Mitgliedskarte wurde durch die Polizei anerkannt, was für die Straßenhändlerinnen, die häufig von Polizisten vertrieben worden waren, eine große Erleichterung darstellte. Auch für Heimarbeiterinnen setzte SEWA einen rechtlichen Schutz durch. Ein Höhepunkt der Arbeit wurde erreicht, als die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) im Jahr 1995 auf Betreiben der SEWA eine Konvention über Heimarbeit annahm und somit die vormals unsichtbare Heimarbeit auch auf internationalem Parkett thematisiert wurde.
Unbürokratische Kredite...
Ein zweites Beispiel der neuen Generation indischer Frauenorganisationen ist die Annapurna Mahila Mandal (AMM). Sie konzentriert sich im Gegensatz zur SEWA auf eine bestimmte Gruppe der Frauen im informellen Sektor: die Khannawallis. Dies sind Frauen, die die meist männlichen Arbeitsmigranten in den großen Städten mit billigen Mahlzeiten versorgen. So basiert z.B. die Textilindustrie Bombays mit ihren vielen zugewanderten Arbeitskräften ganz wesentlich auf der Zuarbeit durch die Khannawallis. Aufgrund dieser engen Verbindung waren die Frauen stark von Arbeitskämpfen betroffen, während derer die Arbeiter kein Geld mehr für die Mahlzeiten hatten. In diesen Krisenzeiten konnten sich die Khannawallis eigentlich nur durch die Kleinkredite über Wasser halten, die von privaten Geldverleihern zu betrugsähnlichen Bedingungen gewährt wurden. In den Genuß der niedrigeren Zinssätze, die staatliche Banken anderen Armutsgruppen zugestanden, kamen die Frauen nur selten, da die Banken sie nicht als geschäftsfähig ansahen und ihre Tätigkeit nicht als Kleinhandel anerkannt war. Um günstige Kredite zu erhalten, war die Bildung größerer Gruppen notwendig - ein Schritt, der zunächst nur mit Hilfe der Strukturen der Kommunistischen Partei erreicht werden konnte. Diese Gruppenbildung war der Beginn der autonomen Selbstorganisation, die schließlich 1983 zur Gründung der AMM führte.
Inzwischen sind in Bombay beinahe alle Khannawallis in der AMM organisiert, die ihre Strukturen weiterhin auf der Graswurzelebene aufbaut. Die Bedürfnisse der Mitglieder in den Auseinandersetzungen um Wucherzinsen, Diskriminierung oder Gewalt stehen dabei im Vordergrund. Die Umstrukturierungsprozesse der Textilindustrie machen es zudem notwendig, daß die Khannawallis sich auf neue Betätigungsfelder umorientieren. Die AMM besitzt mittlerweile drei Gebäude, in denen berufliche Weiterbildungsprogramme für die Frauen und ihre Töchter angeboten werden. Wie die SEWA hat die AMM vor einigen Jahren eine eigene Bank gegründet, die bei der Vergabe von Krediten erheblich unbürokratischer als normale Banken vorgeht. Ihre mittlerweile gesicherte finanzielle Lage ermöglicht es, daß nun auch Nicht-Khannawallis Kredite erhalten.
...für freie Unternehmerinnen?
Die Erfolge dieses Typus unabhängiger Frauenorganisationen wurden auch in den westlichen Entwicklungshilfeministerien und in den internationalen Organisationen bemerkt. Ende der 80er Jahre startete beispielsweise die IAO mit Unterstützung der dänischen Regierung mehrere Projekte, um Heimarbeiterinnen in verschiedenen Ländern Asiens nach dem ausdrücklichen Vorbild der SEWA zu organisieren.3 Die Lage der Heimarbeiterinnen ist nicht nur in diesen Ländern besonders prekär: Sie arbeiten voneinander isoliert zu Hause, was eine Organisierung erschwert. Sozialleistungen oder arbeitsrechtliche Absicherung existieren so gut wie gar nicht. Hinzu kommt, daß viele Heimarbeiterinnen keine formale Bildung haben und des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. Zu ihrer Unterstützung wurden zunächst in Thailand, später auch auf den Philippinen und in Indonesien Forschungsprojekte und Kampagnen initiiert. Sie arbeiteten den entstehenden Ablegern der SEWA wie z.B. PATAMBA (Philippinen) oder YPP (Indonesien) zu.
Die IAO-Pilotprojekte verdeutlichen die Gefahren, die es mit sich bringt, wenn Frauenorganisation nicht ausschließlich selbstinitiiert, sondern von außen angestoßen wird. So werden von der IAO, die ihre Projekte immer mit den jeweiligen nationalen Regierungen, Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften abstimmen muß, nicht nur Verbesserungen der Arbeitsbedingungen angestrebt, sondern ausdrücklich auch Produktivitäts- und Beschäftigungsförderung. Es wird argumentiert, daß höhere Löhne den Beschäftigungseffekt der Heimarbeit, die für die Gruppe der Armen unverzichtbar sei, nicht beeinträchtigen dürfen. Diese doppelte Zielvorgabe bringt zwangsläufig den Verzicht auf eine grundsätzliche Umgestaltung der Arbeitsbedingungen für Heimarbeiterinnen mit sich. Die Verbesserungen bleiben bescheidener Natur und die politische und wirtschaftliche Dimension der gesellschaftlichen Bedingungen für Heimarbeit wird zugunsten der Beschränkung auf pragmatische Forderungen an einzelne Unternehmen ausgeblendet. Ein weiterer problematischer Aspekt - der nicht nur für die IAO-Projekte zutrifft - ist die ausdrücklich angestrebte Förderung von selbständigem Unternehmerinnentum durch viele Frauenorganisationen. Ähnlich wie bei den Existenzgründerzentren in der BRD stehen Aktivitäten wie Kreditvermittlung und Beratung in Marketing- und Managementfragen im Vordergrund, wenngleich sie auf die Situation von benachteiligten Frauen aus dem informellen Sektor zugeschnitten sind. Dies erklärt, warum die Frauenselbstorganisation von vielen Regierungen - etwa in Indien oder Südafrika - durchaus wohlwollend gesehen wird und sie mit neoliberaler Ideologie vereinbar ist: Statt die staatliche Wirtschaftspolitik oder die gesamte Gesellschaft in die Pflicht zu nehmen, wird den Frauen die Verantwortung für die Schaffung besserer Lebensumstände selbst in die Hände gelegt. Ihr Verhandlungsgeschick und Geschäftssinn entscheidet von nun an über ihren Erfolg.
Doch solche eher theoretischen Bedenken interessieren die sich organisierenden Frauen wenig. Ihnen geht es um die konkrete Verbesserung ihrer Bedingungen und um die Bildung einer gemeinsamen Identität. In vielen Fällen wurden von ihnen allein aufgrund der Tatsache, daß sie ihr Schicksal nicht mehr wehrlos ertragen, gesellschaftliche Veränderungsprozesse angestoßen. So gelang es der AMM, nicht nur die allgemeine Unterdrückung einer Kasten- und Klassengesellschaft anzuprangern, sondern auch über frauenspezifische Probleme wie die diskriminierenden Mitgift-, Abtreibungs- und Mißbrauchspraktiken eine breite Debatte in der indischen Öffentlichkeit zu initiieren.
Anmerkungen
- vgl. Infoblatt des Ökumenischen Büros München, Nr. 32, Juli 1997, S. 21
- vgl. Dina Abbott, Who else will support us? How poor women organise the unorganisable in India, in: Community Development Journal, Vol. 32, No.3, 1997, S. 199-209
- vgl. Die Welt der Arbeit, Zeitschrift der IAO, Nr. 12, 1995, S. 12-14
Birgit Schößwender ist Mitarbeiterin des Süd-Nord-Ladens in Freiburg. Christian Stock arbeitet beim iz3w. Erschienen in: iz3w 230, Freiburg 1998.
Indien: Leitkultur am Ganges?
Geschichtspolitik und Revisionismus in Indien
Der eskalierte Kaschmirkonflikt verweist darauf, wie angespannt das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften in Südasien nach wie vor ist. Ein wichtiges Mittel bei der propagandistischen Wegbereitung dieses vermeintlichen »Kampfes der Kulturen« ist die Geschichtspolitik. Seit dem Antritt der hindunationalistischen BJP-Regierung versuchen ihr nahe stehende Historiker verstärkt, die Geschichte Indiens umzuschreiben. Ihr Ziel ist die Homogenisierung der indischen Nation.
von Michael Gottlob
Der südasiatische Subkontinent kann in vielfacher Hinsicht als historisches Modell für Multikulturalität gelten. Hier haben fast alle großen Religionsgemeinschaften über Jahrhunderte in engster Nachbarschaft gelebt. Nicht, dass es dabei immer friedlich zugegangen wäre. Doch es haben sich auch Formen eines »co-survival« (Ashis Nandy) herausgebildet. Die Erinnerung daran könnte zur Eröffnung neuer Perspektiven auf die heutigen Konfrontationen - nicht nur in Südasien - beitragen. Dazu muss man freilich die entsprechenden Fragen an die Vergangenheit stellen. Diese aber hängen vom jeweiligen politischen Interesse ab, im gegebenen Fall also davon, ob einem an der Stärkung kultureller Vielfalt oder vielmehr an der Herstellung von Homogenität gelegen ist. Die Geschichte kann ihrerseits zum Austragungsort der aktuellen Konflikte werden.
Welche Bedeutung das multikulturelle Erbe des Landes für das heutige Indien haben soll, ist seit langem strittig. Während die Regierungen der Kongreßpartei dazu neigten, religiöse Differenzen durch die Formel vom säkularen Staat zu neutralisieren, versuchten hindunationalistische Parteien die Dominanz der Hindu-Gemeinschaft ausdrücklich hervorzuheben und politisch festzuschreiben. Entsprechend wurden in den Darstellungen der Vergangenheit entweder die interreligiöse Harmonie oder die Konflikte betont.
Erst jüngst ist diese latente geschichtspolitische Kontroverse in eine neue Runde gegangen. Die seit März 1998 amtierende Regierung der National Democratic Alliance unter Führung der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP, vgl. iz3w 231) ist dabei, ihren Einfluss in den staatlichen Bildungs- und Forschungsinstitutionen durchzusetzen und den öffentlichen Gebrauch der Geschichte unter ihre Kontrolle zu bringen. Bei der Zusammenkunft des Indian History Congress (IHC) in Kalkutta zu Beginn des Jahres 2001 zeigten sich viele Teilnehmer insbesondere über die Versuche besorgt, die Darstellung der Vergangenheit in den Schulbüchern auf BJP-Linie zu bringen (die Rede ist von »Safranisierung«, entsprechend der Parteifarbe der BJP, zuletzt sogar von »Talibanisierung«) und die säkularen Prinzipien der Erziehung zu untergraben. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, warnte in seiner Eröffnungsrede davor, dass die Geschichtsschreibung zu Gunsten einer einseitigen, an den Erfordernissen heutiger Politik orientierten Sichtweise instrumentalisiert wird. In Umsetzung der vom Bildungsministerium erlassenen Direktiven hat der National Council for Educational Research and Training (NCERT) damit begonnen, einige Schulbücher für den Unterricht in den höheren Klassen von der Liste der Lehrmaterialien zu streichen. Nicht zufällig gehören dazu die Werke jener säkular orientierten Historiker wie Romila Thapar, R. S. Sharma und Bipan Chandra, die schon im »Schulbuchstreit« Ende der 70er Jahre von ähnlichen Maßnahmen betroffen waren. Bereits während der Amtszeit der (hindu-) nationalistischen Janata-Regierung (1977-1980) war der Versuch eines grundlegenden Richtungswechsels in der Kulturpolitik unternommen worden. Damals gerieten besonders die Darstellungen des indischen Mittelalters, also der Zeit der muslimischen Herrschaft, in die Schusslinie. Bemängelt wurde an den vermeintlich marxistisch orientierten Lehrwerken vor allem, dass die religiöse Dimension gegenüber der politischen und ökonomischen vernachlässigt werde. Doch auch die klare Verurteilung der muslimischen Invasoren und der Enthusiasmus für die Verteidiger des Hinduismus wurden vermisst.
Deckmantel der Objektivität
Jetzt wird ein neuer Anlauf genommen, um die Leitlinien für den Geschichtsunterricht zu Lasten der säkularen Prinzipien zu verändern. Neben der Darstellung des Mittelalters geht es nun um das indische Altertum und vor allem um die Frage, ob die ›Arier‹ als Einwanderer bzw. Eroberer (wie von der klassischen Indologie angenommen) oder als die ursprünglichen Bewohner Indiens zu betrachten seien. Noch sind die bisher verwendeten Lehrmaterialien nicht durch Bücher jener Art ersetzt worden, wie sie in den ca. 70.000 Schulen des Rashtriya Svayam Sevak (RSS), des hinter der BJP stehenden militanten »Nationalen Freiwilligenverbandes« verwendet werden. Statt dessen ist geplant, das Fach Geschichte zu reduzieren und durch einen allgemeinen Sozialkundeunterricht zu ersetzen. Auch so kann man dem auf die Vermittlung säkularer Werte ausgerichteten Geschichtsunterricht ein Stück weit den Boden entziehen.
Die hindunationalistische Kritik an der bisherigen säkularen Geschichtsschreibung ist angeblich nur gegen Verfälschungen und Verzerrungen der indischen Geschichte gerichtet, die im Licht wissenschaftlicher Erkenntnis (oder auch aus Rücksicht gegenüber Minderheiten wie den Sikhs) korrigiert werden müssten. Sie wird vorgetragen im Namen der Objektivität der Forschung und in Zurückweisung der »Geschichtspolitik« früherer Regierungen. Statt als Historiker das »minority appeasement« der Kongresspartei zu betreiben, so die Kritiker, müssten die muslimischen Untaten wie die Zerstörungen von (Hindu-)Tempeln und die Zwangsbekehrungen von Hindus beim Namen genannt werden. Statt weiter der kolonialistischen ›Aryan Invasion Theory‹ anzuhängen, müssten die ›Arier‹ als indigene Bevölkerung Indiens anerkannt werden.
Tatsächlich ist es jedoch so, dass unter dem Deckmantel demonstrativer Objektivität die politische Ausrichtung der historischen Forschung und Lehre umgekehrt werden soll. Mehr denn je wird Einfluss auf staatlich finanzierte sozialwissenschaftliche Forschungsinstitutionen und kulturelle Einrichtungen genommen. Der Archeological Survey of India führt seit einiger Zeit verstärkt Grabungen an muslimischen Bauwerken durch, um nach Resten früherer Hindutempel zu suchen. Und als in der Mogulstadt Fatehpur Sikri Kultbilder der Jaina gefunden wurden, lastete man deren ›Entweihung‹ sogleich dem Großmogul Akbar an. Ein neu eingerichteter Ausstellungsraum im Nationalmuseum in Neu Delhi über die Indus-Zivilisation bringt auf subtile Weise Spekulationen über ihren arisch-vedischen1 Charakter unters Volk. Die University Grants Commission (UGC) arbeitet an der Vereinheitlichung der Studienpläne im ganzen Land, zu denen zukünftig auch Kurse über vedische Astrologie, Handlesekunst und Hindurituale gehören sollen. Das Erlernen des Sanskrit, das kurzerhand zur »Mutter aller indischen Sprachen« erklärt wird, soll für die Schüler der Klassen 10 bis 12 obligatorisch werden. UGC und NCERT haben begonnen, den politisch verfügten Wandel vom säkularen zu einem hindunationalistischen Erziehungsmodell umzusetzen, in dem angeblich indigene Inhalte und Werte an die Stelle von ›fremden‹ treten sollen.
Muslime als Erbfeinde
Schon für die Jan Sangh (Vorläuferin der BJP und dominierende Kraft des Janata-Bündnisses) gehörte die Hinduisierung des Geschichtsbewusstseins zur politischen Agenda. Doch der Versuch, ihren Einfluss auf das öffentlich vermittelte Geschichtsbild geltend zu machen, blieb angesichts der kurzen Amtsdauer der Janata-Regierung Ende der 70er Jahre zunächst Episode. Mit dem allmählichen Aufstieg der BJP aber wurde der öffentliche Disput um die Vergangenheit neu entfacht. Diesmal vor allem in Form der Kampagne gegen die Babur-Moschee in Ayodhya, die auf den Resten eines früheren, von Muslimen zerstörten Rama-Tempels erbaut worden sein soll. Der Kampf um die Erinnerung daran wurde zum Bestandteil des politischen Machtkampfs. Mit dem als »Pilgerzug« deklarierten Marsch auf die Stadt Ramas im September 1990 und der Erstürmung der Ayodhya-Moschee im Dezember 1992 sollte der Primat der Hindus in Indien demonstriert und zugleich ein propagandistischer Schritt zur Eroberung der Parlamentsmehrheit getan werden. Begleitet war die Kampagne von einer Flut historischer Pamphlete, in denen die Vergegenwärtigung muslimischer Invasionen und Zerstörungen in Indien als Opferdiskurs fungierte. Die wohlberechnete Wirkung war, dass viele Hindus darin eine Rechtfertigung der Gewalt gegen islamische Bauwerke (und daran anschließend auch gegen Muslime selbst) sahen. Es wurde suggeriert, das Niederreißen der Moschee könne erlittenes historisches Unrecht wiedergutmachen.
Säkularistisch eingestellte Historiker unterschlagen keineswegs, dass es während der muslimischen Herrschaft massive Tempelzerstörungen gegeben hat, mit dem Ziel, den wahren Glauben gegenüber den ›götzenverehrenden‹ Hindus durchzusetzen. Sie erinnern aber daran, dass auch Hindus im Verlauf der Geschichte einander nicht immer friedlich gesinnt waren und Muslime mit der Zerstörung von Tempeln nicht immer religiöse, sondern oft banale materielle und politische Zwecke verfolgten. Sicher sind die Muslime (wie die Angehörigen aller Religionen) gefragt, ihre Haltung zu Andersgläubigen historisch und systematisch zu überdenken. Doch der Versuch, sie aus Indien, wo sich über Jahrhunderte islamische Kultur und Religiosität entfaltet hat, hinauszudefinieren, indem man z.B. jedes alte islamische Bauwerk zu einem hinduistischen erklärt, wird zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Hindus und Muslimen wenig beitragen. Dies braucht jene nicht zu stören, die die Erinnerung ohnehin vor allem zur Pflege des politischen Feindbildes benutzen und von vornherein auf Konflikt zwischen den Religionsgemeinschaften setzen. Konflikt schafft Identitätsbewusstsein, und dieses wiederum erhöht die Durchsetzungskraft im vermeintlich unausweichlichen Kampf der Kulturen.
Indigene Arier?
Es geht in den Augen der sangh parivar (der »Familie« der hindunationalistischen Gruppen und Verbände im Umfeld des RSS) nicht einfach um die Verteidigung verhandelbarer Ansprüche der Hindugemeinschaft gegenüber anderen, sondern um die Durchsetzung einer unveränderlichen, von fremden Einflüssen rein zu haltenden nationalen Ordnung und Zivilisation. Statt wie die Säkularisten Indien als »nation in the making« zu begreifen, setzen die Hindunationalisten die Gemeinschaft als primordial und indigen voraus. Aus diesem Grund sind sie an dem Nachweis interessiert, die ›vedischen Arier‹ seien die ursprünglichen Bewohner Südasiens gewesen und nicht (wie später die Muslime oder Europäer) als Invasoren ins Land gekommen.
Dieses Nachweises, und überhaupt der Bekämpfung der »Irrtümer und Unwahrheiten, die von linken Historikern und ihren säkularen Sympathisanten verbreitet werden« (Eigenwerbung), hat sich besonders der Verlag Voice of India angenommen. In einem seiner Bände (»Aryan Invasion Theory and Indian Nationalism«, 1993) versuchte der Autor Shrikant G. Talageri zu zeigen, dass Indien die »Heimat der ›arischen‹ oder indo-europäischen Sprachen« ist. Gestützt auf Aussagen der Literatur seit den Veden, beschreibt er die Gliederung der Sprachgebiete im frühen Indien als »ungefähr dieselbe wie heute« und verfolgt, wie sich die arischen Sprachen von dort aus allmählich nach Westen ausbreiteten. Aufgrund dieser sprachhistorischen Befunde gelangt er zu dem Schluss, die indische Nation sei nicht Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, sondern bestehe »seit unvordenklichen Zeiten«. Und weder die indische Religion noch ihre Bekenner seien ausländischen Ursprungs.
An der Festigung des Bildes von der Hindunation arbeitet seit Jahren auch Navaratna S. Rajaram, der immer neue Entdeckungen gegenüber der ›Aryan Invasion Theory‹ geltend zu machen sucht. In Anknüpfung an Talageris Erkenntnisse über die sprachlichen Entwicklungen postuliert Rajaram in The Politics of History (Voice of India, 1995), die arisch-vedische Kultur sei nahe verwandt oder gar identisch mit der Indus-Zivilisation. Die inzwischen in der Archäologie etablierte Einsicht, dass eine Trockenperiode und nicht der Einfall der ›Arier‹ zum Ende von Harappa und Mohenjo Daro führte, verknüpft er mit anderen Indizien zu dem »Beweis«, von frühesten Zeiten an (und die Zeugnisse seien viel älter als von den meisten Forschern angenommen) habe die vedisch-arische Kultur auf dem indischen Subkontinent geherrscht. So reicht aus den Urgründen der Vorgeschichte die indische Existenzweise im Kern unverändert bis in die Gegenwart. Andere Kulturen als die vedische hatten Rajaram zufolge daran keinen Anteil.
Präsentiert wird die »Vedic-Harappan connection« zusammen mit heftiger Polemik gegen die etablierte Geschichtswissenschaft, der nicht nur methodische Unzulänglichkeit attestiert, sondern auch die Unabhängigkeit des Urteils bestritten wird. Die »herausragenden Historiker« stünden alle unter dem Einfluss fremder (nichtindischer) Sichtweisen. Von solcher antikolonialistischer Rhetorik bezieht die hindunationalistische Kritik einen guten Teil ihrer Publikumswirkung. Das demonstrative Bekenntnis zur wissenschaftlichen Objektivität dient der Vernebelung der eigenen politischen Motive. Während es jedoch im allgemeinen unter indischen Historikern durchaus üblich ist, die eigenen Deutungsformen auf koloniale Residuen hin zu überprüfen, kann von einer solchen Grundlagenreflexion gerade bei den Befürwortern einer Hindu-Revision der Geschichte nicht die Rede sein. Insbesondere mit ihrer Fixiertheit auf Nation und Nationalstaat zeigen sie eine ebenso unkritische wie problematische konzeptuelle Anlehnung an den Westen. Denn nach dessen Modell versuchen sie die Homogenität der Nation zu rekonstruieren.
Die Arbeit an der Indigenisierung der ›Arier‹ dient dazu, die Vorstellung einer seit jeher bestehenden homogenen Hindunation fest im kollektiven Bewusstsein zu etablieren. Dass deren praktische Umsetzung auch handgreifliche Formen annehmen kann, hat sich bei zahlreichen Gelegenheiten gezeigt. Wenn schon nicht das perspektivisch verengte Langzeitgedächtnis, so könnte vielleicht die noch lebendige Erinnerung an die Jahrzehnte seit der Teilung Indiens im Jahr 1947 die selbsternannten Hüter der Hinduinteressen eines besseren belehren. Die Eigenstaatlichkeit der südasiatischen Muslime hat ethnisierte und religiöse Konflikte innerhalb Pakistans und Indiens nicht verhindert und ein entspanntes Verhältnis zwischen den beiden Ländern gar nicht erst aufkommen lassen. Ein Hindustaat, der die 130 Millionen Muslime im eigenen Land auszugrenzen oder einer hinduistischen ›Leitkultur‹ unterzuordnen sucht, wird nicht nur die innere Entwicklung Indiens dauerhaft belasten, sondern auch das Verhältnis zu den Hunderten von Millionen Muslimen, die im benachbarten Ausland leben, noch schwieriger machen. Die Verdrängung der in Jahrhunderten gesammelten Erfahrung im Umgang mit dem ›Anderen‹ oder ihre Reduktion auf den Aspekt der Bedrohung tragen zur Verhärtung und Dauerhaftigkeit der Konflikte in Südasien bei.
Anmerkungen
- Das Adjektiv »vedisch« bezieht sich auf die Zeit der Einwanderung und Festsetzung ›indo-arischer‹ Stämme in Nordindien (ca. 1500 bis 600 v. Chr.), in der ihre heiligen Schriften (die Veden) entstanden.
Michael Gottlob ist Historiker und lebt in Bergamo. In Kürze erscheint von ihm eine Quellen-Sammlung zum »Historischen Denken im modernen Südasien« (Humanities Online, Frankfurt/M.). Eine längere Version dieses Artikels erschien in Internationale Schulbuchforschung 23 (2001), S. 465-476. Erschienen in: iz3w 259, Freiburg 2002.
Indien: Der Congress tanzt wieder
Die Ära der Hindufundamentalisten in Indien ist vorerst vorbei
von Eberhard Weber
Niemand hatte damit gerechnet. Alle dachten, die Wahlen zum indischen Unterhaus im Mai diesen Jahres seien nur eine Formsache auf dem Weg der regierenden Indischen Volkspartei (BJP), ihre Macht in Indien zu stabilisieren. Premierminister Vajpayee hatte die Wahlen sogar um mehr als ein halbes Jahr vorgezogen, um vom hohen Wirtschaftswachstum und der politischen Annäherung an Pakistan zu profitieren.
Wie schon oft in Indien, kam es dann ganz anders. Die von der hindufundamentalistischen BJP geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) schrumpfte von 275 Sitzen auf 185. Ihr Wahlerfolg von 1999 blieb damit eine einmalige Angelegenheit. Die Congress-geführte Koalition, die sich nach ihrem Wahlsieg Vereinigte Progressive Allianz (UPA) taufte, erreichte hingegen 217 Sitze. Ein ungeheurer und unerwarteter Erfolg für Congress und all die regionalen Parteien, die sich hinter ihrem Rücken versammelt hatten. Überraschend auch das Abschneiden der kommunistischen Parteien: mit über 60 Mandaten konnten sie ihr Ergebnis von 1999 um fast 50 Prozent ausbauen. Auch wenn sie der Koalition nicht beigetreten sind, wird es der neuen Regierung schwer fallen, sie bei wichtigen Entscheidungen zu ignorieren. Seit dieses sensationelle Ergebnis verkündet wurde, mangelt es nicht an Versuchen, die Niederlage der BJP zu erklären. Die Kommentare sprechen von einer »Denkzettel-Wahl«, in der »Indiens Dörfer« und eine »kaum berechenbare Wählerschaft« die BJP-Regierung und ihre Hightech-Gurus abstraften und sich eben nicht von den Erfolgsmeldungen der Hindufanatiker blenden ließen. Denn während die Metropolen in ihrer Regierungszeit zu glänzen begannen, verharrte das ländliche Indien in bitterster Armut. Tragödien wie die im Warangal-Distrikt des Bundesstaates Andhra Pradesh, wo während der vergangenen fünf Jahre mehr als 600 Baumwollfarmer in den Selbstmord getrieben wurden, wurden zum Symbol einer fortschreitenden Spaltung zwischen dem ländlichen und dem städtischen Indien.
Dabei hatte alles vielversprechend angefangen: mit den neoliberalen Wirtschaftsreformen von 1991, die von der seinerzeitigen Congress-Regierung initiiert wurden, fielen auch die Exportbarrieren für Baumwolle. 1992 verzehnfachten sich die Baumwollexporte aus Indien. Hunderttausende von Landwirten gaben den Nahrungsmittelanbau auf und versuchten ihr Glück mit Baumwolle. In der Hoffnung, von der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung profitieren zu können, pachteten sie zusätzliches Land und nahmen hohe Kredite auf. Erst nach und nach wurde vielen klar, auf welch gefährliches Unterfangen sie sich eingelassen hatten. Denn mit den Reformen verschwanden auch die Subventionen: zuerst für Düngemittel, dann für Elektrizität, und schließlich wurden auch die Zinsbegünstigungen für die Landwirtschaft abgeschafft. Zwischen 1996 und 2001 gingen dann die Weltmarktpreise für Baumwolle um mehr als die Hälfte zurück, und die Schuldenfalle schnappte zu.
Der Niedergang der Landwirte in Andhra Pradesh steht symbolisch für das Schicksal vieler Menschen im ländlichen Indien während der vergangenen dreizehn Jahre. Vom Staat haben diese Menschen immer weniger zu erwarten. Seit 1991 wurde immer weniger für ländliche Entwicklung ausgegeben. Auch in anderen sozialen Bereichen sparte der Staat, wo er konnte. Obwohl mehr als ein Drittel aller InderInnen nicht lesen und schreiben können, sind die Bildungsausgaben seit Beginn der Reformen drastisch zurückgegangen. Ähnliche Zustände herrschen im Gesundheitsbereich. Sicherlich hat Indien seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 im Vergleich zu vielen anderen Entwicklungsländern große Fortschritte gemacht. Heute wird in Indien so gut wie alles hergestellt: von der einfachen Wasserpumpe bis hin zur Atombombe. Versäumt wurde allerdings von allem bisherigen Regierungen, die wirtschaftliche Entwicklung sozial abzusichern. Trotz High-Tech, schicker Shopping Malls, Mobile Phones und Weltraumsatelliten leben noch etwa eine halbe Milliarde InderInnen von weniger als umgerechnet einem US-Dollar am Tag. Hunger und bitterste Armut sind im Wirtschaftswunderland Indien auch heute noch die Realität für die Bevölkerungsmehrheit. In dem von sozialen, aber auch ethnischen und religiösen Konflikten geplagten Indien versuchte der Congress als Volkspartei für alle Bevölkerungsgruppen wählbar zu sein. Bis Mitte der 60er Jahre gelang dies, doch danach differenzierte sich die indische Wählerschaft immer mehr. Die Partei reagierte darauf, indem sie sich rhetorisch sich häufig hinter die armen Bevölkerungsgruppen stellte, wie etwa Indira Gandhi in den 70er Jahren. Seit dem Erstarken hindunationalistischer Gruppierungen ab Anfang der 90er Jahre gab sich der Congress auch gern als politische Heimat der rund 150 Millionen Muslime in Indien.
Das Wahlergebnis vom Mai so zu deuten, die Bevölkerungsmehrheit habe den Reformen der letzten Jahre eine Absage erteilt und deshalb Congress gewählt, wäre jedoch nicht gerechtfertigt. Davon könnte man höchstens dann sprechen, wenn sich die Congress-Partei eindeutig gegen die Reformen ausgesprochen hätte. Doch viele der Maßnahmen, die Millionen Landwirte in die Armut trieben, waren ausgerechnet vom neuen Premierminister Manmohan Singh ausgegangen und von der BJP ab 1999 nur fortgeführt worden. Als Finanzminister der Congress-Regierung von 1991 leitete Singh die entscheidende Phase der Liberalisierung ein. Seine erste Amtshandlung damals war die Abschaffung der Düngemittelsubventionen. Es spricht wenig dafür, dass er sein wirtschaftspolitisches Credo inzwischen aufgegeben hat.
Wie wird es in Indien nun weitergehen? Singh kündigte einen »New Deal« für Indiens Landwirtschaft an. Dabei stellte er die Ausweitung staatlicher Investitionen für ländliche Entwicklung in Aussicht. Kurzfristig müsse es jedoch darum gehen, den hoch verschuldeten Landwirten zu helfen. Als Glanzstück des »Common Minimum Programms« (CMP), hinter dem die Regierungskoalition und die kommunistischen Parteien stehen, gilt jedoch die Einführung eines ›Rechts auf Arbeit‹: Hundert Tage im Jahr soll ein Angehöriger eines ländlichen Haushaltes unterhalb der Armutsgrenze Beschäftigung in einer staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme finden - Sozialhilfe auf indisch. Im Großen und Ganzen wird die Congress-geführte Regierung an der Wirtschaftspolitik der BJP festhalten. In wie weit dabei die Belange ärmerer Bevölkerungsgruppen Berücksichtigung finden, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die kommunistischen Parteien sich behaupten können. Entscheidend wird aber auch sein, wie viel Geld Premierminister Singh überhaupt noch zu verteilen hat, wenn die Geschenke seiner Regierung an die Mittelschichten und Privatindustrie ausgegeben wurden.
Dass durch die neue Regierung eine Epoche von Reformen mit menschlichen Antlitz in die Wege geleitet wird, muss bezweifelt werden. Um die indischen Aktionäre nicht zu verunsichern, haben Singh sowie sein Weggefährte von 1991 und heutiger Finanzminister Chidambaram bereits mehrmals beschworen, dass die Regierung an den Wirtschaftsreformen festhalten wird und die dazu notwendige strenge Haushaltsdisziplin einhalten werde. Die große Freude vieler InderInnen über den unerwarteten Wahlsieg wird daher schon bald im Dunst der Vergangenheit verschwinden, und Positionskämpfe zwischen der Congress-Partei und ihrer Verbündeten werden das politische Alltagsgeschäft bestimmen. Es wäre wenig überraschend, wenn die Congress-geführte Regierung daran schon vor Ablauf ihrer fünfjährigen Amtszeit zerbricht. Und die BJP? Die Tage des vergleichsweise moderaten Vajpayee sind gezählt. Hardliner wie L.K. Advani, nun Oppositionsführer im neu gewählten Parlament, werden in Zukunft wieder größeren Einfluss in der BJP haben. So war Advani auch gleich zur Stelle, um den Grund für die Niederlage Vajpayees zu identifizieren: das Abweichen vom eigentlichen Ziel, der Errichtung eines Hindustaates in Indien, habe der BJP den Sieg gekostet. Mit dieser Politik hatte die Partei ihren Siegeszug angetreten. Aus einer Splitterpartei, die 1984 gerade mal zwei Mandate erringen konnte, war 1999 die stärkste politische Macht in Indien geworden. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass die BJP ihr Heil wieder verstärkt in religiösem Hass suchen wird, zumal sie sich in anderen Politikbereichen kaum von der Congress-Partei unterscheidet. Indien stehen nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch innenpolitisch harte Zeiten ins Haus.
Eberhard Weber ist Senior Lecturer an der University of the South Pacific in Suva (Fidschi) und hat mehrere Jahre in Indien gelebt.Erschienen in: iz3w 278/279, Freiburg 2004
Indonesien: Leben mit der Bombe
Terrorismus und Tourismus in Bali
Die indonesische Insel Bali galt lange Zeit als Hort des Friedens und touristisches Paradies. Nach dem brutalen Bombenanschlag vor einem Jahr hat sich dies grundlegend geändert. Die ausländischen Touristen bleiben noch immer weitgehend aus, die Fremdenverkehrsbranche liegt inzwischen am Boden. Und auch der gesellschaftliche Frieden in Indonesien ist längst noch nicht wiederhergestellt.
von Stephan Günther
Flug GA 412 von Jakarta nach Denpasar. Die Stewardess kommt freundlich lächelnd an den Platz, reicht einen Kaffee und fängt ganz nebenbei an, von einer Bombe zu sprechen. Man muss kein besonders ängstlicher Typ sein, um in einer solchen Situation zusammenzuzucken. Das Thema Bombe sollte in einem Flugzeug tabu sein. Auf Bali ist das anders. Hier wird immer und überall über die Bombe geredet. Denn der verheerende Anschlag im Oktober 2002 hat die Welt auf der kleinen, aber wirtschaftlich bedeutenden indonesischen Insel grundlegend verändert. Mehr als 200 Menschen - überwiegend ausländische Touristen - starben damals durch den Terror der islamistischen Organisation Jemaah Islamiyah. »Seither«, erklärt die Stewardess der indonesischen Airline Garuda, »kommen nur noch wenige Touristen. Uns fehlen die Fluggäste.« Ganze sieben Passagiere verlieren sich in der geräumigen DC10, die Besatzung ist deutlich in der Überzahl. Auch der Internationale Flughafen bei Denpasar, der Inselhauptstadt, ist fast menschenleer. Erst hinter der Zollabfertigung ändert sich das Bild - und zwar schlagartig. Fremdenführer und Obstverkäuferinnen, Taxifahrer und Zimmervermittler bieten ihre Waren und Dienste an. Nicht untypisch, zumal in einem Touristenzentrum. Nur sind Angebot und Nachfrage auch hier unverhältnismäßig: Auf jeden Ankommenden warten mindestens zwanzig Hotelzimmer und dreißig Taxis.
»Fuck terrorist«
Bis Kuta, dem Touristenzentrum Balis, sind es nur vier Kilometer. Die Autobahn führt an halbfertigen Hotelkomplexen vorbei. »Manche Baustellen«, sagt der Taxifahrer, »sind nach dem Anschlag einfach so liegengelassen worden«. Die Investoren wollen erst einmal abwarten, ob sich das Tourismusgeschäft wieder erholt. So wie fast alle Bewohner der Insel zu warten scheinen, an den Rezeptionen der vielen kaum belegten Hotels, an den Souvenirständen, in den kleinen Restaurants und Imbissbuden.
In den vergangenen Monaten haben tausende BalinesInnen ihre Arbeit verloren. 300.000 waren vor dem Anschlag in Hotels, Restaurants und Freizeiteinrichtungen angestellt. Indirekt leben sogar zwei Drittel der knapp vier Millionen Einwohner von den Einnahmen aus dem Tourismus. Vor zwei Jahren kamen noch 50.000 bis 70.000 ausländische Touristen pro Woche, die durchschnittlich 74 US-Dollar am Tag ausgaben, Tendenz steigend. Nachdem in den ersten Monaten nach den Anschlägen kaum jemand den Fuß auf die Insel gesetzt hatte, steigt die Besucherzahl nun langsam wieder an. Zehn- bis zwanzigtausend Gäste kamen zuletzt pro Woche, so die vorsichtigen Schätzungen der Behörden. Ein Sektor allerdings boomt seit einigen Monaten: Vor größeren Hotels und besseren Restaurants stehen neuerdings private Wachleute. Und auch die indonesische Regierung und die balinesische Verwaltung tun einiges, um das ramponierte Image durch mehr Sicherheit wieder aufzupolieren. Tausende Polizisten seien nach Bali versetzt worden, außerdem sei das Sicherheitspersonal am Flughafen und in den Seehäfen aufgestockt worden, heißt es aus dem Tourismusministerium. Der Geschäftsführer der balinesischen Tourismusbehörde, Ida Gede Pitana, sieht sogar die gesamte Bevölkerung in der Verantwortung: »Wir haben die Dorfgemeinschaften aufgefordert, aufmerksam zu sein.«
Überall in den Straßen hängen Transparente, auf denen die Sicherheit gepriesen wird. »Bali, die Friedensinsel« steht darauf in englisch oder deutsch geschrieben, oder schlicht »Ort des Friedens«. Die Souvenirverkäufer haben sich dem Trend angeschlossen. T-Shirts mit »Fuck terrorist«-Aufdrucken liegen in den Auslagen, mehr Botschaft denn Verkaufsargument. Der Terroranschlag wird auch sonst nicht verschwiegen. Im Gegenteil: Er ist selbst schon Attraktion. Touristen pilgern zum Ort des Schreckens. Dort, wo bis zum 12. Oktober 2002 das Paddy's und der Sari Club standen, zwei der großen Diskotheken in Kuta, lassen sie sich vor den Trümmern fotografieren. Bali, das sollen die Erinnerungsfotos dokumentieren, ist kein Pauschal-, sondern Abenteuerurlaub.
Schwärmen von der Vergangenheit
Tatsächlich hat sich nicht nur die Touristenzahl, sondern auch die Klientel der Besucher geändert. Es ist, als würde die Insel neu entdeckt werden: Während sich Pauschalurlauber bedeckt halten, kommen vermehrt Rucksackreisende und Wanderer, Aussteiger und Surfer. Endlich bietet sich ihnen wieder eine Trauminsel, die vermeintlich frei ist vom Rummel des Massentourismus. In den Kulturmagazinen wird die Vergangenheit heraufbeschworen, gerne wird etwa der Künstler Walter Spies zitiert, der in den 1930er Jahren auf Bali lebte und schwärmte: »Das ganze Leben ist mir ein andauernder Geburtstag.« Damals kamen Kulturschaffende aus der ganzen Welt auf die Insel, Vicky Baum etwa oder Charlie Chaplin. Nach Ubud, der größten Stadt im Inselinneren, wo damals eine regelrechte Künstlerkolonie entstand, zieht es auch heute wieder die Kultur- und Bildungsreisenden. Die verträumte Landschaft mit ihren waldigen Berghängen, an deren Füßen sich Reisfelder terrassenförmig ineinander schieben, bietet Malern phantastische Motive. Hier scheinen nur Künstler zu leben, in jedem Haus eine Werkstatt, ein Atelier, eine Kunstschule. Die traditionellen balinesischen Handwerke und Künste - Schnitzerei, Batik-Malerei, Instrumentenbau und Bildhauerei - wurden im Laufe der Zeit ergänzt durch klassische europäische Künste. Was früher jedoch zur Ehre der Götter getan wurde, dient heute dem Lebensunterhalt. Die Kunstwerke werden in den Tourismushochburgen im Süden der Insel verkauft. Häufig kommen ganze Buskonvois nach Ubud, die Touristen steigen aus, besichtigen die Ateliers und Werkstätten, kaufen ein und fahren wieder zurück. Besser gesagt: Kauften ein. Denn jetzt türmen sich die Waren in den Lagern der Geschäfte. Nur noch wenige Busse kommen nach Ubud. Die Verkäufer konzentrieren sich daher auf die Individualreisenden. Und weil diese wenig Platz im Gepäck haben für die großen Holzskulpturen und Bilder, ködern die Händler sie mit kostenlosem Transport der Waren zum Flughafen. Und wer mehr nach Übersee schaffen will, dem bieten die Transportgesellschaften günstige Tarife für die Verschiffung im Container.
Ubud ist auch wegen seiner Aufführungen traditioneller Tänze und Theaterstücke berühmt. Gut besucht sind zurzeit aber lediglich die religiösen Zeremonien und Feste, bei denen hinduistische Balinesen viel Zeit verbringen. Kein Tag, an dem nicht an heiligen Quellen, heiligen Bergen oder heiligen Steinen Götter verehrt werden. In jedem Wald, an jedem Feld steht ein kleiner Altar, der immerzu mit Blumen und Früchten reich gedeckt ist. Die Mehrzahl der Balinesen praktiziert einen Hinduismus, der starke Elemente früherer Naturreligionen in sich trägt. Das gilt ebenso für den indonesischen Islam. Auch die Muslime pflegen ihre Haustempel und schmücken Häuser und Straßen mit Blumen. Und wie der balinesische Hinduismus gilt der Islam hier als ausgesprochen tolerant. Der sunnitische Islam auf Bali ist sehr stark vom Sufismus, der islamischen Mystik, geprägt. Nicht selten zelebrieren Anhänger verschiedener religiöser Gruppen gemeinsame Feste, viele besuchen auch die großen Kultstätten der anderen Religionen. Doch selbst in Ubud, dem selbsternannten Hort des Friedens und der Toleranz, gibt es andere Stimmen. Während einer hinduistischen Tempelzeremonie rät ein Gläubiger von der Reise auf die benachbarte Insel Java ab. Die Muslime dort seien Terroristen, so die simple Warnung, Frieden bringe allein der Hinduismus. Solcherlei Ressentiments sind selten, aber sie deuten an, dass der Terror auch in den Köpfen einiges bewegt hat.
Zwar ist Indonesien weit entfernt von hinduistisch-muslimischen Konflikten wie in Kaschmir. Und die Zentralregierung in Jakarta verteidigt mit aller Gewalt die staatliche Einheit gegen Aufständische, die auf einer der rund 17.500 Inseln des Landes nach Autonomie streben. In religiösen Fragen aber bleibt sie weitgehend neutral, denn in der Verfassung ist die Religionsfreiheit festgeschrieben. Dennoch ist der Islamismus zu einer ernsthaften Gefahr in Indonesien geworden, vor allem durch die Jemaah Islamiyah (Islamische Gemeinschaft), die die Anschläge auf Bali offenbar in enger Zusammenarbeit mit dem internationalen Terrornetzwerk al Qaida ausführte. Aber auch die Laskar Jehad (»Dschihad-Krieger«), die massiv in den Bürgerkrieg auf den Molukken involviert ist, und die Front Pembela Islam (»Front zur Verteidigung des Islam«) suchen ihre Ziele mit militärischer und terroristischer Gewalt durchzusetzen.
Gegen die Öffnung
Weil die Ziele der Islamisten nicht mehr nur in der Autonomie einzelner Inseln bestehen, sondern der Staat - oder sogar »der Westen« und der »westliche Lebensstil« - getroffen werden soll, drohen gerade die Hauptinseln Bali und Java noch stärker ins Visier der Terroristen zu geraten. Denn sie stehen für die Öffnung des Landes durch Industrialisierung (Java) und Tourismus (Bali). Nicht zufällig detonierte wenige Tage bevor die Tourismusminister der asiatischen Staaten über die Zukunft des Tourismus beratschlagten, am 5. August 2003 vor dem Marriott Hotel in Jakarta eine Autobombe, durch die zwölf Menschen ums Leben kamen und etwa 150 verletzt wurden. Wieder gehen die Ermittler davon aus, dass Jemaah Islamiyah dafür verantwortlich ist. Und wieder wird der Anschlag neben den direkten Opfern auch noch eine ganze Reihe indirekter Folgen haben. Vor allem für den Tourismus.
Die Bombe, das ist den Menschen auf Bali offenbar klar geworden, war kein einmaliges Ereignis. Sie bleibt präsent und wirkungsmächtig, auch wenn sie im weit entfernten Jakarta explodiert.
Stephan Günther ist Mitarbeiter im iz3w. Erschienen in: iz3w 272, Freiburg 2003
Laos: Das Land dazwischen
Über die Freundschaftsbrücke kommt der Kapitalismus
Die Demokratische Volksrepublik Laos spielt in Südostasien nur eine Nebenrolle. Wie die Genossen und Kollegen in Peking und Hanoi praktiziert das kommunistische Regime in der Hauptstadt Vientiane heute einen Balanceakt zwischen Marx und Money: Einerseits soll die Macht im Zeichen von Hammer und Sichel erhalten, andererseits der Markt geöffnet werden. Der Einfluss der Nachbarstaaten ist dabei unübersehbar.
von Rüdiger Siebert
Die rote Fahne mit Hammer und Sichel und die blauweißrote Nationalflagge wehen in zwillingshafter Eintracht nebeneinander. Johnnie Walker tritt als Empfangschef auf. Der ankommende Gast, der von Thailand nach Laos auf der den Mekong überspannenden Freundschaftsbrücke einreist, wird von dem stramm marschierenden Whisky-Genießer begrüßt. Auf Werbetafeln verkündet er Weltoffenheit und lädt den Besucher ein, im Duty-free-Shop erstmal unter internationalem Alkoholangebot der Spitzenklasse auszuwählen, ehe er sich auf die Volksrepublik und ihre Leute einlässt. Das Land befindet sich mitten in einem Prozess der Neuorientierung. Die kommunistischen Ideale, in Laos nie mit der Konsequenz wie in Vietnam oder China durchgesetzt, sind brüchig geworden. Die westlich geprägten Konsumversprechen und die damit verbundene Verlockung einer vermeintlich freien Gesellschaft, die das Fernsehen des nahen Thailand auf die laotischen Bildschirme bringt, bedeuten längst eine Herausforderung für die Altherrenriege des Politbüros in Vientiane. In der Hauptstadt teilt der Mekong als Grenzfluss nicht nur zwei Länder. Der Strom trennt zwei Gesellschaftssysteme. Thailand hat sich der Marktwirtschaft verschrieben, gehörte zu den »kleinen Tigern« der Boom-Zeiten, geriet Ende der 90er Jahre in die Turbulenzen der Asien-Krise und hat sich erstaunlich gut davon erholt. Laos dagegen wird seit 1975 unter sozialistischen Zeichen regiert. Die Einheitspartei LPRP (Laotische Revolutionäre Volkspartei) dirigiert alle öffentlichen Bereiche. Laos gehört damit neben China, Nordkorea, Vietnam und Kuba zu den letzten Ländern, die aus dem einstigen Ostblock übriggeblieben sind.
Laos ist in jeder Beziehung das Land dazwischen. Mit 236.800 Quadratkilometern hat es etwa die Größe von Großbritannien und Nordirland, ist aber von nur knapp fünf Millionen Menschen bewohnt. Die meisten ernähren sich mehr schlecht als recht als selbständige Kleinbauern. Offiziell wird eine Dreiteilung gemäß der Lebensbereiche vorgenommen: 55 Prozent der Bevölkerung gelten als Lao-Lum, die in den Niederungen entlang des Mekongs leben; 27 Prozent sind Lao-Theung, die in den Höhenlagen siedeln; 15 Prozent werden den Lao-Soung zugerechnet, die Menschen der Berge. Die Hmong ist die bekannteste einer Vielzahl von Minderheiten, die in teilweise unzugänglichen Bergregionen im Einflussgebiet von China und Vietnam siedeln. Doch die Übergänge sind fließend und keineswegs so starr abgegrenzt wie es die Statistik glauben macht. Das gilt ebenso für die Sprachenvielfalt, unterschiedliche Lebensweisen und kulturelle Eigenheiten. Ohne Zugang zum Meer ist Laos seit Jahrhunderten von seinen Nachbarn geprägt worden. Die heutige Grenzziehung geht auf die Zeit der französischen Kolonialherrschaft zurück. Die war nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende und hinterließ ein Machtvakuum. Im Vietnamkrieg ging der verzweifelte Versuch, neutral zu bleiben, in den Bomben der Amerikaner unter. Laos wurde zum Spielball der Mächte im Ost-West-Konflikt. Einige tödliche Folgen des nie offiziell erklärten Krieges sind bis heute geblieben: Blindgänger, Minen, Bomben finden sich überall im Lande.
Markt- und Schwarzmarktwirtschaft
Als sich die Amerikaner Mitte der 1970er Jahre aus dem ehemaligen Indo-China zurückziehen mussten - die großen Verlierer in einem dreißigjährigen Krieg -, hatten sich die Kommunisten der Pathet Lao und ihre vietnamesischen Genossen und Waffenbrüder durchgesetzt. Im Dezember 1975 wurde die Demokratische Volksrepublik Laos proklamiert. Nach Amnesty-Berichten wurden damals »zehntausende Menschen ohne Anklage und Prozess in ›Umerziehungslager‹ geschickt, wo sie unter extrem harten Bedingungen, manche bis zu zehn Jahren, festgehalten wurden. Eine unbekannte Anzahl von Menschen überlebte diese Haft nicht. Weitere Zehntausende flohen in andere Länder.« Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt mussten sich Laos wie Vietnam neu orientieren. Bereits 1986 erfolgte mit dem New Economic Mechanism (NEM) eine vorsichtige Öffnung der Wirtschaftspolitik. Die Grenzen blieben indes noch ziemlich verschlossen. Als dann im April 1994 mit der Freundschaftsbrücke die erste Brücke über den Mekong überhaupt eingeweiht wurde, war das mehr als nur eine verkehrstechnische Neuerung. Mit dieser Verbindung und den auch politisch nicht weiter aufzuhaltenden äußeren Einflüssen wurde Laos aus einer Art sozialistischem Dornröschenschlaf erweckt. 1990 wurden 14.400 ausländische Besucher registriert. 1999 waren es 614.278. 1999 und 2000 waren zu »Visit-Laos«-Jahren erklärt worden. Die erleichterten Visabestimmungen lockten vor allem Rucksack-Touristen an - die Pfadfinder des sich organisierenden Tourismusgeschäftes. 60 Prozent aller Einreisen erfolgen über die Freundschaftsbrücke. Die meisten Reisenden sind freilich gar keine Touristen, sondern thailändische Pendler im kleinen Grenzverkehr. Hier floriert eine Mischung aus Markt- und Schwarzmarkt-Wirtschaft, die für das gesamte ökonomische System Laos' kennzeichnend geworden ist. Thailändische Händlerinnen schleppen ganze Wagenladungen an Konsumartikeln herbei, die auf den Märkten in Laos weiterverkauft werden. Die Atmosphäre rund um die Freundschaftsbrücke ist genauso wie der Grenzübergang Chong Mek im Süden des Landes von einer spannungsgeladenen Szene aus Schmuggel und Kriminalität geprägt. Eine Reihe von Sprengstoff-Attentaten an den beiden Grenzübergängen und anderen Orten in den vergangenen Monaten wurden nie aufgeklärt. Entlud sich da mafiöser Bandenstreit? Oder bestehen politische Zusammenhänge? Offiziell wird in Vientiane kein Kommentar gegeben. Vertuschen, verschweigen, verharmlosen gelten als bewährte Prinzipien der Behörden. Dies ist kennzeichnend für das politische Klima im Lande. Die wenigen Zeitungen sind Regierungsorgane, ebenso Fernsehen und Rundfunk. Nicht-Regierungs-Organisationen sind nicht zugelassen. Versammlungsfreiheit oder die Freiheit der Meinungsäußerung in Organisationen außerhalb des Regierungs- und Parteiapparates gibt es nicht. So finden keine öffentlichen Diskussion über die existentiellen Themen statt - nicht über die Abholzung der Wälder und Export nach China, Vietnam und Thailand; nicht über den Ausbau der Staudämme auf Kosten der Umwelt; die Ausbeutung der Bodenschätze; die Rolle des Miltärs, das landesweit im Holzhandel und anderen profitablen Geschäften mitmischt; oder über die Spannungen zwischen der Zentralregierung und der Machtfülle regionaler Politiker (s. iz3w Nr. 250). Oppositionelle Gruppen, so sie sich überhaupt bilden, werden verfolgt. Als junge Leute am 26. Oktober 1999 in Vientiane eine friedliche Demonstration veranstalteten, um eine politische Wende anzuregen, wurden sie sofort verhaftet. Amnesty International forderte bisher vergeblich Aufklärung und Freilassung. Auch das Europa-Parlament in Straßburg hat der Volksrepublik Laos in einer Entschließung Mitte Februar anhaltende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen und die Freilassung der politischen Häftlinge gefordert.
Immerhin gilt die Religionsausübung, über Jahre von den Behörden restriktiv gehalten, nun wieder als frei - sofern sich die Gläubigen strikt auf Pagoden und Kirchen beschränken und es bei Gebeten und Meditation belassen. Gerade die christliche Minderheit wird aber noch immer mit staatlichem Misstrauen beobachtet, weil ihren Angehörigen West-Kontakte unterstellt werden. Die US-Regierung wies in ihrem Menschenrechtsreport vom Februar auf die Verhaftung von etwa hundert Christen und 25 Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften hin. Es gibt dazu weder eine offizielle Stellungsnahme in Vientiane, noch Gerichtsverfahren.
Die meisten Menschen in Laos sind allerdings schlicht mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Die Politik der Zentrale in Vientiane ist für die Mehrheit der zu 80 Prozent in ländlichen Regionen als Selbstversorger lebenden Bevölkerung weit weg. Diese Menschen waren arm und sind es auch unter sozialistischen Vorzeichen geblieben. Laos gilt weiterhin als eines der ärmsten Länder der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen wird mit 300 US-$ angegeben, weniger als ein Dollar am Tag. Stellt man in Rechnung, dass eine städtische Elite in Politik, Militär und Handel sehr viel mehr verdient, steht der Mehrheit der Laoten nicht einmal dieser eine Dollar am Tag zur Verfügung. Zudem stammen etwa 20 bis 25 Prozent der Einkommen privater Haushalte aus den Geldüberweisungen von Auslands-Laoten. Was in keiner Statistik auftaucht, aber auch nur einer kleinen Gruppe zugute kommt, sind die Einnahmen aus dem Schmuggel und illegalem oder verschleiertem Holzhandel - dem Ausverkauf des natürlichen Reichtums. Auch das Bildungsniveau ist gering. Die Analphabetenrate wird bei Männern mit 38, bei Frauen mit 70 Prozent angegeben. Was Einkommen, Gesundheitsversorgung, Basisdienste betrifft, so klafft die Schere zwischen den wenigen Städten und den ländlichen Regionen weit auseinander.
Nur nichts überstürzen
Aus den Kriegszeiten im Würgegriff der USA stammt die enge Bindung an Vietnam. Die Vorgaben aus Hanoi bestimmen die politischen Verhältnisse in Laos. Das gilt besonders in der Finanzpolitik und ist auch im Zusammenhang mit der hohen Zahl fehlender Fachleute zu sehen. Während der Kriegsjahre und unmittelbar nach der sozialistischen Machtübernahme 1975 sind mehr als 360.000 Menschen aus Laos geflohen - etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung, unter ihnen viele Angehörige der Elite aus Wirtschaft und Verwaltung. Noch immer sind einheimische Experten auch im Regierungsapparat dünn gesät. Ein mittlerer Beamter verdient etwa 20 US-$ im Monat und ist gezwungen, einen oder zwei weitere Jobs auszuüben. Die Bereitschaft zur Korruption ist entsprechend groß. Nur wenige sind genügend ausgebildet, um den angestrebten Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft zu gestalten. Und es gibt kaum Erfahrung im internationalen Geschäft. Laos ist zwar als Absatzmarkt für Konsumgüter interessant geworden, noch nicht aber für langfristige Industrieprojekte. Vietnam steckt in einem ähnlichen Dilemma, verfügt aber längst über mehr Professionalität. Wirtschaftlich dominiert in Laos der ungeliebte große Bruder. Thailand - wo mehr ethnische Laoten leben als in Laos - ist als Investor, Handelspartner und Großabnehmer der in Wasserkraftwerken produzierten Elektrizität involviert. Die mit thailändischer Beteiligung geführte Lao-Brauerei bei Vientiane ist bezeichnenderweise einer der großen industriellen Betriebe des Landes. Für den übermächtigen Nachbarn im Norden, die Volksrepublik China, ist Laos vor allem zum Markt für Billigprodukte industrieller Massenfertigung geworden.
Laos ist seit Jahrhunderten von seinen Nachbarn bestimmt. Seine von Teilen der Eliten betriebene Suche nach Eigenständigkeit ist im Gefolge der Auflösung der kommunistischen Welt, der Globalisierung, der Abhängigkeit von internationalen Finanzplätzen und der grenzüberschreitenden Massenmedien noch komplizierter geworden. Durch die rigorose Abschottungspolitik bis in die jüngste Vergangenheit hat die laotische Führung gemäß der uralten Maxime im Lande, nur nichts zu überstürzen, weder kritische Geister geduldet, noch ein Klima öffentlichen Gedankenaustauschs zugelassen. Eine »bürgerliche« Elite, die nach mehr Einfluss und Beteiligung an der politischen Macht verlangen würde, konnte sich bislang gar nicht heranbilden. Die politische Öffnung hat noch nicht stattgefunden.
Aber mit der wirtschaftlichen Öffnung ist ein unumkehrbarer Prozess in Gang gekommen, der eben nicht nur Geld und Güter über die Grenzen bringt, sondern auch Gedanken, die kein Zensor oder Zöllner kontrollieren kann. Der junge Journalist einer Zeitung in Vientiane, der gerade von einem Trainingskurs aus Phnom Penh zurückkehrte und erfahren konnte, dass die Presse in Kambodscha im Gegensatz zu laotischen Medien kritisch und relativ offen ist, stellt in seiner unmittelbaren Umgebung bereits Arbeitsbedingungen infrage. Die Zeiten, da die Herren in Vientiane - von Frauen ist ohnehin nie die Rede - mit der Abschottungspolitik Veränderungen draußen halten konnten, sind vorbei. Laos ist auch als ASEAN-Mitglied einbezogen in die regionale Entwicklung. Das Binnenland wird zunehmend zu einer Transitregion in Südostasien. Der Straßenbau ist in vollem Gange. Die Weltbank gibt Kredite. Bautrupps aus Japan, China, Vietnam erschließen immer mehr entlegene Gebiete. Und der zunehmende Autoverkehr verzeichnet traurige Zuwachsraten: 1975 zählte die Statistik 63 Straßenunfälle mit sechs Toten. Im Jahre 2000 waren es 1.894 Unfälle mit 108 Verkehrstoten. Auch ein Indikator für Fortschritt.
Rüdiger Siebert ist Journalist. Von ihm und Heinz Kotte ist zuletzt im Horlemann-Verlag erschienen: Der Traum von Angkor. Kambodscha, Vietnam, Laos.Erschienen in: iz3w 252, Freiburg 2001
Laos: Konservierende Entwicklung
Laos' Weg eines nachhaltig-nachholenden Kapitalismus
Entwicklungshilfe wie Kreditvergabe werden zunehmend an die "Nachhaltigkeit" der finanzierten Projekte gekoppelt. Entwicklung soll dadurch sozial- und umweltverträglich werden. Das Beispiel von Laos zeigt jedoch die Widersprüche, die auftreten, wenn gleichzeitig eine Ankoppelung an den Weltmarkt betrieben und natürliche Ressourcen geschützt werden sollen.
von Steffen Schuelein
Auf der EXPO präsentierte sich Laos als ein Musterbeispiel für nachhaltige Entwicklung: »Laos besitzt viele natürliche Reichtümer: Wasser, Bodenschätze und eine Waldfläche, die fast die Hälfte des Landes bedeckt... Laos zeigt seine Ansätze einer ökologisch orientierten Wirtschaftsentwicklung, die den Schutz der natürlichen Ressourcen, vor allem des Waldes in den Mittelpunkt stellt... Das Land will die Weltausstellung nutzen, um Wege aufzuzeigen, wie ohne Raubbau an der Natur die Lebens- und Wirtschaftsbedingungen eines Volkes verbessert werden können.« Wie auf der EXPO so auf Erden.
Laos - die zukünftige Schweiz Indochinas. Diese gewagte Analogie charakterisiert die Entwicklungsvorstellungen für das kleine gebirgige Binnenland. Propagiert wird die Gewinnung von Energie aus Wasserkraft und die Förderung des Tourismus. Als so genannter Spätentwickler scheint Laos auf den ersten Blick gute Voraussetzungen mitzubringen, um aus den ökologischen Fehlern seiner Nachbarländer zu lernen. Was hier jedoch als Modell für Nachhaltige Entwicklung angepriesen wird, gründet auf dem altbekannten Szenario einer nachholenden Modernisierung, in das sich einige Projekte zum Schutz der natürlichen Ressourcen einzugliedern versuchen. In erster Linie soll Wirtschaftswachstum durch die Öffnung des Landes, durch die Förderung ausländischer Investitionen und den Anschluss an das ›East Asian Miracle‹ ermöglicht werden und dem Land Wohlstand bringen. In Ermangelung produktiver Wirtschaftsstrukturen werden dabei die natürlichen Ressourcen als primäre Entwicklungsfaktoren angesehen. Das Schlagwort ›Nachhaltigkeit‹ scheint dabei eher die Unvereinbarkeit von Ausbeutung und Konservierung zu verschleiern, als dass damit der Blick auf die tatsächlichen Machtverhältnisse eines am globalen Markt orientierten Entwicklungsprozesses geschärft würde.
Natürliche komparative Vorteile
Der Reichtum an »natürlichen Ressourcen« in Laos wird in nahezu allen Entwicklungsstrategiepapieren hoch gelobt. Die Lebensgrundlage »Wald« wird zur bloßen Holzressource umgetauft. Tatsächlich wurden schon zur Zeit der Abschottung begehrliche Blicke auf diese ›letzte Schatzkammer Südostasiens‹ gerichtet. Die Ressourcen (bes. Holz), die in den Nachbarländern schon früh der Industrialisierung zum Opfer gefallen waren, hatten im kommunistischen Laos eine weit gehende Schonfrist erfahren. In Ermangelung produktiver Strukturen liegt es für Laos - ökonomisch betrachtet - nahe, die komparativen Vorteile der späten Entwicklung zu nutzen. Die Wälder und die (noch untouristisierte) buddhistische Kultur stellen die einzigen Tauschwerte dar, die Laos auf dem Weltmarkt anzubieten hat. Deren Inwertsetzung ist damit aus modernisierungsorientierter Perspektive das vorrangige Entwicklungsziel.
Nun bleibt diese Inwertsetzung nicht ohne Konsequenzen. Mit dem Einzug der internationalen Nachhaltigkeitsdebatte trauen sich zwar nur noch wenige, öffentlich ›Industrialisierung sofort, Umweltschutz später‹ zu fordern. Für Laos wird denn auch von globalen Entwicklungsvertretern - etwa von OECD oder UNDP - eine Orientierung an den Fehlern der Nachbarländer und eine Nutzung der so genannten ›late-comer advantages‹ gefordert. Doch danach gefährdet das Wirtschaftswachstum eine nachhaltige Entwicklung nicht. Im Gegenteil: Wirtschaftswachstum wird als der einzige Weg angesehen, Armut zu beseitigen und nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Nachhaltigkeit soll die Inwertsetzung der natürlichen Ressourcen ermöglichen ohne sie auszubeuten.
Angesichts der tatsächlichen Situation erweist sich dies jedoch als Wunschdenken. Denn zunächst einmal muss das Bild des laotischen Ressourcenreichtums korrigiert werden. Bei der Evaluierung des Waldbestands etwa hat man sich jahrelang in die Tasche gelogen, mittlerweile ist nur noch knapp ein Viertel der Landesfläche bewaldet. Zwar wurde schon immer Holzhandel mit Thailand betrieben, mit der Öffnung vervielfachte sich die Menge jedoch, einem offiziellen Einschlagsverbot zum Trotz. Von Entwicklungsprojekten erstellte Karten zur Evaluierung des Waldbestandes wurden dazu benutzt, die besten Einschlaggebiete ausfindig zu machen. Außerdem finanziert sich das Militär aus der Vergabe von Konzessionen zur Abholzung. Innerhalb dieser Konzessionen wird das Tropenholz teilweise für die Hälfte des Weltmarktpreises verschleudert.
Verbliebene Primärwaldbestände befinden sich heute hauptsächlich in abgelegenen Talkesseln und unzugänglichen Bergregionen. Diese Gebiete jedoch sind heute interessant für Staudammprojekte, den zweiten Hoffnungsträgern für laotische Entwicklung. Nutzungskonflikte sind in dieser Situation unvermeidlich. So mussten Verantwortliche der Weltbank feststellen, dass sie ein Naturschutzgebiet (NBCA) und einen Staudamm am gleichen Ort finanzierten. Das Projekte zum Schutz des Waldes ging damit buchstäblich baden.
Waldschutz ohne Bäume
Bis zu sechzig Groß-Staudämme sind auf laotischem Staatsgebiet geplant, mehrere davon befinden sich bereits im Bau. Die erzeugte Energie soll in die ›boomenden‹ Wirtschaftsregionen Thailands (und Vietnams) exportiert werden. Da Laos über keine Finanzmittel verfügt, werden die Staudämme von internationalen Investoren gebaut, der Investor darf den Gewinn abzüglich einer Ressourcenpauschale über einen Zeitraum von 25-30 Jahren einstreichen. Bereits die Planung eines Staudamms, genauer: die Unterzeichnung eines MOU (Memorandum Of Understanding), berechtigt den Investor zum Erwerb einer Konzession für die Befreiung des Staudammbeckens von organischem Material. Für Umweltverträglichkeitsprüfungen und Umsiedelungen gab es lange kein Geld, bis auf internationalen Druck von NGOs diesbezügliche Verfahren eingeleitet wurden. Die Weltbank drohte sogar die Kreditzusage zurückzuziehen, wenn keine glaubwürdige Umweltverträglichkeitsprüfung für den besonders umstrittenen Staudamm Nam Theun 2 geliefert würde. Bei einer Ortsbegehung stellte man keine möglichen negativen ökologischen Folgen der Fertigstellung fest: Es wuchs bereits kein Baum mehr in dem Tal. Dem Kredit stand also nichts mehr im Wege. Besonders aktiv sind thailändische Unternehmenszusammenschlüsse, die sowohl die lukrative Abholzung des Beckens, Bau und Betrieb des Staudamms als auch die Abnahme des Stroms unter sich ausmachen und die laotische Regierung unter massiven Preisdruck setzen können. Energie aus Wasserkraft ist deshalb in Laos konkurrenzlos billig. Nach der Asienkrise und dem Einbruch der thailändischen Wachstumsraten wurden die nur halb offiziellen Zusagen über die Abnahme von Wasserkraft wieder rückgängig gemacht. Gleichzeitig verliert die ländliche Bevölkerung, die in den fruchtbaren Flusstälern Landwirtschaft und Fischfang auf Subsistenzniveau betreibt, ihre Lebensgrundlage, wird umgesiedelt oder zieht in die Städte.
Kritik an diesen Projekten wird immer häufiger auch von der Seite der internationalen Entwicklungsorganisationen geäußert. Die Aussichten und Einsichten über einen sozialen, ökologischen und ökonomischen Fehlgriff veranlassen eine Suche nach weiteren möglichen Entwicklungspotentialen. In der Hoffnung auf die Erwirtschaftung von Devisen wird nun die ›sanfte‹ Tourismusentwicklung propagiert. Tatsächlich verspricht der Tourismussektor beträchtliche Wachstumsraten. Eine Verdopplung der Touristenzahl innerhalb von drei Jahren auf rund eine Millionen BesucherInnen im ›Visit Laos Year 2000‹ wird prognostiziert. Die Einnahmen für Laos werden auf nur etwa 100-150 US-Dollar pro TouristIn geschätzt, weil die größeren Hotels in der Mehrzahl im Besitz von Thais und Chinesen sind, und die TouristInnen zum großen Teil Importprodukte aus Thailand konsumieren. Von westlichen Reisenden wird Laos vor allem für die Ursprünglichkeit seiner buddhistischen Kultur geschätzt. Ob diese Ursprünglichkeit nachhaltig gewahrt werden kann, wenn die Hoffnungen der Tourismusplaner sich erfüllen und im Jahr 2004 acht Millionen Besucher nach Laos kommen - bei knapp über fünf Millionen EinwohnerInnen? Offenbar ist ein Entwicklungsprozess basierend auf marktwirtschaftlicher Öffnung für Akteure mit unterschiedlichsten ökonomischen Interessen mit »Nachhaltigkeit« nicht vereinbar, selbst wenn der Wille dazu bei den politisch Verantwortlichen an erster Stelle stünde. Die wechselseitige Rhetorik der Nachhaltigkeit von lokalen Eliten und westlichen Entwicklungsorganisationen scheint im Wesentlichen dazu zu dienen, Widersprüche der herrschenden Entwicklungsideologie zu kaschieren und Kontinuität im Entwicklungsbusiness zu sichern. Die EXPO ist dafür nur ein besonders naives Beispiel.
Zusatzinfos
Laos gehört mit einem durchschnittlichen Bruttosozialprodukt pro Kopf von knapp über 300 US-Dollar zu den ärmsten Ländern der Welt. Das Rückgrat der laotischen Ökonomie bildet eine subsistenzorientierte Landwirtschaft, von der etwa 80 Prozent der Bevölkerung lebt. Devisen stammen aus dem Export von Holz, dem Verkauf von Energie aus Wasserkraft und seit neuestem aus dem Tourismus. Die Industrialisierung des Landes beschränkt sich auf die Hauptstadt Vientiane. Dort werden Zigaretten, Bier und Softdrinks produziert, durch ausländische Investitionen entsteht eine Textilbranche, die in Billiglohnkonkurrenz zu Thailand tritt. Die bestehenden Ungleichheiten zwischen dem urbanen Zentrum und der ruralen Peripherie nehmen zu.
Bis in die 90er Jahre war die Volksdemokratische Republik Laos weitgehend abgeschottet und fristet auch heute noch auf der weltpolitischen Bühne ein Schattendasein. Die ehemalige Kolonie Frankreichs (frz. Indochina) wird seit der Revolution 1975 von der kommunistischen Pathet Lao (LPRP- Lao Peoples Revolutionary Party) regiert. Die LPRP übernahm ein durch den Vietnamkrieg zerstörtes Land. Ungefähr zwei Millionen Tonnen Bomben hatten die USA über Laos abgeworfen, ein erheblicher Teil davon liegt auch heute noch als UXO (unexploded ordnance) im Osten des Landes herum. Politisch und wirtschaftlich wurde die Machtübernahme von der Sowjetunion und Vietnam unterstützt. Ende der achtziger Jahre kehrte die Regierung den gescheiterten Kollektivierungsmaßnahmen den Rücken und wandte sich mit »chinthanakaan mai« (neuem Denken) marktwirtschaftlichen Prinzipien zu. Die Reformen des N.E.M. (New Economic Mecanism) bestanden in der sukzessiven Öffnung des Landes und der Anlehnung an die Strukturanpassungsprogramme des IWF und der Weltbank. (Reformen der Geld- und Fiskalpolitik, Privatisierung von Staatsbetrieben, Liquidierung von Kooperativen). Die Aufnahme von Laos in die ASEAN (Association of South East Asian Nations) 1997 wird als Markstein für die ökonomische Integration des Landes in das ›East Asian Miracle‹ gesehen. Laos soll seine strategische Position als Bindeglied zwischen China, Thailand, Vietnam nutzen und sich zur Drehscheibe Südostasiens entwickeln. Bombenanschläge auf Tourismusrestaurants in der Hauptstadt Vientiane und ein Wiederaufleben der Guerilla-Aktivitäten im Landesinneren sorgten in den letzten Monaten für außergewöhnliches Medieninteresse an Laos. Zunächst hieß es, ein exilierter Prinz wolle König werden und benutze dazu die regierungsfeindliche Hmong-Guerilla (zu Vietnamkriegszeiten massiv von den USA gegen die Kommunisten in Stellung gebracht). Hinter der Wiederaufnahme der Guerilla-Aktivitäten steckt aber vermutlich vor allem die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage großer Teile der ländlichen Bevölkerung und besonders der Bevölkerungsgruppe der Hmong.
Steffen Schülein ist Mitarbeiter im iz3w. Erschienen in: iz3w 249, Freiurg 2000.
Laos: Öko-Legoland
Wie die Weltbank Laos neu erfindet
In einem Bericht für die Weltbank sticht eine handgezeichnete Karte von Laos hervor. Sie zeigt nicht Provinzgrenzen oder Städte, sondern nur größere Flecken mit Initialen wie WB, SIDA, WCS und IUCN. Diese bedecken fast ein Fünftel des Landes und repräsentieren jüngst definierte Zonen für Umwelt- und Ressourcenschutz. Die Karte symbolisiert, wie ein ganzes Land im Namen des Naturschutzes umgestaltet wird. Wissenschaft und Weltbank, laotische Staatsführung und internationale Umweltgruppen haben sich hier zu einer neuen Form der »Öko-Governance« zusammengefunden.
von Michael Goldman
Die genannten Kürzel stehen für die Weltbank, die Swedish International Development Agency, die Wildlife Conservation Society und die World Conservation Union. Sie sind am Mekong-Großprojekt beteiligt, in dessen Rahmen mehr als ein Dutzend Staudämme entstehen sollen. Verbunden ist das Projekt mit neuen Strategien des Umwelt- und Naturschutzes und der Nachhaltigkeit. Ein Heer unterschiedlichster Akteure - von Weltbank-Juristen bis hin zu Umweltforschern - ist beauftragt, Eigentumsrechte an Ressourcen umzuschreiben, staatliche Agenturen zu schaffen und lokale Produktionspraktiken neu zu definieren. Damit werden bisher geltende Formen von staatlicher Souveränität umgewälzt.
Entwicklungsexperten feiern Laos als das Kronjuwel Südostasiens, das den ökonomischen Zentren wie Bangkok künftig ausreichende Mengen an Energie zur Verfügung stellen soll. Der Staat Laos, die Weltbank, die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) und private Konsortien von ausländischen Investoren sind von der Erschließung der Wasserenergiereserven durch den Staudammbau begeistert. Der Weltbank-Plan ruft Wissenschaftler, Regierungen und ausgewählte NROs dazu auf, sich an dem 50 Milliarden-Dollar-Projekt zur Energiegewinnung zu beteiligen. Im Rahmen derartiger Großprojekte wird die Intervention der Weltbank umfassender, professioneller und autoritärer. Indem sich einschlägige wissenschaftliche und politische Prozesse unter dem Paradigma der ökologisch nachhaltigen Entwicklung rasch ausbreiten, werden in ressourcenreichen und kapitalarmen Schuldnerländern wie Laos die gesellschaftlichen Naturverhältnisse umgestülpt. Dieses Geschehen kann als »grüner Neoliberalismus« gekennzeichnet werden, der die Verwissenschaftlichung sowie die Verwaltung und Kapitalisierung heiß umkämpfter Ökozonen wie z.B. des Mekong- und des Amazonasbeckens beschleunigt.
Neue Eliten: Champions züchten
Der Staudamm Nam Theum 2 ist als Testfall konzipiert. Als derzeit größtes Investitionsobjekt in Laos übersteigt er mit 1,5 Mrd. Dollar knapp das Bruttosozialprodukt des Landes, den Staatshaushalt gar um das Vierfache. Nach Fertigstellung sollen die jährlichen Einnahmen aus dem Verkauf der Energie an Thailand 60 Prozent des BSP ausmachen. Aufgrund der ökologischen und sozialen Verwundbarkeit der Mekongregion und weil frühere, ähnlich große Staudammprojekte der Weltbank wegen ihrer verheerenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt heftig kritisiert wurden, wird Nam Theun 2 im Sinne von Umwelt- und Sozialverträglichkeit konzipiert. Im Zusammenschluss mit internationalen Biodiversitätsschützern wie dem IUCN, dem WWF und der Wildlife Conservation Society verbindet die Weltbank die Elektrizitätsgewinnung mit ehrgeizigen Vorhaben wie Schutzgebieten, Megafauna-Korridoren, Wasserschutzregionen, Ökotourismusprojekten, Biodiversitätsforschung und der Stärkung der indigenen Bevölkerung. Projekte wie Straßenbau, Versuchsfarmen, Schulen oder Gesundheitszentren sind fester Bestandteil des Paketes. Zunächst sollen Entwicklungsagenturen aus dem Norden diese sozialökologische Erneuerung abwickeln, bis einheimische Profis angelernt sind, um diese Einzelvorhaben zu »indigenisieren«.
Die Weltbank hat die aufkommende Klasse professioneller Experten erfolgreich in den neoliberalen Diskurs darüber eingebunden, wie man sich selbst regiert, wie man regiert wird, wie man andere regiert, wen die Menschen als Regierende akzeptieren und wie man der bestmögliche Regierende wird (vgl. Foucault 1991). Damit beginnt ein Prozess, der die zuvor ›unvernünftig‹ handelnde Wald- und Bergbevölkerung in sichtbare, erreichbare und verantwortliche Staatsangehörige überführt. Orte und Menschen sollen für die großen Kapitalinvestitionen kompatibel gemacht und dabei neue Wege eröffnet werden, zugleich die Biodiversität und die »hill tribes« mit ihren Kenntnissen zu stärken. So beschwichtigt die Weltbank ehemalige Kritiker und weckt im selben Atemzug das Interesse von Investoren für die neuen Unternehmungen. Projektgebundene Investitionen erfordern, um hohe Profitraten zu ermöglichen, klare Eigentumsverhältnisse und minimale politische Risiken über eine erhebliche Zeitspanne hinweg. Der Aufbau einer kapitalintensiven Infrastruktur erfordert Gesetze, die Eigentumsverhältnisse etwa in Bezug auf Wälder oder Flüsse durchsetzen, was wiederum einzig durch die Restrukturierung staatlicher Institutionen erreicht werden kann. Bildlich gesprochen: Bevor die Weltbank von nördlichen Investoren erwarten kann in die Hardwareressourcen von Laos zu investieren, muss sie auf die Umstrukturierung der Software setzen. Eine neue Staatsverfassung, neue Verwaltungsinstanzen und neue staatliche Akteure müssen her. Innerhalb der Weltbank wird dieser Prozess mit dem Wortspiel »Champions züchten« zusammengefasst.
Ein neuer Staat entsteht
Der Prozess, der für eine solche Entwicklungsstrategie erforderlichen Umgestaltung von Laos durch internationale Institutionen, begann bereits Ende der 80er Jahre, als die Haupteinkommensquelle aus der ehemaligen UdSSR versiegte und die Auslandsverschuldung von Laos ins Unermessliche stieg. Der damalige Sozialist Pathet Lao führte zum Teil auf Druck der Kreditgeber wie Weltbank und Asiatische Entwicklungsbank, aber auch wegen der Umwälzungen in den Nachbarländern China und Vietnam eine Reihe marktwirtschaftlich ausgerichteter Neuerungen ein. Bald ließen sich ausländische Finanzberater, Ressourcenplaner und Juristen in der Hauptstadt nieder, um den Politikwechsel zu arrangieren. In der Folge verabschiedete der Premierminister eine Reihe von Gesetzen über (Land-)Besitzverhältnisse und die Nutzung der natürlichen Ressourcen. Alle waren weitgehend von ausländischen Beratern, internationalen Finanzinstituten, internationalen NROs oder von Kreditgebern initiiert und geschrieben worden. Allen Gesetzen folgten Kredite, Entwicklungshilfe oder ausländische Direktinvestitionen. Die juristischen Innovationen waren begleitet von der Neoliberalisierung des Staates.
In den 90ern begannen Laos und die Weltbank, die ökologischen und sozialen Veränderungen in den bislang schwer zugänglichen - aber bewohnten - Wäldern zu dokumentieren. Unzählige Studien wurden in Auftrag gegeben und ausländische Experten erfanden und erprobten, zusammen mit einer wachsenden Anzahl staatlichen Fachpersonals, Methoden der schnellen Erfassung dieser weißen Flecken auf der Landkarte. In einem Erlass von 1994 wurde dann ein Siebtel des Landes zu Schutzgebieten erklärt. Darin enthalten sind 20 ›nationale Biodiversitätszonen‹, ein von der Globalen Umweltfazilität der Weltbank (GEF) zusammen mit internationalen NGOs erschaffenes Konzept. Sozial vielfältige, halbnomadische oder auf Brandrodung gründende Produktionsweisen bleiben darin außen vor, während Biodiversität, nachhaltige Holzwirtschaft und Wassereinzugsgebiete groß geschrieben werden.
Die jetzt datenmäßig unterfütterte Logik von Ökozonen schafft neue administrative und kulturelle Grenzen entsprechend der neu verteilten Werte von Wäldern und unterschiedlichen Gruppen von Waldnutzern. Jede Nutzergruppe - von der Holzindustrie über halbnomadische Waldbewohner, Naturschützer, Pharma-Produzenten, Energiewirtschaft und Ökotourismussektor - erhält über neue Forstgesetze eine eigene Palette von Rechten und Pflichten in Bezug auf einen Teil der Wälder. Diese Besitz- und Nutzungsrechte werden von einer transnationalen Wissenschaft des Tropenwaldmanagements gerechtfertigt, die mit Eifer neue Märkte für die natürlichen Güter und Umweltdienstleistungen auslotet. Der Landerlass von 1992 und das Landgesetz von 1997 etablieren so in Laos neue Standards der Landnutzung und vor allem einen Markt für Land. Pilotprojekte der Landvergabe schließen Vermessungen ein und staatlich sanktionierte Landtitel ersetzen das bisherige dezentralisierte System von Gewohnheitsrechten. Die neuen Titel garantieren den Landbesitzern Nutzungs-, Überschreibungs- und Erbrechte und erlauben es, Land zu erwerben und zu verkaufen.
Immer wieder hat die Weltbank die Durchführung des Mekong-Projekts an das Inkrafttreten bestimmter Gesetze geknüpft. Aufgrund der großen Abhängigkeit von ausländischem Kapital - in Laos kamen von 1993 bis 1994 die Hälfte der Staatsgelder und 80 Prozent der öffentlichen Investitionsprogramme aus internationalen Krediten - ist es für das Land kaum möglich, dabei die Kooperation zu verweigern. Zuletzt wurden 1999 weitere Gesetze verabschiedet, die neue staatliche Verwaltungsapparate schufen; darunter ein Umweltministerium, sowie detailliertere Bestimmungen über Nutzung und Kontrolle natürlicher Ressourcen. Die Zahl der Umweltprogramme, die durch transnationale Akteure und aufgrund der Welle von Staudammprojekten eingerichtet wurden, ist beeindruckend. Allein das Forstministerium wickelt etwa 50 Projekte mit Hilfe verschiedenster ausländischer Geber ab - darunter ein Weltbankprojekt, das die interne Strukturverbesserung des Ministeriums selbst zum Ziel hat.
Der Fremdkapitalfluss prägt die Prioritäten der Behörden im Umgang mit Großinvestitionen, für deren Umsetzung und Steuerung sie bezahlt werden. Die Regierung von Laos gibt zu, dass aufgrund der von der Weltbank geforderten Haushaltssparmaßnahmen die Diskrepanz zwischen den öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Erziehung und Sozialwesen einerseits und für Energie- und Forstsektor sowie Bau- und Transportwesen andererseits enorm gewachsen ist - letzteres verschlingt 84 Prozent der Staatsausgaben. Die sozialen Bereiche bluten aus, um die neu kapitalisierten Sektoren zu unterhalten.
Finnische, schwedische und deutsche Entwicklungsagenturen haben de facto die wichtigsten Sektoren des Forstministeriums übernommen und bereiten das Land für Großinvestitionen vor. Diese internationale Klasse reisender Entwicklungsexperten, die viele einheimische Mitarbeiter eher als »Übersetzer« denn als Kollegen sehen, ist ein wichtiges Medium für die Transnationalisierung von Ideen. Die vor allem auf den ›Mangel an Wissen und Technologie‹ reduzierten Darstellungen von Laos verdeutlichen die neokoloniale Haltung der Experten. Sie lassen keinen Zweifel daran, wer entwickelt ist und wer entwickelt wird. Die Weltanschauungen und Normen des Nordens werden durch einschlägige ›Ausbildungsprogramme‹ indigenisiert. Mit den von der Weltbank geförderten Verfahren und Formen der Wissensproduktion wird eine neue kognitive Landkarte von Natur und Gesellschaft in Laos geschaffen.
Wissen legitimiert Macht
Die »alte« Landkarte von Laos wird durch ein wissenschaftlich legitimiertes Zonieren in unterschiedliche Nutzungsweisen zerstückelt. In den neuen kulturell/wissenschaftlichen Logiken zur Bewertung der territorialen Merkmale gelten einige Standorteigenschaften nun als degradiert, andere als notwendig für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung, für die Funktionsfähigkeit des Staates oder für den Schutz der Natur. In bestimmten Kernzonen erhalten Ökotourismus und Staudammbau als einzige erlaubte Nutzungsweisen Priorität gegenüber den Gewohnheitsrechten der Bewohner wie Weidenutzung, Fischfang und Brennholzsammeln. Die Etablierung der Ökozonen überträgt die Rechte über und den Zugang zu den natürlichen Ressourcen von den Waldbewohnern direkt auf die Tourismusindustrie und den Energiesektor.
In diesem Zusammenhang sind zahlreiche öffentliche Beratungsverfahren und Studien darum bemüht, den Beweis für die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit der Umsiedlung von mehreren Millionen Menschen zu erbringen, die nicht den geforderten sozialen Merkmalen für die Bewohner von Ökozonen erfüllen. Die Bevölkerung wird von der Asian Development Bank (ADB) der Brandrodung, des illegalen Holzeinschlags, des zu schnellen Bevölkerungswachstums und illegaler Einwanderung in Waldgebiete beschuldigt. Von der Umsiedlung bedroht sind Menschen aus den Bergregionen in Laos, Kambodscha, Vietnam, Burma, Thailand und dem südlichen China. Sie würden zur agroindustriellen Arbeitskraft in den nunmehr bewässerten und elektrifizierten Ebenen degradiert. Das Projekt wird von der ADB als ökologisch bezeichnet, da die »Entwicklung« der »hill tribes« der Waldzerstörung Einhalt gebieten soll.
Der im Rahmen solcher Projekte angewandte Wissenskanon schreibt diesen sozialen Gruppen und Umwelttypen implizit und explizit marktgemäße Werte zu. Wer an der politischen Debatte über die Zukunft Laos - und der weltweiten Gemeingüter überhaupt - beteiligt werden will, muss solche Normen begrüßen. Das gilt auch für die "Studienobjekte". So suchen als Brandrodungsbauern klassifizierte zu vermeiden, dass sie als Ungesetzmäßige geächtet werden. Sie sind gezwungen, neue Lebensstile anzunehmen. Auf diese Weise werden neue Subjekte geschaffen und Subjektivität neu definiert - unabhängig davon, wie die betroffenen Individuen ihre persönliche Wahl treffen. Die neuen Umweltnormen urteilen über die problematischen Kategorien von Tradition und Moderne, von ökologisch Irrationalem und Rationalem, und sie beurteilen, wie Menschen mit der Natur interagieren und interagieren sollten. Die Kapitalisierung des Mekong wäre - vom brutalen militärischen Vorgehen einmal abgesehen - ohne diesen vollständigen Normenwandel nicht möglich gewesen. Die neue Regierungsweise von Laos, die Öko-Governance, steht im Rahmen eines konstituierten globalen wissenschaftlichen Umweltdiskurses, dessen Ethik Rechenschaft gegenüber der Weltgemeinschaft verlangt. Ganze Staaten werden hier neu konfiguriert, mit neuen Regulations- und Kontrollmechanismen und transnationalen staatlichen Akteuren. Die Weltbank bildet die Vorhut dieser Staatenneubildung, indem sie diesen Hilfe anbietet, um besser auf die Globalisierung reagieren zu können. Damit hat die Weltbank eine erneute Nachfrage nach ihren Dienstleistungen geschaffen und erhält direkten Zugang zu gesellschaftlichen Strukturen - zum Vorteil ihres Hauptklienten, des kapitalistischen Waren- und Finanzsektors.
Strategien ohne Plan
Laos ist ein extremes Beispiel dafür, wie in zahlreichen Ländern von Indien bis Mexiko die neoliberale Marktmacht gestärkt wird und zugleich Umweltbelange gegenüber anderen Aspekten staatlicher und nicht-staatlicher Verfasstheit an Autorität gewinnen. Interessanterweise ist dies nicht das Ergebnis eines zuvor gefassten Plans. Ursprünglich hatten weder der radikal nationalistische Staat Laos noch die streng ökonomisch agierende Weltbank vor, in neue Programme für transnationalisierte Biodiversitäts- und Naturschutzzonen zu investieren. Ebenso hatten internationale Umweltorganisationen nicht die Absicht, im Rahmen von Großprojekten zu operieren, die den Bau von Staudämmen und die Überschwemmung von Wäldern vorsehen oder gar seltene Tierarten bedrohen. Sie waren vielmehr Teil einer Umweltbewegung, die die Motive der Weltbank und die Folgen ihrer Politik in Frage stellt. Diese Netzwerke und Bewegungen haben die Weltbank erst gezwungen, ihrer Politik einen grünen Anstrich zu geben. Innerhalb einer einzigen Dekade haben diese Kritiker jedoch auch ein Denken geschaffen, das eine Tierart für wichtiger befindet als eine andere und das eine Wissen über das andere privilegiert. Im transnationalen »Kampf um den Mekong« zeigt sich nun, wie diese Prozesse des Erkenntnisgewinns und der daraus resultierenden rechtlichen Eingriffe eine neue politische Rationalität durchsetzen.
Michael Goldman ist Soziologe an der Universität Urbana/Illinois. Eine erheblich längere Ausarbeitung zu diesem Thema erscheint demnächst in einem Sonderheft der Zeitschrift Social Problems zum Thema Globalisierung. Übersetzung und Bearbeitung: Martina Backes. Erschienen in: iz3w 256, Freiburg 2001.
Nordkorea: Weltpolitik und Hungersnot
die redaktion
Die Überschwemmungen von 1995 und 1996 und die Trockenperiode im Sommer 1997 sind Hauptursachen für die Mißernten in Nordkorea und damit für eine Hungersnot, bei der nach UN-Angaben fünf Millionen Menschen in den nächsten sechs bis zwölf Monaten sterben könnten. Dem Hilfsaufruf der UN vom April 1997 ist folgendes zu entnehmen: Zwischen Juli 1996 und März 1997 erhielt Nordkorea nur etwa 47 Millionen US$ Katastrophenhilfe, davon 34 Mio $ über UN- bzw. NGO-Kanäle, 9 Mio. US$ bilateral und den Rest von Rot-Kreuz-Verbänden. Die EU-Kommission war mit ca. 9 Mio. US$, noch vor den USA und Japan, die größte Einzelspenderin für UN-Projekte. Nordkorea hat ab März 1997 wesentlich mehr Hilfslieferungen erhalten, auch von den USA - dennoch hat sich die Versorgungssituation verschlechtert. Der momentane Umfang der Hilfslieferungen reicht nicht aus, um ein Ausbrechen einer großen Hungersnot zu verhindern. Ca. 2 Millionen Tonnen Getreide fehlen nach wie vor zu einer minimalen Grundversorgung der Bevölkerung. Das staatliche Verteilungssystem ist praktisch zusammengebrochen. Es vollzieht sich darüberhinaus ein ökologischer Raubbau, z.B. durch die intensive Bebauung von Hangflächen, die Erosion zur Folge haben wird. Dieser Raubbau erschwert den Wiederaufbau massiv.
Vor und während der Vierer-Verhandlungen, in denen Nord- und Südkorea und ihre jeweiligen Verbündeten die USA und China einen Friedensvertrag aushandeln wollen, haben die USA und Südkorea mögliche Nahrungmittelhilfe benutzt, um Nordkorea an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dies werden sie auch in Zukunft tun. Äußerungen von Präsident Clinton, daß unabhängig von den Verhandlungen die Bevölkerung nicht im Stich gelassen werden dürfe, sind wohl eher als rhetorische Übung zu verstehen. Es arbeitet wesentlich mehr UN-Personal in Nordkorea als noch vor einigen Monaten. Der Verbleib von Hilfsgütern kann deshalb jetzt wesentlich besser überwacht werden. Unter diesen Bedingungen die relativ geringen Mengen an Nahrungsmitteln nicht zur Verfügung zu stellen, die zur Verhinderung einer Hungersnot verteilt werden müßten, wäre zynische Machtpolitik. Der Ausgang der Vierer-Verhandlungen wird von der Entwicklung des Verhältnisses USA und China abhängen. Im September 1997 besucht erstmals seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens der Staatspräsident Chinas, Jiang Zemin, die USA. Großmachtpolitik wird einmal mehr den Verlauf »lokaler Konflikte und Krisen« bestimmen. Die Verantwortung für eine große Hungersnot trägt die Regierung Nordkoreas also nicht allein.
Erschienen in: iz3w 224, Freiburg 1997.
Pakistan: Nationalstaat wider Willen
Ethnizität und Nation-building in Pakistan und Bosnien-Herzegowina
So unterschiedlich das vorläufige Ergebnis für »die Muslime« in Pakistan und Bosnien-Herzegowina ausfällt, so viele Parallelen gab es in ihrer ethno-nationalen Entwicklung. Und das, obwohl ein muslimischer »Nationalstaat« Pakistan schon 1947 proklamiert wurde und in Bosnien erst in den 1990er Jahren fast ein muslimisches »homeland« entstand. Die Menschen begriffen sich aber nicht als so unterschiedlich, dass sie exklusive, religiöse Gruppeninteressen vertraten und Glaubensgenossen gegen »die anderen« politisch mobilisierten. Um das zu erreichen, mussten Kontrastverstärker um das Merkmal Religion herum gebaut werden.
von Carsten Wieland
In beiden Ländern waren es zuerst kulturelle und dann politische Aktivisten, die eine Homogenisierung der Religionsgemeinschaften vorantrieben. Mit Zusätzen wie Geschichte, Territorium und Sprache machten sie aus dem Glauben mehr als nur Religion: erst eine »Ethnie« und schließlich eine Ethno-Nation. Die Vorstellung einer »gemeinsamen« Abstammung, die möglichst weit in die Vergangenheit zurückreicht, sollte zusammenschweißen. Selektive Geschichtsschreibung half, Ansprüche in der Gegenwart zu legitimieren. So dienten der Bogumilen-Mythos in Bosnien und der Arier-Mythos in Indien1 dem gleichen Zweck: Religionsgemeinschaften sollten sich zuerst als Abstammungsgemeinschaften begreifen, die älter sind als das Religionsmerkmal selbst. Jedes ethno-nationale Lager blickt zudem auf sein Goldenes Zeitalter zurück. Geschichte erscheint als »ewige« Auseinandersetzung zwischen den Religionsgruppen.
Eng mit der Geschichte verbunden ist die Vorstellung eines möglichst »heiligen« Landes, auf das eine Religionsgemeinschaft Anspruch hat und die andere nicht. So gab die serbisch-orthodoxe Kirche der Amselfeld-Legende ihre Weihe und unterstützte den Mythos eines »urserbischen« Bodens. Bosnische Serben und Kroaten bezeichneten die Muslime abfällig als Türken, die eigentlich an den Bosporus gehörten.2 Die Hindu-Nationalisten beanspruchten »Mutter-Indien« als ihr heiliges Land. Die Muslime, so sagten sie, hätten ja bereits ihr heiliges Land auf der arabischen Halbinsel. Viele Muslime entwickelten im Gegenzug ebenfalls eine territoriale Bindung. Wer anders denkt, muss auch anders sprechen. Das ist die Begründung für den »ethnischen« Baustein Sprache als Ergänzung zur Religion. In Bosnien-Herzegowina und Indien strebten und streben Ethno-Nationalisten zumindest danach, Religionsmerkmal und Sprache zur Überlappung zu bringen. Dabei stellte sich das gleiche Problem: Die »Ethnien« hatten keine verschiedenen Sprachen, um voneinander differenziert zu werden. Als Rohmaterial diente jeweils eine Sprache, aus der verschiedene Ausbausprachen herausgemeißelt wurden. In Indien bestand zwar reichlich Auswahl an differenzierbaren Sprachen, doch stürzten sich die Ethno-Nationalisten auf die gleiche, weil sich die ethno-nationalen Bewegungen in derselben Region (Nordindien) konzentrierten. Die »ethnischen« Sprachen wurden in beiden Fällen in unterschiedliche Schriften gegossen und vor allem dadurch voneinander abgegrenzt. Das ließ die meisten Menschen außen vor, denn sie konnten nicht lesen und schreiben. Aus Schreibern und Dichtern rekrutieren sich nicht zufällig bis heute die schillerndsten Vordenker des Ethno-Nationalismus.
Die Religion war also in beiden Fällen mehr geworden als private Glaubenssache. Die (postulierten) Religionsmitglieder wurden zum Bestandteil einer Ideologie. Sie waren ihre Träger und ihre Ressource. Deshalb avancierte die Religionszugehörigkeit eines jeden einzelnen zu einem politischen »Besitzstand«. Ein Religionswechsel ins andere Lager kam jeweils einer Fahnenflucht gleich. Die konsequent objektive Zuordnung von Menschen zog die »ethnischen« Grenzen fest. Zunehmend entwickelten nun ethno-nationale Fürsprecher zuerst kulturelle und dann politische Ansprüche für »ihre« Klientel. Sie vertraten konkrete, tagespolitische Forderungen und folgten entsprechenden Strategien. Dafür wurde die Identitätskategorie Religion verwässert und diente nur noch als Vehikel politischer Machtansprüche.
Banale Konflikte - Rohe Gewalt
In diesem fortgeschrittenen Stadium der Politisierung konnten zusätzliche Faktoren wirken, die die »Ethnien« weiter homogenisierten, und die ihre politisch aktiven Anhänger gegeneinander aufbrachten. In einer Atmosphäre des Mißtrauens schaukelten sich Vorfälle zu ethno-nationalen Lagerkämpfen hoch, die sonst nie beachtet worden wären. Soziale und wirtschaftliche Konflikte gab es in beiden Ländern reichlich; die Interessen der Bauern und der Grundbesitzer lagen weit auseinander. Doch plötzlich war es in Bosnien-Herzegowina von Bedeutung, dass die Mehrheit der Landbesitzer Muslime waren und die Bauern meist Serben oder Kroaten. Die Sozialstruktur spielte den Ethno-Nationalisten in Bosnien-Herzegowina besonders in die Hände. Auch in Indien ließen sich sozio-ökonomische Spaltungslinien immer leichter in ethno-nationale Konflikte ummünzen, besonders dort, wo sie sich überlappten. Da die Religion und deren Anhänger zum politischen Gut wurden, entzündeten sich Konflikte vorzugsweise an Symbolen. Damit entstand ein neues Konfliktpotential, das zu einer verstärkten politischen Mobilisierung führte. In Indien kam Tempeln, Moscheen und Prozessionen auf einmal ungeahnte Bedeutung zu. Hindu-Aktivisten fiel die Heiligkeit der Kuh neu auf, und muslimische Provokateure entdeckten, wie gut sie schmeckt. Prompt proklamierten sie ihr »religiöses Recht« auf Kuhschlachtung. Auch hier waren solche Streitereien Ausgangspunkt politischer Mobilisierungen und neuer Organisationsformen der konkurrierenden Lager.
In der Hochphase ethno-nationaler Auseinandersetzungen boten sich in Indien vor 1947 und im Bosnien-Herzegowina der späten 90-er-Jahre grausame Szenen. Die unausweichliche, objektive Zuordnung konnte für jeden einzelnen Leben oder Tod bedeuten. Kriminelle Banden überfielen Dörfer und Familien, töteten, quälten oder entführten die Angehörigen der »feindlichen« »Ethnie«. Menschen, die zuvor friedlich zusammenlebten, wurden aufeinander gehetzt. In beiden Ländern litten besonders Frauen. In der ethno-nationalen Ideologie reproduzieren Frauen das politische Gut des »richtigen« Menschen. Vergewaltigungen durch die Gegner verhindern dies und »entweihen« zudem den hohen religiösen und gesellschaftlichen Status der betroffenen Frauen. Darunter hatten vor allem Musliminnen zu leiden. In Bosnien-Herzegowina und Indien waren solche Gewalttaten für einige ethno-nationale Aktivisten systematischer Bestandteil der Kriegsführung. Sie legten damit nahe, dass die verschiedenen »Ethnien« nicht miteinander leben könnten; und sie hatten mit ihrer Außenwirkung beide Male entsprechenden Erfolg.
Spaltungslinien im ethno-nationalen Staat
Die tatsächlichen und potenziellen, muslimischen Staatsgründungen in Indien und Bosnien-Herzegowina gehen nicht im modernisierungstheoretischen Sinn auf eine breite Nationalbewegung »der Muslime« zurück. Einerseits repräsentierten die muslimischen Fürsprecher stets nur einen Teil der muslimischen Bevölkerung - von ihrer Herkunft her und von dem, was sie politisch vertraten. Andererseits konkurrierten muslimische Fürsprecher untereinander. In Bosnien-Herzegowina kommt hinzu, dass diejenigen, die vorgaben, »die Muslime« politisch zu vertreten, sich manchmal selbst nicht einmal als Muslime sahen, sondern als Serben oder Kroaten. In Pakistan ist nach der Staatsgründung zusätzlich die Spaltungslinie Sunniten-Schiiten aufgebrochen. Darüber hinaus hat jegliche Gesinnung Platz in der auch politisch relevanten Spannbreite zwischen säkular und orthodox gesonnenen Muslimen.
Interessant ist die Einordnung der beiden muslimischen Hauptfiguren. Izetbegovic, der muslimische Ideologe, ist vor allem an der Islamisierung der Gesellschaft interessiert. Jinnah, der erste Präsident und liberale Pragmatiker, hatte nur ein Dogma: Pakistan. Er verfolgte weniger religiöse als politische Interessen. Beide dachten jedoch gleichermaßen in ethno-nationalen Schemata und gaben der Politik »ethnische« Inhalte. Am Ende ihrer Karriere gingen beide Rechtsanwälte jedoch erneut getrennte Wege. Jinnah erklärte bei seinem Amtsantritt, dass Pakistan - da es nun existiere - fortan bürgerlich-demokratischen Charakter haben solle. Das war zwar eine wenig einleuchtende Vorstellung nach all den ethno-nationalen Grabenkämpfen, aber ein runder Bogen zu seinen frühen Überzeugungen. Izetbegovic ist schwer einzuordnen, weil er sich im Laufe seines politischen Lebens mehrmals widersprochen hat. Er driftet wohl in die Richtung derer, die auf einen zwar demokratischen, aber muslimischen Staat hinarbeiten. Sicher ist: Izetbegovic würde ihn am liebsten auch mit islamischen Inhalten füllen, was Jinnah ablehnte, dafür aber seine Nachfolger umso deutlicher nachholten.
Nicht wirklich, aber wirksam
Die Fälle Bosnien und Indien/Pakistan zeigen: "Ethnische Konflikte" gibt es nicht. Die Fronten sind bei weitem nicht so glatt. Und die Inhalte der Konflikte haben nichts mit Abstammung, Glauben, Sprache oder Gewohnheiten per se zu tun. Diese Merkmale dienen nur als Andockstellen für eine beschleunigte, politische Mobilisierung. Die Nationsbildung der bosnischen und indischen Muslime war kein »natürliches« Erwachen einer Volksgruppe mit einem »natürlichen«, staatlichen Ende, so wie es ethno-nationale Historiker gerne hätten. In der Geschichte des Balkans und Indiens gab es mehrere Gelegenheiten, in denen die Weichen in eine andere Richtung hätten gestellt werden können. So zeigten die meisten bosnischen Muslime lange Zeit kein Interesse, als eigene Nation aufzutreten. Ihre Parteien vertraten tagespolitische Ziele. In Indien übten sich die Parteien Congress (Nehru/ Gandhi) und Muslim-League (Jinnah) zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in Eintracht. Doch seit dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert hatte eine kulturelle und religiöse Homogenisierung eingesetzt. Politische Aktivisten knüpften daran an. Das war der Beginn eines ethno-nationalen Lager-Denkens und Handelns. In Bosnien-Herzegowina und Indien war die muslimische Nationsbildung reaktiv an die nationale Homogenisierung der Nachbarn gekoppelt. In Bosnien-Herzegowina wehrten sich muslimische Fürsprecher gegen die ideologische und territoriale Vereinnahmung durch serbische und kroatische Ethno-Nationalisten. Mit jedem Balkan-Krieg gewann diese Konstellation erneut an Brisanz. Auch gegenüber den indischen Moslems waren »die anderen« zunächst stärker. Religiöse Aktivisten modernisierten und standardisierten das Hindutum. Allmählich wichen integrative Elemente des Hinduismus einer konfrontativen Hindu-Ideologie. Aufgrund der jeweiligen Position »der Muslime« in der ethno-nationalen Konstellation ihrer Umgebung lassen sich die muslimischen Nationenbildungen als negativ bzw. defensiv beschreiben. Doch mit einer fortschreitenden Politisierung »der Muslime« nahmen sie auch zunehmend selbst Einfluß auf politische Ergebnisse.
Wird ethno-nationale Agitation mit Zugeständnissen aufgefangen (wie mit getrennten Wahllisten in Indien oder mit ethno-nationalem Pluralismus in Jugoslawien), können sich ethno-nationale Interessenvertretungen als unabhängige Variablen im politischen Prozess etablieren, was wiederum zu »ethnischen« Outputs führt. Erfolgversprechender wäre ein Modell, das ethno-nationaler Agitation keinen Angriffspunkt liefert, keine Ressourcen verspricht oder ethno-nationale Eigendynamik erst gar nicht in Gang kommen lässt. Der »ethnische« Zuschnitt politischer Outputs zementiert den ethno-nationalen Klientelismus. So auch in den beiden Fällen: Die Wahlen 1990 in Bosnien-Herzegowina gerieten zu »ethnischen« Volksabstimmungen, und auch die westliche Welt verwies höchstens halbherzig auf trans-»ethnische« Alternativen. Parallelen weist die Wahl 1946 in Indien auf, in der die Muslim League kräftig an Stimmen gewann. Mit Blick auf Jugoslawien schreibt Konrád resigniert: »Der Krieg hat die Serben orthodoxer, die bosnischen Muslime islamischer, die Kroaten katholischer gemacht. Durch religiös-nationalistischen Separatismus hat die sprachlich-kulturell-weltliche Zusammengehörigkeit ihre Geltung verloren.«3
Schützenhilfe kommt dabei von höchster Ebene. Denn die "ethnische" Konnotation des Nationsbegriffs hat sich weltweit durchgesetzt und wird darüber hinaus allzu häufig auch gleich mit dem Staatsbegriff vermengt. Die staatliche Ebene ist der größte ideelle und materielle Ressourcenverteiler, was ethno-nationale Fürsprecher in ihrem Ziel, einen Staat zu gründen, bestärkt. Damit sind jedoch keine Probleme gelöst. Die Kämpfe der »Ethno-Egos« toben sich nur eine Ebene höher aus - nämlich bilateral - mit neuen Ressourcen bis hin zu Atomwaffen. Eine solche Staatsbildung erliegt einem weiteren Trugschluss: Mit der Einhegung der Ethno-Nation in »eigene« Grenzen ist keinesfalls auch eine politische Interessengemeinschaft geschaffen. Das (politische) Leben ist komplizierter und vielschichtiger, als dass es das Postulat einer »ethnischen« Zusammengehörigkeit glattbügeln könnte. Deshalb brechen auch in einem ethno-nationalen Staat sehr bald interne Konflikte auf. So geschah es in Pakistan 1971, als West- und Ostpakistan (Bangladesh) auseinander brachen, und heute, wo sunnitische und schiitische Muslime, regionale Interessengruppen und politische Gruppen gegeneinander kämpfen. Auch in Bosnien sind die Muslime nicht so homogen, wie es Izetbegovic gerne hätte. In den Kommunalwahlen im April 2000 wurde deutlich, dass sich ihre Wählerstimmen immer stärker aufsplitten. Wozu also der oft blutige Kampf für ethno-nationale Grenzziehungen? Ein »ethnisch« homogener Nationalstaat ist ohnehin eine Illusion. Ethno-Nationalismus mag als dynamisches Handlungskonzept große Wirkung entfalten. Kurz nach der Erreichung eines homeland als Idealziel fällt er jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Anmerkungen
- Der Bogumilismus soll sich um die Jahrtausendwende als neumanichäisch-christliche Glaubensrichtung auf dem Balkan ausgebreitet haben. Im 12. Jahrhundert wurden die so genannten Bogumilen wegen angeblich antichristlicher Ausrichtung nach Bulgarien und Bosnien verdrängt. Einige muslimische Historiker behaupten, die heutigen bosnischen Muslime stammten ethnisch von den Bogumilen ab. Die »Arier« sollen als indo-germanischer Stamm um ca. 1500 v.u.Ztr. von Zentralasien nach Nordindien gezogen sein. Sie sollen die Indus-Hochkultur besiegt und auf dem nördlichen Subkontinent die beherrschende Bevölkerungsschicht gebildet haben. Die These wird jedoch von indischen Historikern inzwischen angezweifelt. Hindu-Nationalisten leiten die Abstammung der Hindus ethnisch von den Ariern ab. Bogumilen-Mythos und Arier-Mythos haben den gleichen Zweck: Sie sollen aus einer Glaubensgruppe mehr machen, indem sie eine gemeinsame Abstammung vor die Übernahme der Religion verorten. Damit wollen sie den Anspruch, eine »Ethno-Nation« zu sein, untermauern.
- Hier muss einschränkend eingeräumt werden, dass sich bosnische Muslime oft auch als »Türken« bezeichneten. Damit drückten sie ihre religiöse Verbindung zur osmanischen Besatzungsmacht aus. Doch liegt hier die Betonung auf »abfällig«. Serbische und kroatische Ethno-Nationalisten benutzen dieses Wort heute noch, obwohl es als muslimische Eigenbezeichnung längst ausgedient hat.
- Konrád, György: Vor den Toren des Reiches, Frankfurt/M. 1997
Zusatzinfo: Zum Konzept der Ethno-Nation
Während das »subjektive« republikanisch-liberale Konzept die Nation als eine Gemeinschaft begreift, die sich aus freier Wahl zusammensetzt, basiert das "objektive" kulturelle Konzept der Nation auf einer vorgegebenen Zuordnung des Einzelnen in einer »gemeinsamen« Geschichte. Bei der Ethno-Nation ist der Mensch allein schon durch seine ureigensten Charakteristika national prädestiniert. Die Ethno-Nationalisten wollen aus der Gesellschaft eine Gemeinschaft machen. Eine ideelle und mechanische Bindung von sonst getrennten Menschen soll durch die Bande eines organischen Lebens, einer apriorischen Willenseinheit, ersetzt werden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. Gemeinschaft sind die »Eigenen«, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe. Der organische Nationenbegriff geht vor allem auf den Geschichtsphilosophen Johann Gottfried von Herder (1744-1803) zurück. Für ihn ist das Volk »sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie. [D]er natürlichste Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter«. Auf dem Balkan und in Indien wird Herder mehrfach rezipiert (Alter, 1994). Der indische Philosoph Sri Aurobindo (1872-1950) übernahm zum Beispiel Herders Konzept im Kontrast zum Staat, der nur eine »seelenlose Maschine« sei. Diese organische Idee hatte großen Einfluß auch auf Denker, die kein ethnisches Nationenkonzept vertraten. So warnte Gandhi vor der Teilung des Landes als »a vivisection of the living flesh of India«. Selbst Nehru sprach in seiner Polemik von der »strahlenden Schönheit des Fleisches« Indiens. Der konsequent primordiale (= vorgeburtliche, ursprüngliche) Charakter des objektiven Konzepts zeigt sich in den Bausteinen, die den »Volksgeist« ausmachen. Bei Herder erscheint die Sprache als Grundlage für die Nationenbildung. In Bosnien-Herzegowina und Indien war dagegen das Primärmerkmal nicht Sprache, sondern Religion. In diesen Fällen diente Herder als Vorwand, um eine Sprachgemeinschaft ex post zu schaffen, die sich mit dem religiös fundierten Nationsgedanken überlappt.
Carsten Wieland ist Journalist bei der Deutschen Presseagentur (dpa). Sein Buch »Nationalstaat wider Willen: Die Politisierung von Ethnien und die Ethnisierung der Politik, Bosnien, Indien, Pakistan« erschien 2000 im Campus Verlag.
Philippinen: Und täglich grüßt das Militär
Die People Power-Bewegung in den Philippinen wiederholt Geschichte
Vor 15 Jahren besiegelte die damals im In- wie Ausland überschwänglich gefeierte »friedliche People Power-Revolution« den Sturz der Marcos-Diktatur. Im Januar 2001 jagte die so genannte »People Power II-Bewegung« den erst seit Sommer 1998 amtierenden Marcos-Zögling Joseph Estrada aus dem Präsidentenpalais. Beide Male trieb es große Teile der Bevölkerung und ihre Organisationen auf die Straßen. In beiden Fällen blieben aber auch ihre sozialen und politischen Reformanliegen auf der Strecke. Wie gehabt profitieren vor allem das Militär und die politischen Eliten des Inselstaates vom Machtwechsel in Manila.
von Rainer Werning
Der Begriff »People Power« war 1985 im Campus der jesuitischen Ateneo de Manila University geprägt worden. Er bedeutet soviel wie »das Volk als (ein) Machtfaktor« (nicht zu verwechseln mit »People's Power« - Volksmacht) und umfasst all jene gesellschaftlichen Schichten und Gruppen sowie sektoralen Bündnisse von Gewerkschaftern, städtischen Armen, Bauern, Intellektuellen, Ordensleuten und zu Marcos auf Distanz gegangenen Politiker, die hauptsächlich in der Metropole Manila das »Parlament der Straße« bildeten. In zahlreichen Protestaktionen organisierten sie den Widerstand gegen die Diktatur und waren ein wichtiges, wenngleich nicht das entscheidende Element des Machtwechsels in Manila. Zwei andere Komponenten garantierten den Sieg von Präsidentin Corazon Aquino: Zum Einen ein gewieftes Krisenmanagement der früheren Kolonialmacht USA, die damals auf den Inseln noch militärstrategische Interessen hegte und mit Subic Naval Base und Clark Air Field die größten außerhalb des nordamerikanischen Kontinents gelegenen Militärbasen unterhielt. Und zum Anderen eine Militärrevolte oder besser: die buchstäblich im letzten Moment erfolgte Abwendung bedeutsamer Teile der Streitkräfte von Marcos. Diese Konstellation prägte die neue Regierung und rückte das unter Marcos diskreditierte Militär schrittweise ins Zentrum der politischen Macht - insbesondere den Generalsstabschef Fidel V. Ramos. Es dauerte nicht einmal ein Jahr, bis die wenigen fortschrittlichen Kabinettsmitglieder aus der Regierung ausgeschieden oder zum Rückzug gezwungen worden waren und den Linken samt ihren Konzepten von People's Power der »totale Krieg« erklärt wurde. Unter Aquino wurden mehr Menschenrechtsanwälte und engagierte Journalisten erschossen als während der Marcos-Herrschaft. Die Einrichtung paramilitärischer Bürgerwehren, der so genannten vigilantes, dienten der schmutzigen Aufstandsbekämpfung. Auf diese Weise wurde People Power offiziell zur Bekämpfung tatsächlicher People's Power-Ansätze mobilisiert und instrumentalisiert. Derweil hatte sich der Marcos-Clan unbehelligt ins Exil auf Hawaii begeben.
Fehleinschätzungen der Linken
Dass all dies geschehen konnte, war zum Teil zwei fatalen Fehleinschätzungen des bis Mitte der achtziger Jahre im Widerstand gegen die Diktatur ideologisch hegemonialen Untergrundbündnisses der Nationalen Demokratischen Front (NDFP) geschuldet. Die NDFP überschätzte Marcos und unterschätzte das US-Krisenmanagement sowie die (Eigen-)Dynamik des antidiktatorischen Kampfes. Die bedeutsamste Mitgliedorganisation der NDFP, die Kommunistische Partei (CPP), hatte die vorgezogene Präsidentschaftswahl im Februar 1986 boykottiert und sie als »lärmendes Getöse der US-Marcos-Diktatur« charakterisiert. Doch Marcos war bereits seit Frühjahr 1985 von CIA-Chef William Casey zu der Wahl gedrängt worden, während das Krisenmanagement von State Department und Pentagon schon auf eine gemäßigt bürgerlich-reformistische Alternative mit Ramos setzte.
Mit Erfolg: Strategisch war Marcos bereits vor den Wahlen abgeschrieben, taktisch dagegen ließ sich durch die vorgezogene Wahl die Beachtung demokratischer Spielregeln demonstrieren und dadurch die Legitimation der neuen Regierung begründen. Die Unterschätzung des antidiktatorischen Kampfes seitens der NDFP und die Verkennung der Tatsache, dass dieser in den Endzügen des Marcos-Regimes vom metropolitanen Bürgertum sowie im reformistischen Oppositionslager aktiv unterstützt wurde, resultierten aus der schematischen Annahme, ein Ende der Diktatur falle zeitgleich mit dem Sieg des dreieinigen »antiimperialistischen, antifeudalen und antifaschistischen Kampfes« zusammen. 1986 bildete People Power letztlich die Staffage eines Machtwechsels, nach dem strukturell alles beim Alten blieb, der aber die vor dem Kriegsrecht geltenden Spielregeln einer Elitendemokratie reaktivierte. Aquino schied 1992 nach einer blassen Vorstellung aus ihrem Amt, ihr Nachfolger wurde bis 1998 Ex-General Ramos, der sowohl ihr als auch Marcos als Korsettstange gedient hatte. Ausgerechnet Ramos gelangen Erfolge an vielen Fronten: Seine innermilitärischen Kritiker verstummten, die außermilitärischen Gegner befehdeten sich gegenseitig, eine relative politische Stabilität wurde von bescheidenen Wirtschaftserfolgen begleitet. Schließlich fanden unter seiner Ägide Friedensverhandlungen mit den Moros und der NDFP-Exilführung statt. Sein Masterplan Philippines 2000, ursprünglich als Versuch eines erfolgreichen nachholenden Entwicklungsprogramms à la Südkorea und Taiwan propagiert, wurde jedoch durch die Mitte 1997 in der Region offen ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise weitgehend zunichte gemacht.
People Power, die Zweite
Im Januar 2001 wiederholte sich vieles, was im Februar 1986 für einen Machtwechsel gesorgt hatte. Zahlreiche säkulare und kirchliche NGOs, fortschrittliche und linke Gruppierungen, Angehörige aus den Mittelschichten, Studenten, Businessleute aus dem Geschäfts- und Finanzdistrikt Makati sowie die Ex-Präsidenten Aquino und Ramos nebst der einflussreichen katholischen Kirchenhierarchie hatten seit dem Herbst die heterogene »People Power II-Bewegung« begründet. In ihr gewann Zug um Zug die Position des »Verjagt Erap« (wie Präsident Joseph Estrada genannt wurde) die Oberhand, während die Stimmen, die den Ausdruck gereifter demokratischer Spielregeln im verfassungsmäßigen Prozess des Amtsenthebungsverfahrens sahen, zusehends verstummten.
Im Vergleich zu ihrer Vorgängerin zeichnete sich People Power II durch eine intensivere Teilnahme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten und Gruppen aus und blieb nicht vorrangig auf die Metropole Manila beschränkt. Landesweit, vor allem auf der krisengeschüttelten und von Bürgerkrieg gezeichneten südlichen Insel Mindanao, formierte sich im letzten Sommer ein facettenreiches Widerstandspotential, das auf vielfältige Weise mittels Dauerprotesten, Streiks, Mahnwachen oder Offenen Foren kritisches Bewusstsein schärfte, selbstständige Organisationsstrukturen konsolidierte und politische Aktionen initiierte. Außerdem hatte sich mit der Erosion der Sowjetunion und der Schließung des sowjetischen Flottenstützpunktes im vietnamesischen Camh Ranh Bay das US-amerikanische Interesse an den Philippinen gegenüber 1986 deutlich verringert.
Kontinuität als Programm
Wichtig waren den tragenden Organisationen der People-Power-II-Bewegung wie dem militanten Bauernverband KMP und der nationalistischen Bündnisorganisation BAYAN, dem Kampf gegen Estrada auch entsprechende Reformen im Interesse der Bevölkerung folgen zu lassen. Eine Volksagenda, die bereits Mitte November 2000 der damaligen Vizepräsidentin Macapagal-Arroyo überreicht wurde, soll gewährleisten, dass Estrada und seiner Entourage keine Straffreiheit gewährt wird, die Friedensverhandlungen mit der NDFP und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) im Süden des Archipels wieder aufgenommen und die politischen Gefangenen freigelassen werden. Arbeiter sollen eine Erhöhung ihres Tageslohns um 125 Pesos (etwa 5 Mark) erhalten, die Landreform zügiger umgesetzt werden und im Staatshaushalt Bildung und andere soziale Leistungen Vorrang genießen.
Die neue Präsidentin und Volkswirtschaftlerin Gloria Macapagal-Arroyo - in den philippinischen Medien kurz GMA genannt - beerbt eine Politik, die in vielerlei Hinsicht einer modifizierten Marcos-Politik glich. Tatsächlich war Estrada lange Teil der politisch-administrativen Infrastruktur der Marcos-Diktatur. Wie sein einstiger Mentor Marcos ließ auch Estrada eine ernsthafte Friedenspolitik vermissen - vor allem gegenüber dem unruhigen Süden. Je prekärer aber die Sicherheitslage und die sozioökonomischen Bedingungen in der Peripherie wurden, desto rasanter entwickelte sich die Krisenstimmung im politischen Zentrum sowie in der Business Community von Manila.
Bei ihrer Amtseinführung im Januar 2001 verkündete Macapagal-Arroyo daher ein Vier-Punkte-Programm, mit dem sie das Land aus der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Malaise führen will: Bekämpfung der weit verbreiteten Armut; Regierungsführung nach moralischen Grundsätzen; Überwindung der lähmenden Patronage-Politik zugunsten programmatisch ausgerichteter politischer Parteien sowie ein persönlicher Führungsstil, der anstelle von Rhetorik und Showgehabe auf vorbildlichem Arbeitsethos und Würde basiert. Ausgebildet an Manilas exklusivem Assumption College und an der US-amerikanischen Georgetown University, wo sie mit Bill Clinton die Bank drückte, begann GMAs politische Karriere unter der Marcos-Nachfolgerin Aquino als Staatssekretärin im Handels- und Industrieministerium und als Senatorin. GMA war maßgeblich an der Ausarbeitung jener Gesetzesvorlagen beteiligt, die den Philippinen die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) sicherten. 1998 wurde sie zur Vizepräsidentin Estradas gewählt und übernahm den Vorsitz des Sozialen Wohlfahrts- und Entwicklungsministeriums. Viel Ehr' war ihr dort allerdings nicht beschieden; allein die Zahl der in prekären Verhältnissen lebenden Straßenkinder wuchs während ihrer Amtszeit auf landesweit über 220.000 an. Als im Oktober 2000 die ersten Korruptionsvorwürfe gegen Estrada laut wurden, trat Macapagal-Arroyo als Ministerin zurück und schloss sich den politischen Widersachern des Präsidenten an, ohne allerdings ihr Amt als Vizepräsidentin preiszugeben.
»Ich bin eine von euch«
KritikerInnen bemängeln an der neuen Präsidentin, sie verfüge über kein politisches Alternativprogramm, sondern profitiere einzig von der Reputation ihres Vaters Diosdado Macapagal. Dieser hatte 1961 die Präsidentschaft gewonnen und sich in zweierlei Hinsicht einen Namen gemacht: In der Öffentlichkeit galt er als »der Unkorrumpierbare«, und wirtschaftspolitisch markierte sein Deregulierungsprogramm den Beginn exportorientierter Entwicklung und das Hofieren von Weltbank und IWF. Sollte sich GMA Letzteren im Sinne weiterer Marktöffnung, die sie ausdrücklich befürwortet, mehr verpflichtet fühlen als dem gleichermaßen erklärten Ziel der Armutsbekämpfung, steht zu befürchten, dass sie rascher als ihr lieb sein dürfte in den Strudel heftiger sozialer Proteste gerät. Immerhin haben im breiten und landesweiten »Verjagt Estrada«-Spektrum nicht wenige nur den Sturz des Präsidenten, sondern auch ein Ende seiner elitenfreundlichen und mafiotischen Politik im Blick gehabt. »Wäre die Estrada-Politik ungeniert fortgesetzt worden«, kommentiert der philippinische Politologe Walden Bello, »hätte der Präsident gleichzeitig die Spitze von Staat und Unterwelt verkörpert«.
Während Verfassungsjuristen noch immer über die Legalität des Präsidentenwechsels sinnieren, und die nach wie vor machtvollen Fraktionen der Estrada- und Marcos-Anhänger auf Destabilisierung der neuen Regierung setzen, geriet deren neue Chefin bereits ins Zwielicht: Sie habe den Besitz eines knapp fünf Millionen US-Dollar teuren Anwesens in San Francisco verschwiegen. Auffallend an der Politik GMAs ist der Spagat, ausgerechnet mit altgedienten Kommissköpfen und sogenannten traditionellen Politikern einen Neubeginn zu proklamieren. Schlüsselfigur bleibt der sich heute gern als Elder Statesman präsentierende Ramos. Sein Votum war im Januar mit ausschlaggebend für den Bruch des Militärs mit Estrada und die Neubesetzung wichtiger Ressorts im neuen Kabinett. Die Militärhierarchie blieb ebenso intakt wie die Polizeispitze. »Ich bin eine von euch«, erklärte die Präsidentin anlässlich ihres ersten Besuchs in der Philippinischen Militärakademie. Als Dank für die militärische Unterstützung im Januar kündigte GMA eine Solderhöhung an und versprach, die Soldaten mit verbilligten Lebensmittelrationen zu versorgen - eine Geste, auf die die städtischen Armen und Marginalisierten im Lande vergeblich warten dürften.
Gleichzeitig verkündete die Präsidentin, die unter Estrada gekappten Friedensgespräche mit der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) im Süden und der landesweit operierenden Nationalen Demokratischen Front (NDFP) wieder aufzunehmen. Der "Politik des totalen Krieges" ihres Amtsvorgängers setze sie eine aktive Friedenspolitik entgegen. Tatsächlich berief sie einige Personen aus dem südlichen Mindanao in ihr Kabinett - daneben allerdings auch solche, die dort bis vor kurzem die Kriegspolitik Estradas durchsetzten. Außen- und wirtschaftspolitisch ist von der neuen Präsidentin kein Kurswechsel zu erwarten. Die Gegner weiterer WTO-Auflagen und der fortgesetzten Privatisierung vor allem im Energie- und Handelssektor, die auf die desaströsen Auswirkungen überseeischer Agrarimporte für die eigene Landwirtschaft verweisen, zeiht sie des Protektionismus. Angesichts der zu erwartenden sozialen Spannungen darf man auf die dritte Auflage von People Power gespannt sein.
Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf/ Brüssel). Er befasst sich seit 1970 schwerpunktmäßig mit den Philippinen. Erschienen in: iz3w 252, Freiburg 2001.
Philippinen: Der Kampf um den Smokey Mountain
Ein »unrühmliches Wahrzeichen« ist verschwunden, die Müllmenschen bleiben
von Karl Rössel
›Ich bin vor mehr als fünfzig Jahren aus der Provinz Masbate nach Manila gekommen. Damals war ich gerade acht Jahre alt. Auf den Kokos-Plantagen meiner Heimatinsel gab es einfach keine Arbeit mehr für meine Familie. In Manila habe ich zunächst meiner Mutter geholfen, Wäsche für andere Leute zu waschen. Aber schon bald waren wir gezwungen, Müll zu sammeln, um zu überleben. In den siebziger Jahren zog ich mit meinem Mann auf den Smokey Mountain, den Müllberg hier im Hafen von Manila. Bald darauf starb mein Mann an einem Schlaganfall, und ich blieb mit meinen drei Kindern alleine. Deshalb mussten auch sie alle als Müllsammler arbeiten.‹
Maria Naga ist heute 60 Jahre alt. Sie ist spindeldürr, trägt ein einfaches, geblümtes Baumwollkleid und ihr sonnenverbranntes Gesicht unter dem ergrauten Haar ist von tiefen Falten zerfurcht. Ihre Augen sind entzündet und tränen. Eine Krankheit, die sie sich bei der Arbeit auf dem Smokey Mountain zugezogen hat. Über ihren Alltag dort erzählt sie: ›Morgens, wenn die LKWs die Abfälle der Stadt auf dem Berg abluden, begannen wir, mit Stangen darin herumzustochern, um nach allem zu suchen, was noch verwertbar schien. Wir sammelten leere Flaschen, Papier, Pappe, Plastiktüten und Metallteile und jeden Nachmittag versuchten wir, das zu verkaufen, was wir morgens gefunden hatten. Im Schnitt brachte uns das täglich zwischen 50 und 65 Pesos ein.‹ Mit diesem kargen Tageslohn - zwei bis drei Mark - hat Maria Naga ihre Kinder großgezogen. Als Behausung diente der Familie ein Verschlag aus Pappe und Wellblech an einem Abhang des Smokey Mountain, wo mit den Jahren eine ausufernde Slumsiedlung für mehr als 20.000 Menschen entstanden war. Sie alle arbeiteten, aßen und schliefen auf den Abfällen der Zehn-Millionen-Stadt Manila. Und Tausende ihrer Kinder wuchsen dort zwischen grün-schimmelnder Jauche und faulenden Abfällen auf, umgeben von Schwärmen von Schmeißfliegen und Horden von Ratten.
Wie Maria Naga stammen die meisten der »Müllmenschen von Manila« aus der philippinischen Provinz. Sie kamen in die Hauptstadt, um dem Elend auf dem Land zu entgehen, wo bis heute einige wenige feudale Großgrundbesitzer ihren Plantagenarbeitern nur Hungerlöhne auszahlen. Wie die meisten der zehn bis zwölf Millionen Einwohner Manilas landeten sie in den Slumvierteln oder auf dem Müll - so wie die inzwischen 70jährige Severina Manrique: ›Ich bin mit 13 Jahren aus der Provinz Leyte nach Manila gekommen, weil ich hoffte, hier in die Schule gehen zu können. Doch dafür brauchte ich Geld. Also habe ich auf der Straße Blumen verkauft. Dann habe ich meinen Mann kennen gelernt, und wir haben geheiratet. Zunächst konnten wir einen Kleinhandel betreiben. Wir verkauften alle möglichen Waren auf den Schiffen im Hafen. Dann starb mein Mann, und ich konnte die Miete für unser Haus bald nicht mehr bezahlen. In dieser Situation bot mir eine Freundin an, für 1.500 Pesos eine Hütte auf dem Smokey Mountain zu erwerben. Es war ein Verschlag aus alten Gemüsekisten. Dorthin zog ich mit meinen sechs Kindern. Später haben wir unsere Hütte mit Holz ausgebessert und auch den Boden mit Sand aufgefüllt, um es uns etwas schöner zu machen. Seitdem habe ich als Müllsammlerin gearbeitet, und selbst meine zehnjährige Enkelin musste schließlich dabei mithelfen, damit wir über die Runden kamen.‹
Unrühmliches Wahrzeichen
Der Smokey Mountain, 1954 erstmals als Müllhalde für das Hafenviertel Manilas genutzt, dehnte sich im Laufe der Zeit auf mehr als zwanzig Hektar aus und wuchs auf fast 40 Meter Höhe an. Seinen Namen, rauchender Berg, erhielt die Müllkippe, weil sie ständig von beißendem Nebel umgeben war, der aus den modernden Abfällen aufstieg. An der berühmten Manila-Bay gelegen und von jedem einlaufenden Schiff aus unübersehbar, wurde der Smokey Mountain zu einem unrühmlichen Wahrzeichen der Stadt.
Nach dem Sturz der Marcos-Diktatur im Jahre 1986 gab es unter der neuen Präsidentin Corazon Aquino erste Überlegungen, den Müllberg zu sanieren und die dort lebenden Menschen umzusiedeln. Doch erst ihr Nachfolger, der Ex-General Fidel Ramos, fasste 1992 einen konkreten Beschluss und kündete ein »international beispielhaftes« Vorhaben an: »Das Smokey Mountain-Projekt zielt darauf ab, aus einer nationalen Schande und einem Symbol für die Verelendung der Philippinen in den Augen der Welt einen Standort für sozio-ökonomischen Aufschwung und industriellen Fortschritt zu machen. Das Projekt wird den Familien, die auf dem Müllberg leben, angemessene Wohnungen und Arbeitsplätze liefern, und sobald der Müllberg abgetragen ist, wird dort ein umweltfreundliches Viertel entstehen, das den Menschen ein besseres Leben garantiert.«
Dies alles sollte verwirklicht werden, ohne die Regierung auch nur einen einzigen Peso zu kosten. Der Bauunternehmer Ricardo Reyes erhielt den Auftrag, das Gelände zu sanieren und 30 mehrstöckige Wohnblocks für die Müllsammler zu bauen. Dafür durfte er unmittelbar vor dem Smokey Mountain Erde in der Bucht von Manila aufschütten und das so neu gewonnene, kostbare Land inmitten der Stadt gewinnbringend verkaufen. »Dort sollen neue Hafenanlagen, Industriegebiete und Einkaufszentren und damit bis zu 100.000 neue Arbeitsplätze entstehen, die bevorzugt an die ehemaligen Müllsammler vergeben werden sollten.«
Ricardo Reyes versprach, das ambitionierte Milliarden-Projekt in nur zwei Jahren umzusetzen. Bis dahin sollten die ehemaligen Bewohner des Müllberges in Übergangshäusern unterkommen, in einfachen Fertigbauten nur 500 Meter vom Smokey Mountain entfernt. Das klang vielversprechend, brachte der philippinischen Regierung in der Presse lobende Kommentare ein und fand auch die Unterstützung der Weltbank und internationaler Hilfsorganisationen. Nur die Betroffenen, die Müllsammler vom Smokey Mountain, waren von Anfang an skeptisch. Viele von ihnen fürchteten, mit dem Müllberg auch ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Sie glaubten nicht an die versprochenen Arbeitsplätze in den neuen Hafenanlagen und fürchteten, die Mieten in den von Ricardo Reyes geplanten vier- bis fünfstöckigen Neubauten nicht aufbringen zu können. 700 Müllsammler demonstrierten vor der Zentrale der Nationalen Wohnungsbaugesellschaft im Regierungsviertel Quezon City und forderten, das Gelände nach ihren eigenen Vorstellungen umgestalten zu können. Doch den damaligen Präsidenten Fidel Ramos, der unter Diktator Marcos die gefürchteten Foltereinheiten der Philippine Constabulary befehligt hatte, kümmerte dies wenig. Hatte seine Regierung den demonstrierenden Müllsammlern im Sommer 1995 noch ein Gespräch auf höchster Ebene versprochen, so erteilte Ramos nur einen Tag vor dem vereinbarten Verhandlungstermin den Befehl zur Räumung. Im Morgengrauen drangen schwer bewaffnete Einsatzkommandos in die Slumsiedlung des Smokey Mountain ein, um die Hütten zu räumen und niederzureißen.
›Als sie zu meinem Haus kamen‹, erzählt Maria Naga, ›habe ich mich mit Exkrementen eingerieben und auch dem ersten Polizisten eine Handvoll davon ins Gesicht geschleudert. Dann ging ich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie schrien: »Komm bloß nicht näher!«, weil sie sich vor dem Gestank ekelten, und sie haben mich nicht einmal verhaftet, wie sie es mit vielen anderen getan haben. Dabei haben wir nur mit Steinen und Scheiße versucht, unsere Häuser zu verteidigen. Die Polizei schoss mit Tränengas und Gewehren. Dabei kam einer unserer Leute um und viele andere wurden verletzt.‹
Der Reiz des Neulandes
Nach der gewaltsamen Räumung wurde der Müllberg durch Zäune und Mauern abgeriegelt. Ende 1995 begannen Arbeiter damit, die zwei Millionen Kubikmeter Abfall abzutragen. Erdmassen zur Aufschüttung des Neulandes in der Hafenbucht wurden herangekarrt, bald darauf wurde der Grundstein für die geplanten Neubaublocks gelegt. Bis 1998 entstanden auf einem planierten Teil der ehemaligen Müllkippe auch Rohbauten von einigen vier- bis fünfstöckigen Wohnblocks. Doch dann stockte das gesamte Projekt. Dabei hatte sich der seit 1998 amtierende neue Präsident Joseph Estrada ausdrücklich für das Projekt ausgesprochen. Er versprach, die Macht der 50 reichen Familien, die bis dahin die philippinische Politik bestimmt hatten, zu brechen, Korruption und Misswirtschaft zu bekämpfen und täglich 1000 neue Häuser für die Ärmsten der Armen zu bauen. Deshalb gaben ihm auch die meisten Müllmenschen von Manila ihre Stimmen. Doch sollten die Arbeiten auf der ehemaligen Müllhalde weitere zwei Jahre lang ruhen. Auch im Frühjahr 2000 war lediglich die Hälfte des Müllberges abgetragen, während die andere weiterhin zum Himmel stank. Noch immer stand nur ein Teil der 30 geplanten Wohnblocks im Rohbau und keiner davon war bezugsfertig. Auch hatten allenfalls ein paar Dutzend der ehemaligen Müllsammler Arbeit auf dem neuen Hafengelände gefunden. Die große Mehrheit, 2.500 Familien und damit 15.000 Menschen, wartet weiterhin vergeblich in den Übergangshäusern auf die Fertigstellung des Projektes. Die Lehrerin Ruth Palma sagt dazu:
›Die Häuser sind völlig überfüllt. In ein Gebäude wurden 87 Familien eingewiesen. Sie brauchen zwar keine Miete zu bezahlen, aber da sie keine Arbeit haben, können sie nicht einmal die Stromrechnungen begleichen. Deshalb vermieten viele ihre beengten Unterkünfte noch weiter an andere, so dass sich heute 10 bis 15 Menschen einen einzigen Raum teilen müssen. Schon seit Jahren tut sich beim Bau der Wohnungen nichts mehr. Angeblich ist kein Geld mehr da. Tatsächlich haben sie wohl den größten Teil des Geldes, der für das Smokey Mountain Projekt bestimmt war, in ihre eigenen Taschen gesteckt.‹
Tatsächlich galt das Augenmerk der philippinischen Regierung und des von ihr beauftragten Unternehmens »R II Builders« wohl von Anfang an weniger der Wohnungsnot der Müllsammler als den Milliarden-Gewinnen, die mit dem Verkauf des neugewonnenen Landes in der Manila-Bay zu erzielen waren: Nach Regierungsunterlagen beträgt der Wert dieser kostbaren Immobilie 18 Milliarden Pesos, das sind mehr als 600 Millionen Mark. Bis zum Frühjahr 2000 war fast die Hälfte des Grundstückes verkauft.
Immer mehr der verprellten, ehemaligen Müllsammler des Smokey Mountain landeten derweil dort, wo auch die Abfälle der philippinischen Hauptstadt seit der Schließung des berühmt-berüchtigten Müllberges hingekarrt wurden: in Payatas. »Wenn das Leben auf dem Smokey Mountain das Fegefeuer war, so ist Payatas die Hölle.« So beschreibt ein philippinischer Priester, der sich um Bewohner der Elendsviertel kümmert, das Gebiet, in dem sich die neuen Müllkippen der Stadt befinden - mehrere gigantische Berge von Abfällen, von denen jeder alleine größer und höher ist als es der Smokey Mountain jemals war. Alle Zufahrtswege nach Payatas sind gesäumt von Müll und von einfach gezimmerten Lagerhallen, in denen Tausende Menschen Abfälle sortieren. Neben riesigen Haufen gebrauchter Plastiktüten stapeln sie am Straßenrand Gummireifen, Kabel, Schrott, Altpapier und Lebensmittelreste, die aufgekocht und an Schweine verfüttert werden. Ständig rattern die schweren Laster der Müllabfuhr über die holprigen Straßen hinunter, mehr als 30 pro Stunde, mehr als 300 pro Tag, jeder beladen mit sieben Tonnen Abfall. Im Tal angekommen biegen die Müllwagen ein in ein Gebirge aus Abfall, zu dessen Gipfeln notdürftig befestigte Zufahrtswege aus festgestampftem Müll führen. Oben verteilen Bulldozer die Tag und Nacht anrollenden Abfälle und walzen sie platt. Dazwischen stochern Tausende Männer und Frauen mit Stangen im Müll herum, selbst Kinder, die jüngsten kaum älter als sechs oder sieben Jahre. Die Hütten, in denen sie wohnen, kleben an den Abhängen des Müllgebirges und verteilen sich am Fuß der Abfallberge durch das gesamte Tal. 60.000 Menschen leben und arbeiten in dem Müll-Inferno von Payatas. Luz Golondrina, eine junge Frau mit einem kranken Kind im Tragetuch, ist eine von denen, die vom Smokey Mountain nach Payatas kamen:
›Wir gehörten nicht zu denen, die um den Smokey Mountain gekämpft haben, als die Räumungskommandos anrückten. Wir hatten Angst, sind aus dem Viertel geflohen und haben zu Gott gebetet, dass er uns helfen möge, einen anderen Platz zu finden, wo wir überleben könnten. So kamen wir nach Payatas. Hier teilen wir uns mit einer anderen Familie eine Hütte, die kaum drei mal einen Meter groß ist, und der Boden aus Abfällen ist nur notdürftig mit Kartonpappe ausgelegt. Darauf schlafen wir. Ich habe zwei Kinder von fünf und sieben Jahren und habe mir immer gewünscht, dass sie ein besseres Leben führen können als ich. Aber ich habe kein Geld, um sie zur Schule zu schicken.‹
Wunder sind selten
Während Luz Golondrina am Rande des Müllberges von ihrem elenden Leben erzählt, ertönt plötzlich von oben ein dumpfer Knall, so wie von einer schweren Explosion. Sekunden später steigen riesige gelb-schwarze Rauchwolken auf und ein ganzer Abhang des Müllberges steht lichterloh in Flammen. Schon bald ist die gesamte Umgebung eingehüllt in einen dichten, beißenden Nebel, der das Atmen zur Qual macht. Wie durch ein Wunder kommt bei diesem Brand niemand zu Schaden, obwohl Hunderte Menschen auf dem brennenden Berg gearbeitet haben.
Doch in der Hölle von Payatas sind Wunder selten, und so kommt es nur drei Monate später zur Katastrophe. Nach taifunartigen Regengüssen stürzt am 10. Juli 2000 einer der riesigen Abfallberge ins Tal hinunter und begräbt Hütten und Menschen unter einer Lawine von Müll. Mehr als 220 Tote werden in den Tagen danach aus den Abfällen geborgen. Die Leichen von mindestens 70 weiteren liegen noch immer in dem stinkenden Grab aus Müll. Auch die Müllhalden von Payatas, so hatte der philippinische Ex-Präsident Estrada nach seiner Wahl 1998 versprochen, sollten schnellstmöglich geschlossen werden. Estrada setzte gar eine spezielle »Task Force« ein, die ein Konzept zur Sanierung von Payatas entwickeln sollte. Doch geschehen ist danach zwei Jahre lang nichts. Schließlich verdienen viel zu viele einflussreiche Politiker gut an dem Geschäft mit dem Müll. Zum Beispiel die Stadtverwaltung des Bezirks Quezon City. Dort müssen die Müllsammler erst eine Genehmigung einholen, bevor sie in Payatas nach wiederverwertbaren Abfällen suchen dürfen. Wer Müll aussortieren will, braucht einen Ausweis. Den gibt es nur im Bezirksrathaus und er kostet 50 Pesos. Bei Zehntausenden von Müllsammlern ein lukratives Geschäft für die Bezirksverwaltung von Quezon City. Dem Sohn des dortigen Bürgermeisters, Mel Mathay, gehören die meisten der Mülllaster. Er verdient an jeder Ladung Abfall, die in Payatas abgeladen wird, und streicht zudem weitere 50 Pesos von den Müllsammlern ein, die schon während der Fahrt hoch auf den Ladeflächen hektisch in den stinkenden Abfällen herumsuchen dürfen. Andere Politiker kontrollieren den Weiterverkauf der wiederverwertbaren Abfälle.
Deshalb bedurfte es schon einer Katastrophe mit mehreren hundert Toten, um die philippinische Regierung endlich dazu zu bewegen, die lebensgefährlichen Müllhalden von Payatas zu schließen. Nach dem Unglück besuchte auch Präsident Estrada die Hinterbliebenen der Opfer und ließ Nahrungsmittel und Kleider in Payatas verteilen. Vor laufenden Kameras wollte er gar spontan ein neunjähriges Mädchen adoptieren, das bei der Katastrophe seine Eltern und all seine Geschwister verloren hat. Doch dessen Großmutter wies dieses Ansinnen empört zurück. Vielmehr forderte sie vom Präsidenten Ersatz für ihre verschüttete Unterkunft und für ihre verlorene Arbeit, so wie viele der 60.000 Müllmenschen aus Payatas, die seitdem schon in mehreren Protestzügen vor die nahegelegenen Regierungsgebäude von Quezon City gezogen sind. Weil auch ihre verzweifelten Forderungen ungehört verhallten, nutzten sie den 1. November, Allerheiligen, zu einer symbolischen Protestaktion. An diesem Gedenktag für die Verstorbenen begruben sie Puppen des damaligen Präsidenten Estrada, des Bürgermeisters von Quezon City und anderer philippinischer Politiker dort, wo noch immer Dutzende Leichen ihrer Angehörigen in einem Grab aus Müll verschüttet sind: in der Hölle von Payatas. Wenige Tage später, am 9. November 2000, meldete die Nachrichten-Agentur AP: »Seit der Schließung von Payatas nach der Katastrophe im Juli 2000 sind überall in Quezon City wilde Müllkippen entstanden. Deshalb verfügte Bürgermeister Mel Mathay gestern, die Müllhalde von Payatas wieder zu öffnen.« Ein Sprecher des Bürgermeisters erklärte dazu: »Solange das Müllaufkommen der Stadt nicht sinkt, haben wir keine andere Wahl.«
Karl Rössel ist Journalist beim Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln. Erschienen in: iz3w 252, Freiburg 2001.
Südkorea: Tiger zu Bettvorlegern
Die Asienkrise und das Ende der »Nachholenden Entwicklung« in Südkorea
Zu Zeiten des Kalten Kriegs hatten die USA den Neo-Merkantilismus Japans und Südkoreas im Wirtschaftsraum Südostasien gestützt. In der Ära der freien Märkte und des weltweiten Neoliberalismus sind die einstigen Modelle ostasiatischen Wachstums zu bloßen Konkurrenten geworden. Ihre Liquiditätskrise bedeutet nicht zuletzt das Ende der »Nachholenden Entwicklung« japanisch-koreanischen Typs.
von Bruce Cumings
Noch vor einigen Jahren schien Japan, der Pionier der »Nachholenden Entwicklung«, zur regionalen Führungsmacht des Pazifiks zu avancieren.1 Zusammen mit Südkorea und Taiwan war in der ostasiatischen Region vor allem Japan an die lange Ära der Blockspaltung angepaßt. Das Land war seines militärischen und politischen Machtpotentials beraubt und spezialisierte sich dank amerikanischer Förderung auf die Wirtschaft. Die Aufgabe der Zwangsausübung in der Region delegierten die USA an die autoritären Staatssysteme von Taiwan und Südkorea, die beide über gigantische Armeen verfügten, zu deren Ausstattung und Unterhalt sie auch unmittelbar über Mittel der amerikanischen Entwicklungshilfe verfügten. Diese Staatsapparate komplettierten die regionale Konfiguration, indem sie Japan vor einem aufgeblähten Militärbudget bewahrten. Gleichzeitig waren die drei aufstrebenden Staaten durchdrungen von US-amerikanischem Einfluß. Sie waren damit zugleich »stark« und »schwach«.2 Wenn also der »Entwicklungsstaat« - d.h. eine nationale Industriestrategie, in der staatliches Kapital und staatliche Planung in große exportorientierte, privat geführte Firmenkonglomerate fließt - die ostasiatische Antwort auf die »Entwicklungsfrage« war, dann stellt dieser zum einen selbst kein originäres Modell dar, sondern folgte aus Europa übernommenen Konzepten. Zum anderen war der ostasiatische Weg nur möglich in einem durch die USA und gleichzeitig vor den USA geschützten Wirtschaftsraum im Zeichen des Kalten Krieges. Dieser Schutz wurde begleitet von einem fast unbemerkten Zwang, mit dem die USA alliierte Staaten sowohl militärisch als auch lange technologisch und finanziell in Abhängigkeit hielten. Angesichts der Revolutionen auf dem asiatischen Festland setzten die USA deutliche Grenzen, deren Überschreitung - beispielsweise eine Orientierung Seouls oder Tokios zum sowjetischen Block - unvorstellbar war und unverzüglich in die Krise geführt hätte.
Die wesentliche Erfahrung Nordostasiens in der Nachkriegsperiode war also eine alternative Form der politischen Ökonomie, die in ein hegemoniales Netz eingebunden ist. Japan, Südkorea und Taiwan industrialisierten sich innerhalb dieses Netzes. Sie waren halb-souveräne Staaten, die »stark« waren in bezug auf ihren Weg der Industrialisierung, aber »schwach« aufgrund des Netzes, in dem sie sich nur bewegen konnten.3 Die materiellen Grundlagen dieser beschützten Unabhängigkeit sind bemerkenswert: Die direkten Auslandsinvestitionen - in Lateinamerika eine der Grundlagen der Abhängigkeit - blieben erstaunlich niedrig: Mitte der 90er Jahre betrugen sie 0,4 % des BIP in Japan und 2,5% in Korea.4 Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand die amerikanische Duldsamkeit gegenüber dem Neo-Merkantilismus der ostasiatischen Verbündeten. Seit 1993 gilt die »Clinton-Doktrin« einer aggressiven Außenwirtschaftspolitik, die darauf zielt, Exporte zu fördern und gezielt Wirtschaftsbereiche für amerikanische Güter und Investitionen zu öffnen. Dabei ziehen die USA nun die Tugenden eines multilateralen Ökonomismus den Lastern des direkten Zwangs und der Intervention vor. So haben IWF und die Weltbank aus US-Perspektive gewaltig an Nützlichkeit gewinnen können, und sogar der Bretton-Woods-Mechanismus ersteht in Form der Welthandelsorganisaton (WTO) wieder auf.
Aufstieg und Fall der Korea-AG
In der jüngsten asiatischen Liquiditätskrise war den USA und dem IWF daran gelegen, das historische Kapitel abzuschließen, in dem die beschützten Staaten der »Nachholenden Entwicklung« prosperieren konnten. Südkorea ist ein exemplarischer Fall für diese These. Lange galt das Land als Wunderkind der Industrieentwicklung, wurde - insbesondere von wichtigen japanischen Stellen - als höchst kreditwürdig eingestuft und konnte die reichhaltigen Kreditmöglichkeiten, die japanische und westliche Banken boten, bis zur Neige ausschöpfen. Noch im Dezember 1996 hatte sich Präsident Kim Young Sam auf dem Höhepunkt einer Welle der Popularität befunden, weil er die beiden vorangegangenen Militärdiktatoren in die Wüste geschickt und stolz erklärt hatte, daß Südkorea nunmehr als fortgeschrittene Ökonomie gelten könne und durch den OECD-Beitritt erwachsen geworden sei.
Anfang 1997 schockierten dann heftige Arbeiterproteste die koreanische Elite und machten Kim Young Sam für den Rest des Jahres zur lahmen Ente. Weiter geschwächt wurde er, als die gigantische Stahlfirma Hanbo unter der Last von sechs Milliarden Dollar fauler Kredite zusammenbrach - manche dieser Anleihen waren mithilfe der politischen Intervention von Präsident Kims Sohn arrangiert worden, der bald darauf festgenommen wurde. Abgeschwächte Kontrollen im Finanzsektor förderten nun aber weitere Anleihen bei japanischen und westlichen Banken. Und die ausländischen Bankiers stolperten schier übereinander in dem Drang, Geld auszuteilen: »Wir standen alle Schlange, um zu versuchen, diesen Ländern bei der Kreditaufnahme zu helfen«, sagte Klaus Friedrich, der Chefökonom der Dresdner Bank. »Wir trafen uns immer alle an denselben Orten«. Korea wurde besonders begünstigt, denn ein ausländischer Kredit für eine koreanische Firma war »... das Gleiche, wie wenn man der Regierung etwas geliehen hätte«, sagte Vivien Levy-Garboua von der Banque National de Paris - »er war ein Kredit an die Korea AG«. Im Herbst 1997 nutzten die USA dann die offenkundig gewordene Liquiditätskrise Südkoreas5, den koreanischen »Entwicklungsstaat« in eine amerikanisch definierte Normalität umzuformen. In den Personen von Finanzminister Rubin, Vizeminister Summers und dem Vorsitzenden der Federal Reserve, Greenspan, sorgten sie in engem Zusammenspiel mit dem IWF entscheidend dafür, daß Japans Versuch, einen asiatischen Fond zu bilden, um bedrohte Banken zu retten, abgewehrt wurde und die Forderung nach weitgehenden Strukturreformen als Gegenleistung für Rettungsaktionen des IWF aufgestellt wurde.
Zuvor hatte Kim Young Sams Regierung verzweifelt versucht, eine Rettungsaktion des IWF bis nach der Präsidentenwahl vom 18. Dezember aufzuschieben und bemühte sich statt dessen um japanische Unterstützung. Mitte November forderte der südkoreanische Finanzminister Lim Chang Ryul Japan öffentlich zum Eingreifen auf: »Wenn die koreanische Wirtschaft in Schwierigkeiten kommt, geht es der japanischen Wirtschaft genauso.« Washington bestand jedoch auf einer raschen Rettungsaktion während der Wahlkampagne, um so alle Kandidaten zu zwingen, sich zu Zustimmung oder Ablehnung des Programms zu offenbaren. Summers, der später als »moderne Variante von General Douglas Mac Arthur« bezeichnet wurde, weil er Asien gemäß den amerikanischen Interessen umforme, reiste nach Seoul und erklärte, daß »finanzielle Unterstützung nur im Kontext eines IWF-Programms gewährt werden sollte«. Nach einer langen Verhandlungsrunde, an der Finanzminister Rubin und das IWF-Team teilnahmen, wurde eine Vereinbarung über eine Rettungsaktion mit dem Gesamtumfang von 57 Mrd Dollar getroffen. Das Paket bestand aus einem 21-Mrd-Dollar stand-by-Kredit des IWF, 10 Mrd von der Weltbank und 4 Mrd von der asiatischen Entwicklungsbank. Die USA, Japan und andere Länder sollten weitere 22 Mrd beisteuern.
Nach der Rettungsaktion schimpften einflußreiche Analysten auf ein Entwicklungsmodell, das während der Jahrzehnte autoritärer Regimes Washingtons Augapfel gewesen war. Der stellvertretende Direktor des IWF, Stanley Fischer, sagte, eine wirkliche Restrukturierung wäre »innerhalb des koreanischen Modells oder des Japan-AG-Modells« nicht möglich. »Die koreanische Führung hängt an ökonomischen Idealen, die aus einer Diktatur der 60er Jahre stammen«, schrieb ein Leitartikler im Wallstreet-Journal. Der IWF verlangte als Gegenleistung für das 57-Milliarden-Dollar Paket dann auch eine drastische Umstrukturierung. Das IWF-Abkommen zielt unmittelbar auf das Modell der Korea-AG: Das Land habe einen »hochsubventionierten Sektor von Großkonzernen, der keine effektive Marktdisziplin aufweise« mit einer so hohen Verschuldungsrate im Vergleich zum Eigenkapital, daß die meisten »chaebôls«6 technisch gesehen zu jeder Zeit bankrott waren. Leicht zugängliche Kredite hätten zu »exzessiven Investitionen in bestimmten Sektoren wie Stahl und Autos geführt«. Korea müsse »den Finanzsektor restrukturieren und rekapitalisieren und ihn transparenter machen, mehr marktorientiert und besser überwacht«. Außerdem sollten die Erwartungen hinsichtlich der Wachstumsrate von sechs Prozent auf drei Prozent halbiert und die Höchstgrenze für Auslandsinvestitionen in koreanische Firmen von 26 Prozent auf 50 Prozent angehoben werden
Zusammenschlüsse mit ausländischen Firmen und der Verkauf von Firmen an Ausländer sollten erleichtert, der inländische Markt - besonders der Kapital- und Automobilmarkt - geöffnet und eine Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt geschaffen werden, die gewaltige Massenentlassung ermöglicht. Die Regierung solle die Staatseinnahmen erhöhen, indem sie die Steuern und Zinssätze erhöhte und die Staatsausgaben senkte. Große Finanzinstitutionen sollten von jetzt ab von international anerkannten Firmen überwacht werden und die stark diversifizierten »chaebôls« aufhören, sich gegenseitig Kredite zu garantieren und andere interne Abmachungen zu treffen. Die koreanischen Vertreter plädierten dafür, in das Reformpaket Maßnahmen gegen die Arbeiterbewegung aufzunehmen - in der Hoffnung, daß der IWF für Kim Young Sam tun könnte, was dieser nicht selbst tun mochte.
Es ist eine Ironie der südkoreanischen Geschichte, daß die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes ausgerechnet zu dem Zeitpunkt auftrat, als die koreanische Bevölkerung sich anschickte, den Dissidenten Kim Dae Jung zum neuen Präsidenten zu wählen. Kim verkörperte den mutigen und zähen Widerstand in den Jahrzehnten der Diktatur, die Korea ebenso geprägt hat wie das rasche Wirtschaftswachstum. Die koreanische Demokratie ist von unten nach oben gewachsen und kostete unzählige Opfer. Auch wenn kein »perfekt demokratisches System« entstanden ist, existiert mittlerweile doch eine bemerkenswerte Zivilgesellschaft, die die üblichen Stereotypen über asiatische Kultur und asiatische Werte Lügen straft. Paradoxerweise ist es nun diese in der Opposition herangereifte Zivilgesellschaft, die Washington und den IWF in die Lage versetzt, ihre Interessen in Korea durchzusetzen. Die Wahl Kims hat Kreise an die Macht gebracht, die seit langem schon die Verbindung von Staat und Banken angeprangert haben und die, wie der neue Präsident, lange Zeit zu den Opfern dieses Systems zählten - einer Diktatur, die von den USA gestützt worden war.
China als neuer Garant für Stabilität
Zur Zeit des kalten Krieges, als Südkorea ein wichtiger Verbündeter und Frontstaat war, wäre eine finanzielle Rettungsaktion mit der vorrangigen Betonung von Sicherheitsfragen verbunden worden - wie zum Beispiel 1983, als Reagan und Premierminister Nakasone sich über ein 4-Mrd-$-Paket für Seoul einigten, ein Betrag, der damals 10% der Schulden des Landes betrug. Aber die nordostasiatische Variante der »Nachholenden Entwicklung« funktionierte nur, solange Japan und Korea abgeschottete Volkswirtschaften waren. Heute stellen die scheinbar autonomen »asiatischen Tiger«, die innerhalb eines großzügigen hegemonialen Netzes 30 Jahre prosperiert haben, fest, daß sie abhängig geworden sind und einem kaum durchschauten Mechanismus ausgesetzt sind, der ihre gesamte Gesellschaft und Wirtschaft unter globale Jurisdiktion stellt. Starke konservative Kräfte in Südkorea und Japan kämpfen jetzt darum, gegen das Evangelium des IWF zu bewahren, was sie als ihren sozialen Nachkriegskonsens und ihre Zivilisation begreifen. Andere, wie der frühere Premierminister Lee Hong Koo - mittlerweile koreanischer Botschafter in Washington - erklären: »Das Modell ist jetzt klar: es ist nicht Japan, es ist der Westen. Die jetzige Krise hat fast alle davon überzeugt, daß der alte Stil nicht funktioniert.« Sogar Nordkorea hat jüngst die Weltbank aufgefordert, seine Experten in kapitalistischer Wirtschaft auszubilden.
Der Einbruch der Tigerstaaten zeigte endgültig, daß die alte regionale Konfiguration von Washingtons Gnaden wackelig und anachronistisch sowie für die Hegemonialmacht unvorteilhaft geworden war. Schließlich tobte die Asienkrise zu einem Zeitpunkt durch die Region, zu dem der Weltmarkt fast den gesamten Globus umfaßt, nachdem hunderte Millionen Menschen in China und den früheren Gebieten des Sowjetblocks hinzugekommen sind. Die US-Amerikaner nehmen inzwischen das »kommunistische« China als einen Anker der Stabilität in Ostasien wahr. Rubin und Clinton lobten Peking während Clintons Besuch im Juni 1998 dafür, daß es seine Währung stabil gehalten habe.7
Mittlerweile kritisieren zwar auch Befürworter des »freien Marktes« den IWF, und internationale Manager fragen sich, ob Billionen herumvagabundierender Dollars nicht ins finanzielle Chaos führen. Daraus erwächst jedoch ein Ruf nach neuerlicher globaler Regulierung und einer internationalen makro-ökonomischen Politik zur Stabilisierung. So versuchen nun die führenden Industriestaaten, allen voran die USA, mit den großen internationalen Organisationen jedermann hegemoniale Regeln aufzuzwingen, und auf diese Weise »gleiche Startbedingungen« - allerdings unter den Bedingungen fortgesetzter struktureller Ungleichheit und Hierarchie - zu schaffen. Den Ausgang dieses Spiels demonstriert die Geschichte Südkoreas.
Anmerkungen
- Siehe zu Entwicklung und Machtkonstellation in der Region den Themenschwerpunkt in: iz3w Nr. 204, März 1995
- E. Wallerstein: »Staaten sind in einer Hierarchie effektiver Macht angesiedelt, die man weder nach der Größe und Kohärenz ihrer Bürokratien und Armeen messen kann, noch an ihren eigenen ideologischen Definitionen, sondern an ihrer tatsächlichen Kapazität im Laufe der Zeit, die Konzentration des akkumulierten Kapitals innerhalb ihrer Grenzen zu fördern im Vergleich zur Kapazität rivalisierender Staaten.« Diese Staaten sind auch nicht als völlig souverän anzusehen, denn »die bloße Existenz dieser Hierarchie bildet die größte Einschränkung«. So sieht Polanyi im Entstehen des Weltmarkts die Ablösung wirtschaftlicher Verhältnisse von den sozialen und die Unterordnung der Gesellschaft unter wirtschaftliche Imperative - der unregulierte Markt sondert sich ab und wird eine Macht über der Gesellschaft und vielleicht auch dem Staat.
- Nordkorea und China definierten sich außerhalb des Netzes. Auch sie entwickelten »starke« Staaten - »stark« und »total«. Am Ende des Jahrhunderts werden jedoch beide in das Netz hineingezogen. Das erhärtet die These, daß staatliche Maschinerien in das Weltsystem eingebettet, daß ihre Autonomie innerhalb dieses Systems begrenzt ist und daß die spezifischen institutionellen Formen, die Staaten auf der ganzen Welt annehmen, nicht losgelöst von der Funktionsweise des Ganzen verstanden werden können. Dieses Ganze nannte Marx »das größte Terrain« - den Weltmarkt.
- Zum Vergleich: China 20%, Taiwan 7,4%, USA 8,5%, Großbritannien 30%
- Im November behauptete der Gouverneur der Bank von Korea, daß die ungedeckten kurzfristigen Kredite nur 20 Mrd $ betrügen, während private Analysten die Zahl bei bis zu 80 Mrd $ ansetzten. Er behauptete, die Devisenreserven betrügen 31 Mrd $, doch in Wirklichkeit verfügte Korea nur über 6 Mrd $ und die gesamte Summe wurde kurzfristig benötigt, was bedeutet, daß das Land als solches bankrott war: Seoul brauchte seine Reserven mit einer Geschwindigkeit mit 2 Mrd $ pro Tag auf, um Banken zu helfen, die Bargeld benötigten. Zu diesem Zeitpunkt war der Kurs des Won von 800 auf 1000 pro Dollar gesunken.
- Chaebôls sind südkoreanische Unternehmensgruppen und Großkonglomerate. Ursprünglich bezeichnet der Begriff eine Art Wirtschaftsaristokratie, heute auch Unternehmen, die Tochterunternehmen gründen und großen Einfluß auf Banken und andere Unternehmen ausüben. Nach: Köllner, Patrick (Hrsg.): Korea 1998. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Institut für Asienkunde Hamburg.
- Mit der zunehmenden Integration Chinas in den Weltmarkt gewinnt es für die alten Industriestaaten und die Hegemonialmacht USA seit den 90er Jahren an Bedeutung - nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der geschwächten Position Japans. Wichtiges Motiv der amerikanischen Politik ist es mittlerweile, Chinas Position im Weltmarkt zu formen und zu kanalisieren, um dadurch das Entstehen eines »zweiten Japans« zu blockieren. Dazu fordert Washington vor Chinas WTO-Beitritt tiefgreifende Reformen.
Der Text ist eine stark gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung aus der britischen Zeitschrift New left review, Nr. 231, sept./oct. 1998. Übersetzung: Christian Neven-du Mont. Erschienen in: iz3w 235, Freiburg 1999.
Thailand: Aufstand der Muslime
Thailands Süden kommt nicht zur Ruhe
Nur wenig entfernt von den Ferieninseln in Südthailand hat sich eine islamisch-malaiische Parallelwelt zum Rest des Landes herausgebildet. Mit Anschlägen versuchen die Separatisten die Loslösung von der Bangkoker Zentralregierung zu erreichen. Verbindungen zum Al Quaida-Netzwerk werden nicht ausgeschlossen. Doch der Konflikt beruht auch auf einer langen Geschichte der Diskriminierung.
von Roland Platz
Nach relativer Ruhe dreht sich seit Januar 2004 im Süden Thailands wieder die Spirale der Gewalt. Alles fing mit dem Überfall auf einen Armeestützpunkt in der Provinz Narathiwat an. Der Staat reagierte schnell: In den drei südlichen Provinzen Narathiwat, Yala und Patani wurde das Kriegsrecht ausgerufen. Der vorläufige Höhepunkt der Gewalt war Ende April. Beim Überfall hunderter, zumeist jugendlicher Angreifer auf elf Polizeiposten wurden mindestens 112 Menschen getötet. 107 der Opfer gehörten zu den Rebellen, allein 32 starben in einer Moschee in Patani, in der sie sich verschanzt hatten. Ein großer Teil der in Schwarz gekleideten Kämpfer hielt Macheten in den Händen. Sie sollen gerufen haben »Wir sterben für Allah«.
Dennoch sprechen Premierminister Thaksin wie auch Armeechef Chaisit (ein Cousin Thaksins) von »Banditen« und »Drogenabhängigen«, welche die Überfälle begingen. Man habe die Lage im Griff, die Armee sei bestens vorbereitet. Laut Thaksin gibt es weder religiöse Spannungen noch ein Separatismusproblem. Immerhin hat er die Familien der von der Thai-Armee getöteten Opfer der Moschee besucht - ein Zeichen des guten Willens, um weiterer Eskalation vorzubeugen. Der Jahrhunderte alten Moschee kommt eine besondere religiöse Bedeutung zu. Die zahlreichen Toten durch zentralstaatliche Gewalt an einem heiligen Ort bewirken vermutlich genau das, was die Besetzer bezwecken wollten: ein weiteres Anheizen der Konflikte.
Werte aus Bangkok...
Noch bis vor kurzem schien es nicht mehr als 200 Untergrundkämpfer zu geben, die einen eigenen Staat im Süden Thailands fordern. Ein Teil von ihnen sind ehemalige Afghanistan-Kämpfer, die nach ihrer Rückkehr nach Südostasien lokale Kampfverbände aufgebaut haben. Wie stark die Bevölkerung Südthailands die Separatisten unterstützt, ist schwer zu beurteilen. Terror und Gewalt dürfte die Mehrheit ablehnen, das Misstrauen gegen den Thai-Staat hat jedoch eine lange Tradition. Die buddhistischen Tempel sind heute durch Moscheen ersetzt, die meisten Frauen tragen ein Kopftuch. In den Unruheprovinzen Yala, Narathiwat und Patani sind drei Viertel der Bevölkerung sunnitische Moslems, insgesamt etwa drei Millionen Menschen. Von diesen sind die überwiegende Mehrheit ethnische Malaien, die ihre eigene Sprache sprechen. Nur ein kleinerer Teil sind ethnische Thais.
Die schon seit Jahrhunderten durch den Islam geprägte Region an der Südspitze Thailands gehörte bis zum 16. Jahrhundert zu den nördlichen Bundesstaaten des heutigen Malaysia. Als das damalige Siam von Bangkok aus seine zentralstaatliche Kontrolle auch auf den Süden ausweitete, intensivierte sich der Widerstand gegen die Thai-Machthaber. Denn ein zentrales Anliegen der Regierung in Bangkok war es stets, Sprache und Kultur der Thais auch im Süden zu verbreiten. Heute propagieren Radio- und Fernsehstationen oder staatliche Schulen die Werte der Bangkoker Zentrale. Nahezu 90 Prozent der heutigen Bevölkerung Thailands bekennen sich zum Buddhismus, der traditionell in enger Beziehung zum Königshaus als Bewahrer des buddhistischen Glaubens steht.
Unter den diversen Militärdiktatoren in Thailand, etwa unter Feldmarschall Phibun während der 1940er und 50er Jahre, wurden die malaiische Sprache und die traditionelle Kleidung verboten und islamische Schulen geschlossen. Entsprechend erreichte der bewaffnete Widerstand seinen Höhepunkt. Ende der 40er Jahre gab es tausende Tote in der malaiischen Bevölkerung Südthailands. Nach diversen Vorläufern erfolgte 1968 die Gründung der Patani United Liberation Front (PULO), die auch heute noch die größte Rolle spielt. Seit 1995 gibt es die New PULO, eine Abspaltung der PULO, und weitere Gruppen wie die Bersatu Barisan Mujahidin Patani (BBMP). In der Epoche wieder zunehmender politischer Liberalisierung seit den 80er Jahren versuchte der Staat, deeskalierend zu wirken, indem er viele Infrastrukturprojekte initiierte und sogar ein islamisches Familienrecht einführte. Anfang der 90er Jahre gewährte die Regierung ein Rehabilitationsprogramm, das die noch aktiven Kämpfer zur Aufgabe bringen sollte. Tatsächlich nahmen 900 Mitglieder verschiedener Gruppierungen das Angebot an. Wohl auch deshalb sind Anschläge und Überfälle zunächst zurückgegangen. Ende der 90er lebten die gewaltsamen Aktionen jedoch wieder auf, weil die übrigen Kämpfer glaubten, ihre Forderungen nach weitgehender Autonomie oder gar Sezession nur mit Waffengewalt durchsetzen zu können. Ziele der Rebellen sind bevorzugt Repräsentanten des thai-buddhistischen Staates. Staatliche Schulen werden seit Jahren immer wieder niedergebrannt, weil sie als Symbole des Thai-Systems gelten. Doch selbst buddhistische Mönche oder einfache Zivilangestellte der Eisenbahn oder der Forstbehörde wurden angegriffen, gleich ob sie Moslems oder Buddhisten waren. Mittels des daraus resultierenden Klimas der Angst soll jede Zusammenarbeit mit den Behörden verhindert werden.
... und Geld aus Saudi-Arabien
Die Vertreter des Staates im Süden Thailands, also Lehrer, Soldaten, Polizisten oder Verwaltungsbeamte, sind bis heute fast ausnahmslos Thai-Buddhisten. Deshalb gelten sie in den Augen vieler Moslems als Kolonisatoren. Die malaiisch-muslimische Bevölkerung lebt bevorzugt als Fischer, Bauern oder Kautschukpflanzer auf dem Land, während die urbane Bevölkerung Südthailands bereits zu einem Großteil aus ethnischen Thais und Chinesen besteht. Die Moslems auf dem Lande sind ökonomisch klar benachteiligt. Laut National Economic and Social Development Board lebten im Jahr 2001 fast die Hälfte der Einwohner der Provinz Narathiwat unterhalb der Armutsgrenze, die bei etwa 20 Euro pro Kopf im Monat liegt. Nicht wenige junge Männer gehen daher als Arbeitsmigranten in die Golfstaaten. Viele Familien schicken ihre Söhne zur Ausbildung in islamische Staaten wie Pakistan, Saudi-Arabien oder Malaysia, die Stipendien gewähren. Das provoziert den Vorwurf staatlicher Stellen, dort würde ihnen auch eine terroristische Ausbildung zu Teil. Zum Gefühl der Diskriminierung kommen kulturell-religiöse Missverständnisse hinzu.
So wandten sich moslemische Führer im Süden gegen die vom Staat gewährten Dorfkredite, weil die von den Kreditnehmern zu zahlenden Zinsen »unislamisch« seien. Starke moslemische Ressentiments gibt es auch dagegen, dass die bisher unter der Hand betriebene Lotterie vom Staat für legal erklärt wurde und die daraus resultierenden Steuereinnahmen nun unter anderem für soziale Projekte verwendet werden. Die meisten bewaffneten Gruppen wollen einen eigenständigen islamischen Staat zur Wahrung der islamisch-malaiischen Identität. Die PULO vertritt dabei eher einen säkularen Nationalismus. Geldmittel für die Untergrundbewegungen fließen vor allem aus Libyen und anderen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien. Aus diesem Grund sind die Moslems Südthailands zunehmend vom fundamentalistischen Wahabismus aus Saudi Arabien geprägt, während der Islam Südostasiens bis auf Ausnahmen eher moderate Züge trägt. Als Rechtsgrundlage des neuzuschaffenden islamischen Staates soll die Scharia eingeführt werden. Nicht immer ist bei den Anschlägen ein politischer Hintergrund gegeben. Einige Banden sind an Drogen- und Waffenschmuggel beteiligt, Querverbindungen zwischen politischen Gruppierungen und Banditen sind nicht selten.
Bis 1998 fanden aber auch die politischen Kämpfer Unterschlupf und Unterstützung in Malaysia. Insbesondere die im Bundesstaat Kelantan in Malaysia regierende Panmalaysische Islamische Partei (PAS) wird verdächtigt, die Separatisten in Südthailand zu unterstützen. Erst nachdem Bangkok drohte, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Malaysia aufzukündigen, kooperierte der damalige malaysische Präsident Mahathir mit den Thai-Behörden. So konnte etwa der militärische Führer der PULO, Haji Sama-ae Thanam, 1998 in Malaysia verhaftet werden.
Bis dato offen bleibt die Frage, wer für die aktuelle Eskalation der Gewalt verantwortlich ist. Gibt es tatsächlich eine Verbindung der Rebellen zur indonesischen Jemaah Islamiyah oder zur malaysischen Kampulan Mujahidin Malaysia, die beide mit dem Al Quaida-Netzwerk in Beziehung stehen sollen? Wer auch immer dahintersteht: Das Ziel der Anschläge hat sich verändert, denn Terror gegen die Zivilbevölkerung stand bisher nicht auf der Agenda der Separatisten. Zachary Abuza, Politikprofessor in Boston und mit dem militanten Islam in Südostasien befasst, ist davon überzeugt, dass sich Mitglieder der Jemaah Islamiyah in Südthailand aufhalten. Südthailand gehöre in den Vorstellungen der Jemaah Islamiyah zu den Gebieten, die zukünftig zusammen mit Malaysia, Indonesien und den Südphilippinen einen islamischen Staat bilden sollen. Zunehmend in den Blickpunkt der thailändischen Behörden sind auch die pondok oder ponoh genannten privaten islamischen Schulen geraten. Dort vermutet man die Rädelsführer der aktuellen Anschläge.
Ein gewaltiger Premierminister
Entscheidend für die weitere Entwicklung ist auch, welche Strategie Premierminister Thaksin verfolgen wird. Einerseits will er mit harter Hand durchgreifen und leugnet die politische Dimension des Konflikts, andererseits will er ein großes wirtschaftliches Aufschwungprogramm im Süden starten und die Korruption bekämpfen, um auf diesem Weg die Menschen für sich zu gewinnen. Während seiner Amtszeit seit Januar 2001 schreckte er aber nicht vor dem exzessiven Einsatz von Gewalt für seine Antidrogenpolitik zurück, auch wenn diese über 2.000 Menschen das Leben kostete und Menschenrechtsorganisationen Alarm schlugen. Regimegegner werden eingeschüchtert, kritische Zeitungen bekommen keine Werbekunden mehr und Gegner im Parlament werden mit Gerichtsverfahren überzogen. Auch die Wirtschaftsmacht des Thaksin-Klans wächst zunehmend. Als Besitzer eines milliardenschweren Telekommunikationsimperiums, der Shin Corporation, ist Thaksin auch auf dem Immobilienmarkt aktiv. Trotz der liberalen Verfassung von 1997 war in den letzten Jahren kein thailändischer Staatschef so mächtig wie Thaksin.
Doch wenn der Premier jetzt nicht auf die moslemische Bevölkerung zugeht und sich auf rechtsstaatliche Grundsätze besinnt, steht zu befürchten, dass die Separatisten weiterhin Zulauf bekommen. Das Problem der Regierung mit der malaiischen Minderheit ist nur zu lösen, wenn man ihr ein ausreichendes Maß an kultureller Autonomie zugesteht, die Armut bekämpft und das Bildungsangebot verbessert, um so dem Gefühl der Minderwertigkeit entgegenzusteuern.
Roland Platz ist Ethnologe und freier Publizist in Freiburg. Erschienen in iz3w 278, Freiburg 2004.
Tibet: Eine Galerie voller Fiktionen
Zeugnisse der westlichen Traumbilder von Tibet
von Martina Backes
Der Held des Hollywood-Streifens Sieben Jahre in Tibet, ein ehemaliger NS-Bösewicht, ist am Ende »erfüllt von der tiefen und mächtigen Gegenwart des Lebens«. Die spürt er immer dann, wenn der Dalai Lama in seiner Nähe ist. Das denkbar Schlimmste des Bösen (ein Nationalsozialist) wird im idyllisch verfilmten Tibet zum Guten geläutert - zum erleuchteten Superman. Nichts und niemand, so die Botschaft, kann sich dem positiven spirituellen Fluidum Tibets entziehen. Die Kritiker des Films bissen vor allem auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Hauptfigur an und lieferten der heiklen Frage nach der Verbindungen der Nazis zu Tibet neuen Zündstoff. Der in dem Film - wie in unzähligen anderen Inszenierungen - bemühte Mythos einer geheimen, reinigenden Macht, die Tibet innewohne und in pazifistischer Erleuchtung daherkomme, blieb hingegen völlig unreflektiert. Dabei ist gerade dieser nahezu okkultisch-spirituelle Glaube an höchste Werte und reinste Kräfte ein Element, auf das die angebliche Nähe der Nazis zu Tibet und die Legende über eine tibetische Abstammung der Arier - die Ariosophie - gründen. Warum also macht dieser Mythos nicht skeptisch?
Das Buch Traumwelt Tibet - Westliche Trugbilder geht den Fantasien und Mythen, die sich die westliche Welt im Laufe vieler Jahrhunderte rund um Tibet gebaut hat, gerade auch in Bezug auf nationalsozialistische Strömungen ordentlich auf den Grund. Es legt anhand hervorragend recherchierter Details über die Entstehung von Tibet-Fiktionen in Filmen, Romanen und Comics, aber auch in frühen Reise- und Forschungsberichten die jeweils zeiteigenen Sehnsüchte von Pilgern, Theosophen und Wissenschaftlern offen. Die LeserInnen erfahren Unglaubliches über eine lange Tradition des fast durchweg positiv rassistischen Tibetbildes des Westens, das noch heute faschistische Ideologien nährt: Frühe Formen eines religiösen Rassismus und die theosophische Rassenlehre werden als Vorboten nationalsozialistischer Tibet-Fantasien offenkundig und zugleich die Verbindungslinien der Nazis zu Tibet entschleiert. Dabei ist der Einblick in die Wirkungsmacht ideologischer Mythen das eigentlich Erschreckende.
Die sakralen Tibet-Vorstellungen sind heute keineswegs mehr nur wenigen privilegierten Pilgern oder Ethnografen vorbehalten: Durch die Kommerzialisierung Tibets hat die gesamte Gesellschaft des Westens Anteil an den Versprechungen ihrer selbstgezimmerten Fiktionen. Tibetische Weisheit und Reinheit, spirituelle Kräfte oder ganz einfach der Glaube an emotionale Intelligenz und eine gefühlsbetonte Gelehrtheit jenseits des Rationalen sind als beliebte Stilmittel in allen möglichen kulturindustriellen Produkten eingeschrieben - in Filmen und Comics, in Romanen und New-Age Bewegung, esoterischen Produkten, touristischen Angeboten oder in der Auto- und Computerwerbung. Ganz offensichtlich ist diese Symbolik äußerst attraktiv, sonst könnten Apple Computer und Automobilhersteller nicht mit buddhistischen Lamas für die Perfektion ihrer Produkte werben. Die akkumulierten Traum- und Zerrbilder sind heute allerorts konsumierbar geworden, mehrjährige Tibetaufenthalte und Askese nicht mehr nötig. Der Kauf bestimmter Waren verspricht den Erwerb des entsprechenden Images.
Martin Brauen beabsichtigt keineswegs, den Mythen das ›wahre‹ Tibet entgegenzuhalten. Vielmehr enträtselt er anhand einer beeindruckenden Vielfalt ganz unterschiedlicher Objekte - meist kultureller Produkte und darin eingeschriebener Überzeugungen - abstruse, zuweilen gefährliche Fiktionen. Er zeigt, woher die Zerrbilder kommen und wie tief sie in der westlichen Vorstellung verankert sind. Auf Tibet wurde seit jeher die imaginierte Vollkommenheit der eigenen Gesellschaft projiziert, sei es im religiösen Rassismus eines auf dem Dach der Welt vermuteten makellosen Christentums zur frühen Pilgerzeit oder der theosophischen Geheimlehre (gemeint ist die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie) als Quelle arischer Ursprungsmythen.
Mit dem Aufkommen gesellschaftskritischer Stimmen als Folge der Verunsicherung durch die industrielle Revolution und der Infragestellung religiöser und moralischer Werte durch einen sich ausweitenden Wissenschaftsrationalismus galt Tibet als der Ort des Anderen - also all jener Fähigkeiten, die der eigenen Gesellschaft offensichtlich abhanden gekommen waren. An der Glorifizierung hatte sich damit allerdings nichts geändert - Tibet wurde immer neu als Gegenwelt zum Diesseits stilisiert. Auch für politische Visionen jeglicher Couleur musste Tibet herhalten. Was dort seit 1949 vor sich ging, war für viele symbolisch für das Schicksal der ganzen Welt: Es spielte sich ein »Kampf zwischen Mensch und Maschine, geistiger Freiheit und materieller Macht, der Weisheit des Herzens und dem intellektuellen Wissen des Hirns, zwischen der Würde des Individuums und dem Herdeninstinkt der Masse...« ab. Wie und wieso diese Pazifismusmythen funktionieren, ist das eigentlich Spannende: So behandelt das Buch, inwieweit hier subtil die David-Goliath Metapher - das kleine aber gerechte Tibet gegen das herrschende Böse - als religiöses Erklärungsmuster und Hoffnungsträger psychologisch und ideologisch wirkt.
Am Ende ist offensichtlich: Ob Pilger, Ethnografen oder Theosophen, Autofahrer oder Computerhersteller, sie alle beziehen sich bei der Schaffung der Symbolik Tibets auf Deutungen und Muster, die ihren eigenen Begierden und Bedürfnissen entlehnt sind. Dass Tibet früher als nicht kolonisiert galt und ein dort evolutionistisches und hierarchisches Weltbild erkenntnisleitend war, hat vermutlich zur Bildung positiver Vorurteile, Überhöhungen und Rassefantasien beigetragen. Die Auswirkungen dieser positivrassistischen Wahrnehmung und der Ent-Ortung Tibets in die Welt westlicher Fiktionen und Waren macht eine Kritik an den tatsächlichen Verhältnissen im Land so schwierig. Auch oder gerade weil die gedachten Tibetbilder mit dem geografischen Tibet nichts zu tun haben, sind sie der politischen Sache Tibets hinderlich und nähren die Idealisierung des vergangenen Tibet immer wieder aufs Neue. Wenn es stimmt, dass erst die Einsicht ins fiktionale Tibet als gleichsam ideologisierten Begriffsraum den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse frei macht, dann trägt Traumwelt Tibet dazu wesentlich bei.