Lateinamerika
Argentinien: Militante Untersuchung
Ein Buch über Krise und Widerstand in Argentinien
von Olaf Berg & Helen Schwenken
Die Übersetzung des in Argentinien 2001 erschienenen Buches des Colectivo Situaciones ist die erste auf Deutsch erschienene Veröffentlichung zu den Aufständen in dem südamerikanischen Land. Sich auf die Spurensuche nach neuen Formen emanzipativer Politik in Argentinien zu begeben ist das Anliegen der AutorInnen. Die Methode ist die der investigación militante, d.h., sie versuchen mit den ProtagonistInnen Reflexionen zu organisieren und festzuhalten, ohne vorschnelle Diagnosen zu stellen. Die Nachzeichnung neueren Überlebens- und Widerstandsverhaltens, das am 19./20. Dezember 2001 kulminierte und zum Ausgangspunkt neuer Praxen wurde, ist in den empirischen Teilen spannend nachzulesen. Beiträge gibt es zur Piquetero-Erwerbslosenbewegung, Stadtteilversammlungen, Plünderungen sowie besetzten Betrieben. Leider bleiben die theoretischen Teile allzu häufig formelhaft und widersprechen z.T. ihren eigenen Ansprüchen.
Exemplarisch sei auf die Kapitel zu den Piqueteros verwiesen. Die argentinischen Medien schufen ein Stereotyp der Piqueteros als Arbeitslose, Ausgeschlossene und Opfer. Legitime Ziele seien, wieder in Lohn und Brot zu kommen und in die Nation inkludiert zu werden. Das Colectivo Situaciones hingegen zeigt, wie sehr diese Interpretation von dem Interesse geprägt ist, jeglichen Widerstand in kapitalistisch-verwertbaren Dimensionen kanalisiert zu denken. Sie interessieren sich weniger für die gewerkschaftlich oder klassenkämpferisch-traditionalistischen Strömungen, denen es v.a. um den Einschluss der Ausgeschlossenen und die Eroberung der Staatsmacht geht, sondern mehr für weniger durchstrukturierte Organisationen, die gesellschaftliche Alternativen mitzudenken versuchen. Sie analysieren scharfsinnig Fallen politischer Repräsentation, zu denen sich auch emanzipatorische Piquetero-Gruppen verhalten müssen. Die Vielfalt in den Kämpfen werde nicht als Chance, sondern Kräftezersplitterung wahrgenommen. Da traditionelle, machtorientierte Strömungen immer wieder eine Einheit anstrebten, versuchten sie die Basis zu disziplinieren, ihr die Radikalität zu nehmen und FührerInnen zu etablieren, die für die Bewegung sprechen. Folge sei, dass die Aktionen berechenbar würden. Der für die RepräsentantInnen zählende Raum ist nicht länger der lokale, sondern jener der politischen Macht. Sie können aufgrund der monopolisierten Kenntnis dieses Raumes der Basis vermeintliche Notwendigkeiten aufnötigen. Vollversammlungen verlieren ihre kollektive Funktion und werden zum Ort der Legitimation für die RepräsentantInnen. Wenn der Prozess so weit fortgeschritten sei, öffneten sich zwar Türen zu Verhandlungen, das Ergebnis könne aber kein anderes als das des Integrationsangebots für die Ausgeschlossenen sein. Sie zeigen eine Dynamik auf, mit der soziale Bewegungen allenortens konfrontiert sind. Ihre These demgegenüber ist, dass Teile der Piqueteros die Existenz als Ausgeschlossene überschritten und – ähnlich den Zapatistas – eine »Würde der Rebellion« lebten (87). Sie kämpften gegen die entfremdete Arbeitsgesellschaft, Individualismus und Konkurrenz. Allerdings sei diese libertäre Praxis nicht gefestigt, da »sie sich nicht von einem Ort der Macht aus entwickelt« (94). Die Betonung der Fragilität ist zum einen wichtig um die Piquetero-Bewegung nicht zum neuen unfehlbaren revolutionären Subjekt zu erheben, andererseits ist der Machtbegriff wieder auf staatliche Macht beschränkt. Bei der Analyse der Piquetero-Bewegung gehen sie leider nicht auf das Geschlechterverhältnis ein, obwohl es im Sinne der AutorInnen Neues gäbe: Nicht nur sind 80 Prozent der Piqueteros Frauen, auch gibt es z.T. spannende Ansätze einer Selbstreflexion über das Geschlechterverhältnis innerhalb der Bewegung und Versuche, es nachhaltig zu verändern.
Während die empirische Seite der Texte kenntnisreich und erhellend ist, fällt demgegenüber der theoretische Teil ab. Vor allem das Colectivo Situaciones erweckt den Eindruck, Versatzstücke gerade hipper Theorien, wie die Negri/Hardts, Foucaults, Debords, zusammengewürfelt zu haben. Heraus kommen wortgewaltige Sätze, welche die Inkonsistenz des Gedankengangs nur mühsam verschleiern. An Begriffen wie Subjekt, Repräsentation, Gesellschaftsstruktur und Fortschritt lässt sich sicherlich Vieles zu Recht kritisieren. Situaciones wenden sich gegen universale Kategorien, beziehen sich aber zugleich auf »die Probleme einer Epoche, d.h. bestimmte für alle existierende Hindernisse« (189), als ob diese natürlich gegeben wären. Sie ersetzen Subjektivität durch Protagonismus, Struktur durch Situation, Zusammenhang durch Resonanz diffuser Netze und meinen damit dem Problem zu entkommen, dass jede begriffliche Bestimmung ihren Gegenstand erst schafft und damit ein Vorgang der Einschließung und Ausgrenzung ist.
Immer wieder scheint im theoretischen Ansatz der Situaciones eine Gegenüberstellung zwischen dem »konkret Universellem« der Situation und der Abstraktion der kapitalistischen »politischen Subjektivität« auf. Was sich da an verkürztem Antikapitalismus anbahnt, offenbart sich in der Analyse der Tauschmärkte.Die Tauschmärkte, deren Anfänge in Argentinien acht Jahre zurückliegen, haben nach dem 19./20. Dezember einen enormen Zulauf verzeichnet und im Jahre 2002 bis zu sechs Millionen regelmäßige NutzerInnen gehabt. Diese explosionsartige Ausdehnung hat mittlerweile zu einer Krise und zur Auflösung vieler Tauschmärkte geführt. Produkte, Dienstleistungen und Wissen werden teils direkt, überwiegend aber über ein »creditos« genanntes selbstgedrucktes Geld ausgetauscht, das überregional gültig ist. Ein zentraler Gedanke der Tauschmärkte ist es, »die ›Arbeitenden‹ (die Subjekte) erneut mit ihren ›Erzeugnissen‹ (den Objekten) zusammenzubringen... Darum zielt die erneute Verknüpfung zwischen Produktion und Verbrauch darauf ab, ein Regulierungskriterium zu etablieren, das der Abstraktionskraft des allgemeinen Äquivalents (des Geldes) widersteht« um so »mit der Vorherrschaft der vom Markt auferlegten genormten Verteilung zu brechen« (155). Vergessen scheint dabei, dass die Ausbeutung nicht in der Zirkulation, sondern in der Produktionssphäre stattfindet, indem der Käufer von Arbeitskraft sich den von dieser produzierten Mehrwert aneignet und dass der Tauschakt als solcher die Abstraktion hervorbringt (was sonst macht beispielsweise eine Banane mit einem Haarschnitt vergleichbar?) und nicht das daraus entstehende allgemeine Äquivalent Geld.
Die folgenschwere Verkürzung der Kritik am Kapitalismus auf die Zirkulationssphäre setzt sich im Artikel von Stefan Thimmel fort. Kenntnisreich und durchaus kritisch stellt er die Entwicklung und Krise der Tauschmärkte dar, begrifflich bleibt er unklar.
Die Knotenpunkte im Netz der Tauschmärkte »verstehen sich nicht als reiner Markt, sondern auch als Austauschplatz von Gütern, Produkten und Kenntnissen. Dahinter steckt die Idee eines ,gerechten Marktes', solidarisch und in beiderseitigem Interesse« (161), heißt es da und mensch fragt sich, was ein »reiner Markt« wohl anderes ist als jener Austauschplatz. Was den »gerechten Markt« gegenüber dem »reinen« auszeichnet, erhellt Thimmels Analyse des Niedergangs der Tauschmärkte: »Das Marktsystem von Angebot und Nachfrage wurde mit zunehmender Größe durch den Einfluss des kapitalistischen Marktes korrumpiert. So wurde z.B. Importzucker im Supermarkt gekauft und gegen Waren oder eben Créditos eingetauscht.« (165) Die Ausbeutung der ehrlichen Produzenten erscheint als ein Problem der Zirkulationssphäre, wo Spekulanten sich unlauter bereichern. Für die Marktgerechtigkeit ist es jedoch egal, ob die Ware vom Verkäufer selbst produziert wurde oder nur weiterverkauft wird. Nicht ungerechter Handel tritt hier zu Tage, sondern die produktive Schwäche der am Tauschmarkt Beteiligten. Ein Problem der Produktivität, vor dem in ähnlicher Weise auch die »instandbesetzten« Fabriken stehen, wie in dem erfreulich klaren und kritischen Beitrag von Alix Arnold geschildert.
Wer die Kritik am Kapitalismus auf die Zirkulationssphäre beschränkt, begibt sich in gefährliche Nähe zu strukturell antisemitischen und faschistischen Ansätzen, wie der Geldkritik von Silvio Gesell. Von ihm stammt die Idee des »rostenden Geldes«, das die Geldakkumulation und damit die Spekulation verhindern soll. Im Angesicht der Krise des Tauschmarktsystems wurde versucht, diese Idee in die Tat umzusetzen, wie Thimmel zu berichten weiß. Seine einzige Kritik daran ist die schlechte Vermittlung des Experiments. »Für die meisten Tauschwilligen war der Crédito ein Geld wie unzählige andere Zahlungsmittel auch... Niemand wollte einsehen, dass auch das ›Geld‹ des Trueque an Wert verliert. Die Menschen fühlten sich betrogen« (167), was von einem erfreulichem Maß an Rationalität zeugt, möchte mensch hinzufügen.
Die ausführliche Chronologie der Ereignisse in Argentinien von den 1970er Jahren bis heute am Ende des Buches liest sich als Erfolgs- und Gründungsgeschichte emanzipativer (Basis-) Bewegungen, obwohl im theoretischen Teil richtigerweise die Relevanz des Lernens aus Niederlagen (199) hervorgehoben wird. Eine Reihe problematischer Seiten der Linken werden von den AutorInnen weitgehend ausgeblendet, vom Herausgeber Ulrich Brand in der informativen und einordnenden Einleitung jedoch benannt, so etwa das widersprüchliche Erbe des Peronismus. Dieses macht es nötig, sich von korporativen und korrupten Verhältnissen zwischen Gewerkschaftsbürokratie und Staat zu verabschieden und auch dem argentinischen Nationalismus und Patriotismus weitaus skeptischer und kritischer zu begegnen als es im Buch geschieht. Das Buch ist somit als streitbare Aufforderung zu verstehen, die Ereignisse in Argentinien nicht nur von einer widerständischen Perspektive her zu begrüßen, sondern in die Diskussion um ihre gesellschaftstheoretische Interpretation einzusteigen.
Colectivo Situaciones: !Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. (Hrsg) Ulrich Brand, Übersetzung: Stefan Armborst, Verlag Assoziation A, Berlin, Hamburg, Göttingen, März 2003, 224 S., € 14,-
Aus: ila 264. www.ila-web.de
Argentinien: »Politik mit Straßensperren und Kochtöpfen«
Soziale Bewegung in Argentinien
Für BeobachterInnen der Entwicklung in Argentinien war die Eskalation der politischen und wirtschaftlichen Krise im Dezember letzten Jahres keine große Überraschung. Die Vehemenz der Proteste gegen die staatliche Politik erstaunte indes selbst die AktivistInnen vor Ort. Voraussetzungslos waren sie aber nicht, wie Verónica Gago und Diego Stzulwark vom »Colectivo Situaciones« betonen. Denn trotz Militärdiktatur und Neoliberalismus gibt es auch in Argentinien eine lange Geschichte des sozialen Widerstandes.
Das Colectivo Situaciones in Buenos Aires ist ein Zusammenschluss von AktivistInnen mit akademischem Hintergrund, die in sozialen Bewegungen arbeiten und über sie forschen. Sie bezeichnen sich selbst als »investigadores militantes«. Das Kollektiv gibt mehrere Zeitschriften heraus (u.a. »situaciones«) und spielt in der radikalen Linken Argentiniens eine immer größere Rolle. Im Februar sprachen Bettina Köhler und Ulrich Brand in Buenos Aires mit V. Gago und D. Stzulwark.
FernWeh: Wie habt ihr die großen Protestaktionen vom 19. und 20. Dezember 2001 erlebt?
Diego Stzulwark: Als wir in den Zeitungen lasen, dass die Regierung den Ausnahmezustand erklären will und das Militär auf die Straße geht, war uns klar, dass das Repression bedeutet, insbesondere gegen die politischen AktivistInnen. Wir dachten, es würde sich der Militärputsch vom März 1976 wiederholen. Wir waren unglaublich deprimiert. Auf einmal hörten wir dann, dass Kochtöpfe geschlagen wurden. Einige Wochen vorher gab es einige schwache Versuche dazu. Aber jetzt fingen alle an. Wir telefonierten mit unseren Freunden und die sagten, dass das überall passierte. Wir gingen auf die Straße und waren total überrascht: Straßensperren, Barrikaden mit Feuer und die öffentlichen Plätze waren besetzt. Hunderttausende von Menschen befanden sich auf der Straße. Der Wirtschaftsminister trat zurück und die Regierung meinte, damit würden die Proteste aufhören. Aber die Leute demonstrierten bis vier, fünf Uhr morgens.
Am nächsten Tag ging die Repression los. Im Stadtzentrum gab es einen wahren Bürgerkrieg. Immer mehr Menschen stießen vor, die Polizei drängte sie sehr gewaltsam zurück. Offiziell gab es insgesamt etwa 30 Tote.
FW: Welche Vorgeschichte hat diese scheinbare soziale Explosion?
DS: Es erschien alles wie eine Explosion, weil bislang 90 Prozent der ArgentinierInnen – die Mittelklasse oder die Jugendlichen, die in Buenos Aires leben – die Augen davor verschlossen hatten, was wirklich im Land geschah. Das Bild, das die Welt von Argentinien hat, ist jenes, das diese Leute vermittelten. Doch schon lange vorher formierte sich der Widerstand in einem evolutionären Prozess. Zwei Aspekte sind dabei zentral: zum einen die Militärdiktatur von 1976-83 und zum anderen die Regierung Menems von 1990-98. Beides führte zu einer starken ökonomischen, politischen und kulturellen Marginalisierung von immer mehr Menschen.
Am 19. Dezember meldeten sich alle Fragmente der verlorenen Kämpfe der letzten 25 Jahre wieder zu Wort. Als wir am 19. auf die Straße gingen, sangen z.B. einige der älteren Nachbarn anti-britische Lieder, die an den verlorenen Malvinen-Krieg zu Beginn der 80er Jahre erinnern. Das macht in der aktuellen Situation natürlich keinen Sinn, aber das sind Leute, die damals Angehörige verloren und die sich seither nicht mehr politisch geäußert haben. Andere sangen »An die Wand, an die Wand, Politiker!« Denn eine der wichtigsten Parolen der Demokratiebewegung gegen die Militärs hieß »An die Wand, Militärs!« Ein wichtiger Vorläufer der aktuellen Proteste waren natürlich auch die Kämpfe gegen die Privatisierungen, die in den 90er Jahren eine fürchterliche Niederlage erlitten. Außerdem gab es die Mütter von der Plaza de Mayo und vieles mehr.
Es ist also sehr wichtig, zu sehen, dass in Argentinien immer wieder etwas passierte. Seit Mitte der 90er Jahre kam es immer wieder zu spontanen, unorganisierten Aufständen. Es revoltierten vor allem die Ärmsten, die Ausgeschlossenen, nicht die Industriearbeiter, die noch in den 60ern die Kämpfe anführten. 1995/96 entstanden im Binnenland die so genannten »Piquetes«. Das sind vor allem Straßensperrungen an strategischen Punkten wie den Haupthandelsstraßen nach Brasilien und Paraguay. In wenigen Wochen gab es an sehr vielen Orten Piquetes: Die Straße wurde gesperrt, die AnwohnerInnen kamen, es wurden Zelte aufgestellt und Essen gemacht. Dann zwangen die Piqueteros die Politiker, zu ihnen zu kommen. Ihre konkreten Forderungen waren Arbeit, Unterstützung für kleine Unternehmen und deren Angestellte, Unterstützung von Frauen, Nahrung oder Freiheit für die Gefangenen.
FW: Wie reagierte der Staat darauf?
Verónica Gago: Von staatlicher Seite gab es in der Regel Zugeständnisse wie z.B. Beschäftigungspläne. Die Piqueteros setzten eine Dynamik in Gang: Denn als die ersten erfolgreich waren, haben die nächsten angefangen. Nach dem Regierungswechsel 1999 in der Provinz Corrientes wurde dann das erste Piquete mit Gewalt beendet, was zu den ersten beiden Toten führte.
FW: Inwieweit ging diese Entwicklung mit Organisierungsprozessen einher?
DS: Es gab eine erste Welle, Arbeitslosengewerkschaften zu gründen. Da diese aber nicht auf traditionelle Strategien wie Streiks zurückgreifen konnten, entwickelten sie eigene Formen: Straßensperren, Demonstrationen und andere direkte Konfrontationen.
Die Piquetes, die am weitesten im Hinterland lagen, konnten am leichtesten unterdrückt werden. Für die Mittelklasse in Buenos Aires sind jene dort lebenden Menschen ohnehin »Halb-Indios«. Und solange die nicht nach Buenos Aires kommen, haben sie politisch wenig Einfluss, weil hier die wichtigen Wahlbezirke sind. Dennoch sind die Piqueteros sehr kämpferisch. Sie werden zu einer Art Vorbild für die großen Städte. Die Menschen sehen, dass dies eine geeignete Kampfform ist. Solche Kämpfe nehmen seit 1995 kontinuierlich zu. Wir schätzen, dass ihre Zahl sich jedes Jahr ungefähr verdoppelt. Die PolitikerInnen reagieren ratlos: Sie wollen die finanziellen Ausgaben für die Anliegen der Protestierenden erhöhen, können es aber nicht, weil sie beim IWF weiterhin kreditwürdig sein möchten.
Anfangs waren die Piqueteros überhaupt nicht vernetzt. Sie kannten sich nicht einmal. Das änderte sich, als 2001 ein sehr großes Piquete in Mosconi im Nordwesten unterdrückt wurde und es mehrere Tote gab. Da zeigten sich alle Piqueteros im Süden der Stadt Buenos Aires solidarisch.
FW: Was ist das Herausragende an dieser Bewegung der Piqueteros?
DS: Zum einen handelt es sich dabei um die erste radikale Bewegung nach der Diktatur. Sie kämpft für ihre Rechte, ohne vom Terror der Diktatur gezeichnet zu sein. Zum anderen verkörpern die Piquetes einen Kampf für Gerechtigkeit und Würde – in einer Zeit, in der der Staat und die traditionellen Parteien nicht mehr die geeignete Form des Kampfes sind. Die traditionellen marxistischen, revolutionären Ansätze, insbesondere die Orientierung auf die Übernahme staatlicher Macht, werden zur Seite geschoben.
Natürlich gibt es auch innerhalb der Bewegung Differenzen: Die Moderaten glauben noch immer, dass es sich lohnt, sich innerhalb des kapitalistischen Systems zu engagieren. Das birgt die Gefahr, dass die Kategorie »Arbeitsloser« und »Piquetero« von der Politik aufgesogen wird. So hat das Sozialministerium Arbeitspläne für die Arbeitslosen und die Unis forschen über Arbeitslose. Damit könnten alternative Ansätze jedoch unsichtbar gemacht werden.
Insgesamt könnte man die Piquetes mit dem Zapatismus in Mexiko vergleichen. Auch die Zapatistas wollen soziale Verhältnisse umfassend verändern. Das findet zwar lokal statt, aber sie laden die ganze Welt ein, an diesem Suchprozess teilzunehmen.
FW: Viel stärker mit dem Aufstand vom 19. Dezember verbunden sind jedoch die Cacerolazos, die Kochtopfdemos. Stimmt es, dass es sich bei den Piqueteros um eine Bewegung der Unterklasse und bei den Kochtopfdemos und Asambleas (Versammlungen) um eine Bewegung der Mittelklasse handelt?
VG: So interpretieren es die Medien. Das ist aber sehr vereinfacht. Es handelt sich vielmehr um zwei Artikulationsformen einer gemeinsamen Suche, die weniger mit Klassenfragen zu tun haben, als damit, an welchen Orten sie entstehen. Die Asambleas nach dem 19. Dezember haben die langjährigen Erfahrungen der Piqueteros zur Voraussetzung.
DS: Es gibt sehr traditionalistische Piquetes, aber auch sehr neuartige. Ebenso aber auch in der Mittelklasse – es wollen eben nicht alle nur ihre Dollars retten. Spannend ist nun, wie sich die verschiedenen Zusammenhänge verbinden, die nicht nur um die unmittelbare Veränderung ihrer eigenen Situation kämpfen, sondern um eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft.
FW: Wie hat sich der 11. September 2001 in Argentinien ausgewirkt?
VG: Eine wohl sehr verbreitete Stimmung war: Jetzt ist auf die USA das zurückgefallen, was diese seit vielen Jahren in Lateinamerika an interventionistischer und imperialistischer Politik betreiben. Ein Indikator dafür mag der bescheuerte Vergleich zwischen den Toten von Hiroshima und denen der Anschläge sein. Auf Demos wurden in einigen nationalistischen Blöcken Bilder von Bin Laden gezeigt. Bin Laden ist vielen sympathisch, weil es so absurd ist, wie die USA ihn dämonisieren. Das Zentrum des Imperialismus benötigt einen Gegner, den es dämonisieren kann. Insofern wird die Figur Bin Laden dazu benutzt, um gegen die USA zu protestieren.
DS: Jenseits der Tatsache, dass es bei vielen eine mehr oder weniger offene Schadenfreude gab, wirft der 11. September Fragen auf. Zum Beispiel, ob und wie der 11. September das Verhältnis zwischen den sozialen Kämpfen und der Macht verändert. Zu Beginn schien uns das der Fall zu sein. Die Wahrnehmung war: Die Macht kann die Ordnung nicht mehr garantieren. Die Leute sahen, dass es neben dem Imperialismus und dem Kapital noch andere Mächte gibt, die agieren können. Es ging gar nicht darum, den 11. September zu bewerten, sondern lediglich um das Wissen darum, dass Macht immer angreifbar ist.
Zum anderen stiftete der 11. September einige Verwirrung. Denn in den Anschlägen scheinen keine neuen Werte auf. Was heißt es denn, Bomben zu werfen? Es geht doch um die Entwicklung einer neuen Ethik, einer neuen Gesellschaftlichkeit. Dies wird nicht mit den Mitteln der Mächtigen erreicht.
VG: Mit den Ereignissen seit dem 19. Dezember wurde der 11. September jedoch als politischer Bezugspunkt ausgelöscht. Direkt nach den Anschlägen in den USA gab es Befürchtungen darüber, dass nun ganz Lateinamerika militarisiert werden könnte, ähnlich wie mit dem »Plan Colombia«. In allen Versammlungen wurde berichtet, dass es seit letztem Jahr Pläne gebe, in Feuerland und Zentralargentinien Militärbasen der USA einzurichten und dafür auch schon Land gekauft wurde. Argentinien war einst der wichtigste Verbündete der USA in Lateinamerika. Bis zum 19. Dezember war die öffentliche Wahrnehmung die, dass die engen Beziehungen zu den USA Vorteile hätten. Die Mittelklasse konnte nach Miami reisen, Argentinien bekam Unterstützung von den USA usw. Das hat sich nun vollkommen verändert. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist heute gegen jede Art von militärischen Plänen oder jene »Sicherheit«, wie die USA sie versteht. Bei den sonntäglichen Zusammenkünften der Asambleas der Stadt Buenos Aires kann man heute nichts mehr gegen Kuba oder etwas zugunsten der USA sagen. Das deutet an, welche Stimmung herrscht.
Argentinien: Krisen und Kritiken
Geschichte wird gemacht
Argentinien als Beispiel für die Widersprüchlichkeiten der Globalisierung
von Stephan Günther
Nirgendwo vollziehen sich die Prozesse, die unter dem Begriff Globalisierung subsummiert werden, so deutlich wie in Argentinien: Der südamerikanische Staat privatisierte fast seine gesamten Besitztümer, der Internationale Währungsfonds übt größten Einfluss aus und die Welthandelsorganisation WTO mit ihrer Forderung nach freiem Handel rennt offene Türen ein. Die Geschichte Argentiniens zeigt aber auch, dass Globalisierung nicht gleichzusetzen ist mit deregulierter Handels- und Wirtschaftspolitik.
Die Globalisierung entwickelt sich regional zwar höchst unterschiedlich, ruft jedoch ähnliche Reaktionen der nationalen und regionalen Regierungen hervor: Die vielerorts entstandenen »nationalen Wettbewerbsstaaten« treiben als Akteure auf dem Weltmarkt oder als Mitglied der WTO Prozesse der ökonomischen Globalisierung voran, die sie in ihrer Rolle als Rechtsinstitution, Gewaltmonopolist und Sozialstaat wiederum abzufedern bzw. durchzusetzen haben. In mancherlei Hinsicht sind diese Entwicklungen neu: Während der fordistische Wohlfahrtsstaat seine Aufgabe gerade auch in der Organisation eines Sozialsystems sah, wird letzteres heute privatisiert und damit oft abgebaut. Der Rechtsstaat gibt Kompetenzen an internationale Institutionen ab – etwa den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag – oder verwandelt internationale Vereinbarungen in nationales Recht, etwa im Bereich des internationalen Handels mit Waren und Dienstleistungen. Und als Akteur auf ökonomischem Feld reduziert der Staat seine lenkende Funktion (durch den Abbau von Zöllen und Steuern) und übernimmt einen eher passiven Part, indem er zugunsten von multinationalen Konzernen Standortvoraussetzungen schafft, die der internationalen Konkurrenz standhalten sollen.
Doch all diese Entwicklungen haben eine lange Vorgeschichte. Vor einer Analyse »der« Globalisierung Argentiniens wird es hier daher zunächst um die Geschichte der Außenhandelspolitik des Landes gehen. Damit soll deutlich werden, dass Globalisierung und Globalisierungskritik keine neuartigen Phänomene sind: Schon vor 100 Jahren exportierte Argentinien massenweise landwirtschaftliche Produkte nach Europa und in die USA, und schon damals gab es Streit um die Öffnung von Märkten. Außerdem kann gezeigt werden, dass sich in der immer wieder postulierten Dichotomie von Freihandel und Regulation häufig nur Interessenkonflikte um Marktanteile und ähnliches verbergen. Und schließlich verdeutlicht der Blick zurück, dass die aktuellen Krisen nicht mit kurzfristigen Wechselkursschwankungen zu begründen sind, sondern strukturelle Ursachen haben. Schon um das Jahr 1900 war der argentinische Außenhandel stark angestiegen. Vor allem britische und US-amerikanische Unternehmen investierten in die Infrastruktur, ließen Eisenbahn und Häfen ausbauen, setzten aber auch auf den steigenden Konsumgüterbedarf im Land. Zwischen 1913 und 1929 hatte sich der argentinische Außenhandel verdreifacht, Rindfleisch und Weizen wurden exportiert, Autos, Industrie- und Luxusgüter importiert. Der Außenhandelsüberschuss ließ Kapazitäten für den Aufbau einer eigenen Industrie und Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen zu. Argentinien war schon damals ein »globalisiertes Land«, das mit Großbritannien, den USA und Deutschland Handel trieb, in regem Kulturaustausch mit Frankreich stand und Emigranten aus Spanien, Italien, Syrien oder China aufnahm.
Zwischen Europa und Amerika
Der Erste Weltkrieg und zehn Jahre später die Weltwirtschaftskrise ließen den Außenhandel jedoch dramatisch einbrechen. Nicht zuletzt diese Erfahrungen veranlassten Argentinien, sich durch bilaterale Handelsverträge abzusichern und weniger auf den »freien Markt« zu setzen. Am 1. Mai 1933 unterzeichnete eine argentinische Handelsdelegation in London das argentinisch-britische »Roca-Runciman Abkommen«, das das Land verpflichtete, die erwirtschafteten Pfundbeträge ausschließlich für Einfuhren aus England zu verwenden. Im Jahr darauf traf man eine ähnliche Vereinbarung mit Deutschland. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten stiegen die Importe aus Südamerika um 45 Prozent1 – und Argentinien war dabei der wichtigste Handelspartner des Deutschen Reiches. Umgekehrt wurde Deutschland Argentiniens bedeutendster Lieferant von Eisen- und Stahlerzeugnissen. Auch der Import deutscher Motoren und Fahrzeuge stieg stark an.
Das nationalsozialistische Deutschland und das protektionistische Argentinien waren sich in der Ablehnung der »wirtschaftsimperialistischen Ziele« der USA einig. Der »ehrliche Handel« zweier gleicher Partner wurde dem »Spekulantentum« und dem »Imperialismus« entgegengestellt. Der Tauschhandel korrespondierte dabei mit einer Ideologie, die auf der Vorstellung von freien »Volksgemeinschaften« beruhte. Die Einheit zwischen Partei, Industrie, Gewerkschaften, Militär und Volk, wie sie der italienische und der deutsche Faschismus gleichermaßen proklamierte, wurde zur Grundlage des argentinischen Peronismus. Die Interessensgegensätze zwischen Landlosen und Großgrundbesitz, zwischen Arbeiterschaft und Unternehmern wurden ideologisch aufgehoben im gemeinsamen nationalen Kampf gegen den Imperialismus von außen.
Durch massive Verstaatlichungen bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Blüte gelang es Juan Domingo Perón, seine Politik der nationalen Einheit in den 40er Jahren zu etablieren. Staatliche Sozialprogramme, Armenküchen und der Aufbau eines für Lateinamerika einzigartigen Gesundheits- und Rentensystems brachten ihm Sympathien bei den »kleinen Leuten«, ohne dass er in Konfrontation zur Oligarchie treten musste. »Es heißt immer, ich sei ein Feind des Kapitals, aber Sie werden sehen, meine Herren, dass es für die Geschäftsleute keinen besseren Interessenvertreter gibt als mich«, hatte Perón schon 1944 versprochen. »Die Arbeiter brauchen eine Führung des Herzens, damit sie besser arbeiten. Wer Arbeiter unter seinem Kommando hat, muss sie auf diesem Wege erreichen, um sie zu beherrschen.«
Zwar geriet das peronistische Modell schon in den fünfziger Jahren wieder ins Wanken, als die Exporterlöse nachließen, seine Ideologie jedoch hält sich bis heute. Nach wie vor steht der »Mythos Perón« für ökonomische Autonomie, soziale Gerechtigkeit und nationale Einheit. Und nach wie vor beinhaltet er einen Antiimperialismus, der sich vor allem gegen die USA richtet. In diesem Sinne steht der argentinische »Dritte Weg« auch für eine frühe Globalisierungskritik, die in vielerlei Hinsicht der heutigen Kritik gleicht: Der Staat wird als Garant für Stabilität und als Schutz vor dem freien Markt gesehen.
Vor der Krise...
Am Beispiel Argentiniens lassen sich die Zusammenhänge von neoliberaler Globalisierung und nationaler Wirtschaftskrisen aufzeigen, wobei deutlich wird, dass Wirtschaftskrisen immer auch Finanz- und Währungskrisen sind. Dabei war die Schuldenkrise Ausgangspunkt für eine von IWF und Weltbank vorangetriebene Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft, der wirtschaftsliberale Ziele zugrunde liegen. Die Debatte um die Argentinienkrise illustriert aber auch, dass einfache Erklärungsmodelle wie ›Schuld der Finanzmärkte‹ oder ›falsche Währungspolitik‹ nicht ausreichen. Ohne die Geschichte der Verschuldung, ohne die Berücksichtigung der sich verschlechternden »terms of trade« und kurzfristiger Konjunkturflauten etwa nach den Ölkrisen ist die Krise nicht zu verstehen.
Wie so viele Diktaturen der siebziger und achtziger Jahre hinterließen auch die argentinischen Militärs einen gewaltigen Schuldenberg: »Der IWF hat die Generäle in dieser Zeit systematisch unterstützt und beraten – und der argentinischen Zentralbank sogar einen hohen Beamten aus den eigenen Reihen zur Seite gestellt.«2 Der Währungsfonds ist nicht auf seine Rolle eines »Krisenberaters« zu reduzieren, er hat die Anfänge und Ursachen der Krise zumindest begleitet.
Die Verschuldung Argentiniens stieg in den Jahren zwischen 1976 und 1983, vor allem aber in den letzten Jahren der Diktatur während des Falkland-Krieges gegen Großbritannien, enorm an. Die Zinsendienstquote, also der Zinsendienst in Prozent der Exporteinnahmen, stieg von unter 10 Prozent in den 70er Jahren auf knapp 60 Prozent 1983. In dieser Zeit propagierte die Militärjunta zwar eine Liberalisierung der Märkte, tatsächlich sank jedoch der Außenhandel. Die Investitionsquote sank von Jahr zu Jahr, während die Kapitalflucht zunahm. Außerdem führte die Hochzinsphase während der 80er Jahre dazu, dass die Realzinsen oberhalb der Wachstumsrate des Brutto-Inlandsprodukts lagen, was die Schulden steigen und die Investitionen sinken ließ.3
Nach dem Ende der Diktatur, während der 30.000 Menschen umgebracht wurden, stand das Land auch ökonomisch am Abgrund. Hoch verschuldet, vom Weltmarkt abgeschnitten und mit weitgehend zerstörter Infrastruktur (öffentliche Investitionen waren auf ein Minimum reduziert worden, zudem waren Forschungsinstitute und Universitäten vom Militär »gesäubert« worden), blieb der Regierung Raúl Alfonsín nur der Weg, der ihr vom Internationalen Währungsfonds gewiesen wurde. Der hieß »Plan Austral« und begann mit einem Schockprogramm: Radikale Sparmaßnahmen und ein genereller Preisstopp sollten den Staatshaushalt konsolidieren und die Inflation in Grenzen halten.4 Mittelfristig wollte die Regierung durch eine stabile Geldpolitik Investoren ins Land holen und langfristiges Wachstum erzielen.
...ist nach der Krise
Weil die Sparmaßnahmen nicht einmal ausreichten, um die Zinsen der gewaltigen Schuldenlast zu bezahlen, begannen Alfonsín und vor allem sein Nachfolger Carlos Menem mit dem Verkauf staatlicher Besitztümer: Die Fluglinie aerolineas argentinas, die Erdöl- und Erdgasquellen, die Telefongesellschaft, Gebäude, Hafenanlagen, lukrative Bahnlinien – alles, was sich veräußern ließ, wurde privatisiert. Um den ausländischen Investoren Sicherheit zu gewähren, musste die Währung stabilisiert werden. 1991 wurde daher die Peso-Dollar-Parität eingeführt, d.h. der argentinische Staat garantierte einen 1:1-Wechselkurs. Tatsächlich konnte daraufhin der Schuldenberg kurzfristig reduziert werden, Anfang der 90er Jahre betrug das Wirtschaftswachstum zwischen acht und neun Prozent, die Inflation blieb gering. Doch die Sparpolitik hatte ihre Schattenseiten: Durch steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne verarmte nicht nur ein großer Teil der Bevölkerung, der damit verbundene Kaufkraftverlust ließ die ökonomische Abhängigkeit vom Export weiter ansteigen. Mit den Krisen der 90er Jahre (Asien, Mexiko) und der damit einher gehenden weltwirtschaftlichen Flaute sanken auch die argentinischen Exporteinnahmen. Weil inzwischen fast alle staatlichen Besitztümer verkauft worden waren und auch nichts mehr einzusparen war, konnte man den Schuldendienst nicht mehr aufbringen.
Ende der 90er Jahre schließlich war die Schuldenfalle unübersehbar: Der Staat hatte keinerlei Reserven mehr, die Steuer- und Zolleinnahmen sanken und die Aufwendungen für Schulden und Zinsen stiegen. Er musste einerseits den Peso auf Dollar-Niveau halten, andererseits war die Währung für Investoren und Sparer nicht interessant genug. Die multinationalen Konzerne, die ehemalige Staatsbetriebe aufgekauft oder anderweitig investiert hatten, führten ihre Gewinne an die Mutterkonzerne ab – und wechselten daher die erwirtschafteten Peso in US-Dollar um. Die meisten Konsumgüter mussten nach wie vor mit Dollar bezahlt werden; und aus begründeter Furcht vor neuerlicher Inflation legten viele Argentinier auch Dollar-Sparbücher an. Die Zentralbank musste immer mehr und immer neue Dollar-Kredite zu immer schlechteren Konditionen aufnehmen, um die Nachfrage nach der harten Währung zu bedienen.
Am vorläufigen Höhepunkt der Krise angekommen, streitet man sich jetzt in Argentinien, beim IWF und bei der Weltbank über die Verantwortlichkeiten. Und die Debatte im konkreten Fall des südamerikanischen Krisenlandes spiegelt in etwa auch die Diskussionen um die Folgen neoliberaler Globalisierung insgesamt wider: Wer ist verantwortlich für die Schuldenfalle? Sollte Argentinien ein Insolvenzverfahren einleiten? Müssen die Staaten und die Finanzinstitutionen IWF und Weltbank wieder mehr steuern – oder aber haben sie zu viel gelenkt? Benötigt ein Schwellenland, wie es Argentinien lange war, mehr Schutz zum Aufbau einer eigenen Industrie – oder aber müssen im Gegenteil weltweit die Handelsbeschränkungen weiter abgebaut werden?
Es zeigt sich, dass die Protagonisten des Neoliberalismus ihre Konzepte nicht aufeinander abstimmen, dass diese sich zum Teil sogar widersprechen. Der IWF warf den argentinischen Regierungen immer wieder eine zu unentschlossene Sparpolitik vor, drängte auf Privatisierung des Staatsbesitzes und Kürzungen im Sozial- und Rüstungsetat. Umgekehrt steht der Währungsfonds mit eben dieser Politik der Strukturanpassung in der Kritik. Die Schuldenspirale sei mit der Privatisierung von Staatsbetrieben und einem nationalen Sparprogramm nicht in den Griff zu bekommen. Die Fixierung auf eine Sanierung der Staatsfinanzen führe zu Armut und zum Abbremsen des Wirtschaftswachstums, weil Investitionen und Kaufkraft fehlten. In der Welthandelsorganisation drängt Argentinien seit Jahren in der »Cairns-Gruppe« der Agrarexport-Staaten auf eine Liberalisierung der europäischen und US-Märkte. Obwohl das Land durch die hohe Verschuldung zum Export verdammt ist, kann es seine Produkte auf den wichtigsten Märkten nicht adäquat absetzen.
Glorifizierung der Vergangenheit
Die Krise Argentiniens verdeutlicht nicht nur die zahlreichen Widersprüche und Dilemmata in der Debatte um die ökonomische Globalisierung, sondern auch deren Langfristigkeit. Trotzdem werden die Krisenursachen von vielen Kommentatoren allein in den aktuellen politischen Entwicklungen gesucht. »Die gegenwärtige Krise in Argentinien«, schreibt etwa der französische Wirtschaftswissenschaftler Michel Husson, »hat ihren Ausgangspunkt in der Peso-Dollar-Parität.«5 Den Ursprung dieses Ausgangspunkts wiederum findet der Autor in der »Hyperinflation, die in Argentinien 1989 auf aberwitzige 4.900 Prozent anstieg und die Gesellschaft an den Rand des Ruins brachte.« Es wäre ein Leichtes, die Inflation mit der Verschuldung des Landes zu begründen, die wiederum mit der Zeit der Militärdiktatur und der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung zusammenhängt. Ein solches, weitgehend ahistorisches Vorgehen ist ein häufig anzutreffendes Defizit der Globalisierungskritik. Angesichts der Katastrophen der Gegenwart mündet es nicht selten in die Glorifizierung der Vergangenheit.
Beispielsweise bezüglich der Rolle des Staates in der Globalisierung: Der Streit um mehr oder weniger staatliche Lenkung suggeriert einen Interessenskonflikt zwischen Staat und Markt, den es so nicht gibt und auch nie gab. Argentinien als Agrarexporteur hatte seit jeher ein Interesse an Absatzmärkten und war ebenso lange abhängig vom Import von Industriegütern. Ob der Außenhandel mal »frei« oder mal staatlich gesteuert geführt wurde, spielt dabei keine wesentliche Rolle. Der Staat handelte meist im Interesse des »eigenen« Kapitals: Der Rindfleisch- und Getreideexporteure und der großen Handelsunternehmen.
Nun allerdings hat der (argentinische) Staat seine Steuerungsfähigkeit weitgehend verloren – die Überschuldung zwingt ihn zu Übereinkünften mit dem IWF, und internationale Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsorganisation verlangen die Öffnung der Märkte. Diese Organisationen haben jedoch nicht nur für eine stabile Währung und die Rückzahlung der Schulden zu sorgen, sondern sie vertreten auch die Interessen der argentinischen Industrie und des Agro-Business. Und weil auch die ehemaligen Staatskonzerne nun »multinational« sind, wurde die alte Symbiose zwischen Staat und nationalem Kapital aufgelöst. Das hat allerdings weder die Korruption vermindert noch dem Land Wirtschaftswachstum gebracht. Im Gegenteil fließt noch mehr Kapital auf ausländische Konten bzw. in die Konzernzentralen.
Diese »Globalisierung« Argentiniens dürfte jedenfalls der Grund dafür sein, dass die Proteste gegen Sozialabbau und Verarmung sich nicht mehr an die klassischen Adressaten im eigenen Land wenden und mehr und mehr ihren nationalen Bezug verlieren. Die Protestierenden fordern keine neue Regierung und sie organisieren sich weder in Parteien noch in Gewerkschaften. Und das könnte der größte Fortschritt in einem Land sein, in dem Protest und Politik, Gewerkschaft und Unternehmertum immer als eine Bewegung verstanden wurden: Die Erkenntnis, dass es nicht um den Austausch einzelner Figuren oder die Änderung von Wirtschaftsprogrammen geht, sondern dass die Ursachen für die Krise in den Strukturen des Marktes verborgen sind.
Anmerkung:
- Jochen Höttke: Argentinien zwischen Deutschland und den USA 1939-45. Verlag dissertation.de, Berlin 2000.
- Eric Toussaint: Sittenwidrige Schulden. In: Le Monde diplomatique Nr. 6677 vom 15.02.2002, S. 17.
- Elmar Altvater: Trends und Grenzen der Globalisierung. In: isw-report Nr. 52; 9/2002, S. 1-7.
- Susanne Schröder: Die Anpassungspolitik in Argentinien seit 1985 vor dem Hintergrund der Auslandsverschuldung und des Demokratisierungsprozesses. Berlin 1990.
- Michel Husson: Argentiniens fatale Fixierung auf den Dollar. In: Le mode diplomatique Nr. 6677 vom 15.02.2002, S. 16-17.
Stephan Günther ist Mitarbeiter im iz3w.
Argentinien: Soundcheck vorm Aufstand
Populäre Musik in Argentinien im Zeichen der Krise
Linke Polit-Bands haben in ihren Songs schon lange argentinische Politiker kritisiert. Doch erst seit den Massenprotesten vom Dezember letzten Jahres finden sie auch Gehör. Und sie sind nicht mehr der einzige musikalische Ausdruck von politischer Mobilisierung und Identitätsstiftung. Denn auch der populäre Cumbia Villera aus den Armenvierteln drückt die Wut der Bevölkerung aus.
von Britt Weyde
»Sie sind total korrupt, alle. Alles Drogendealer. Der Präsident hält die Leute ruhig mit dem gewaschenen Geld, und die aus dem Norden machen uns fertig ...« So denken im Moment viele ArgentinierInnen über die Politiker. Seit am 20. Dezember 2001 ein sozialer Aufstand quer durch alle Bevölkerungsschichten die Regierung de la Rúa aus dem Amt gejagt hat, trauen sie sich auch, dies laut auszusprechen. In asambleas barriales (Nachbarschaftsversammlungen), bei piquetes (Straßenblockaden der Arbeitslosen) oder Demonstrationen wird der Wut freien Lauf gelassen (vgl. iz3w 260). Doch Argentinien befindet sich nicht erst seit Dezember in der Krise. Die peronistische Regierung des Populisten Menem perfektionierte den neoliberalen Ausverkauf des Landes schon in den 90er Jahren.
Bereits 1998 setzte ihm die Band Las Manos de Filippi mit dem Stück »Señor Cobranza« (Herr Kassierer) ein Denkmal; übrigens ein zeitloses, denn die oben zitierte Politikerschelte stammt aus diesem Song. Der Sänger Cabra erklärt dazu: »Wir klagen Dinge an, die eigentlich jeder weiß, die aber von den Medien verheimlicht werden. Wir erfinden die Sätze nicht, sondern übernehmen sie von der Oma aus dem Laden an der Ecke.« Ende der 90er gehörten Musiker wie die Manos, die Punk mit Cumbia1 verbanden, zu den wenigen kämpferischen Stimmen in Argentinien. Ihre scharfen Töne wie »Wir müssen den Präsidenten töten, wir müssen sie alle töten, warum soll ich sonst hierbleiben, wie soll ich sonst mein Kind ernähren« fanden damals allerdings keine weite Verbreitung, nicht zuletzt, weil die großen Radiosender ihre Stücke zensierten.
Dieselben Musik-Sender haben allerdings nach dem 20. Dezember 2001 ihre Meinung geändert. Jetzt ist es schick, die extrem(istisch)e Punk-Cumbia zu spielen. Bands wie die Manos verfügen über street credibility. Deshalb dürfen sie ihre 2002-Tour durch Argentinien auch »insurrección popular, huelga general« (Volksaufstand und Generalstreik) nennen, ohne sich opportunistisches Gehabe vorwerfen lassen zu müssen. Deutlich wird dies z.B., als der Tour-Bus der Manos auf der Fahrt durch Patagonien an einem piquete vorbei kommt. Hier wird von allen AutofahrerInnen – notfalls mit Nachdruck – eine »Solidaritäts-Gebühr« verlangt. Einer der jugendlichen Arbeitslosen trägt ein T-Shirt der Manos. Die gegenseitige Sympathie ist unverkennbar, sie kommt nicht zuletzt auch im neuesten Live-Hit der Manos zum Ausdruck: »Die besten, die einzigen / sind die Methoden der piqueteros / piquetes und asambleas / damit alle Leute / die Macht der Arbeiterklasse sehen«. Angesichts solcher Agitprop-Texte sprechen einige Medien schon vom Rock Piquetero.
Propheten in der eigenen Band
»Sie sind sehr explizit in ihren Texten. Aber das ist gut so, fast schon erleichternd« meint Pedro von Karamelo Santo über seine Musiker-Kollegen. Die siebenköpfige Band, die in der Anden-Stadt Mendoza ihren Ursprung hat, ist diesen Sommer das erste Mal durch Europa getourt. Ihre Musik verbindet Rock und Ska mit lateinamerikanischer Folklore und Cumbia. Die politischen Standpunkte gleichen denjenigen der Manos, sind allerdings weniger polemisch. Aber: »Wir kommen alle aus Mittelschichtsfamilien, einige aus der Unterschicht, und allein deshalb betreffen uns die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Argentiniens. Wir haben viel Wut im Bauch.«
Trotz des relativen Booms der linken Bands ist auch deren Musik-Produktion von der Krise betroffen: Während die Manos erst gar keine neue Platte aufnehmen können, wird die neueste Scheibe von Karamelo Santo voraussichtlich erst mit neunmonatiger Verspätung auf den Markt kommen. »Das Interessante an der Platte ist, dass wir sie vor dem 20. Dezember aufgenommen haben und sich die Realität in Argentinien seitdem sehr stark verändert hat. Dennoch hat unsere Platte nichts an Aktualität eingebüßt« erzählt Saxofonist Pablo. Bassist Diego ergänzt: »Im Gegenteil, die Platte reflektiert, was passiert ist, und einige Stücke haben nach dem 20. Dezember sogar noch an Aussagekraft gewonnen. Einige Songs berühren uns sehr, wenn wir sie jetzt auf der Tour spielen, z.B. ›la picadura‹«. Dieses Stück von der neuen Platte »Los guachos« (Die Straßenkinder) bezieht sich auf die Schuldenlast Argentiniens, ihren Zusammenhang mit der Militärdiktatur und den IWF-Maßnahmen: »Der IWF ermordet deinen Bruder / und will danach, dass du zahlst / mit Hilfe des Todes / fingen sie mit der Verschuldung an / und jetzt wollen sie, dass wir bezahlen / was man nicht bezahlen kann«.
Tatsächlich sind Arbeitslosigkeit und Armut während der letzten Monate in Argentinien rapide angestiegen. 20 von 36 Millionen EinwohnerInnen leben unter der Armutsgrenze. Pablo hebt die wirtschaftlichen Engpässe beim Publikum hervor: »Obwohl unsere Konzerte nicht sehr teuer sind, meistens zwischen drei und fünf Pesos, was heute knapp ein Dollar ist, können die Leute das nicht zahlen. Wir versuchen, dass trotzdem alle rein kommen, was manchmal kompliziert ist. Für uns ist Musik total wichtig, sie ist unser Leben. Aber neben dem Bedürfnis der Leute, was zu Essen zu haben, ist sie doch zweitrangig!«
Seit 1997 wohnen die meisten Mitglieder von Karamelo Santo in La Boca. Dieser Stadtteil von Buenos Aires, der um die vorletzte Jahrhundertwende bevorzugter Niederlassungsort von italienischen AnarchistInnen war, hat sich bis heute seinen kämpferischen Charakter bewahrt. Diego erzählt, wie sich die Band bei den aktuellen Mobilisierungen einbringt: »Wir haben in unserem Viertel schon auf sehr vielen Versammlungen Musik gemacht, aber auch in anderen Stadtteilen. Bei einigen haben wir schon den Ruf weg, dass wir die Band für die asambleas sind. Sie rufen sogar bei uns an und sagen ›Ey‹ ihr müsst nach Las Flores kommen, da ist gerade eine Straßenblockade!’ Okay, wir fahren hin und spielen dann ein paar Stücke. Man könnte sagen, dass das unsere Art und Weise ist, auf den Kochtopf zu schlagen. Da wir Teil der Bevölkerung sind, sind wir auch als Künstler für sie da.«
Trotz ihrer Nähe zu den aktuellen Protesten sind weder die radikalen Las Manos de Filippi noch die sympathischen Karamelo Santo Bands, die Massenhysterie auslösen. Unter Linken, Punks und Hippies sind sie zwar bekannt und beliebt, dennoch treten sie vor allem in kleinen Clubs auf. Die großen Stadien füllt eher die Rock-Band La Renga, etwa als die Gewerkschaftsjugend sie im Juli für ein Soli-Konzert »gegen den Hunger und die Arbeitslosigkeit« engagierte. Eintritt: Eine nicht verderbliche Lebensmittelspende und ein Kleidungsstück für Kinderhorte in Armen-Vierteln, den sogenannten Villas.
Proleten-Punks von heute
In diesen Siedlungen am Stadtrand von Buenos Aires hat ein anderes, derzeit äußerst erfolgreiches Pop-Phänomen seinen Ursprung: die Cumbia Villera. Musikalisch gesehen ist sie recht unspektakulär. Die Sprengkraft liegt in den Texten. Bands wie Flor de Piedra, Yerba Brava, El Indio oder Los Pibes Chorros besingen plastisch den harten Alltag im Elendsviertel: Gewalt, Stress mit Bullen, Alkohol, Drogen und Sex. Auch die Tatsache, dass echte Villeros auf der Bühne stehen, die wissen, wovon sie singen, oder die gerade erst selber aus dem Knast entlassen worden sind, stiftet Identität und füllt Wochenende für Wochenende die Konzerte. Und das schon seit über zwei Jahren. Der erste Hit dieses Genres ist von Flor de Piedra und heißt »Gatillo Fácil« (»Schneller Abzug«). Mit diesem Terminus wird die brutale Linie der Hauptstadt-Polizei bezeichnet, der in den 90er Jahren hunderte von Jugendlichen aus den Elendsvierteln zum Opfer gefallen sind.
Für Zeilen wie »Du bist ein Scheiß-Bulle / du bist der größte Feigling / der mir je begegnet ist« musste Flor de Piedra schon viel Kritik einstecken. »Aber wenn wir einen Refrain singen, in dem die Polizei kritisiert wird, und die Leute darauf abfahren, dann muss es doch auch einen Grund dafür geben. Seien wir mal ehrlich: Wer von uns ist nicht sauer auf die Bullen?« meint der Bandgründer Pablo Lescano dazu. Pablo von Karamelo Santo meint dazu: »Die Cumbia Villera spiegelt die Wut der Leute wieder, derjenigen, die keine Arbeit, nichts zu Essen und keine Perpektive haben. Die Leute fühlen sich mit ihren Problemen endlich mal ernst genommen.« Sein Band-Kollege Pedro sieht in den Villeros samt ihren Tabubrüchen gar »die Punks von heute. Allerdings reden sie auch viel Schrott – allein was sie über Sex und Mädels singen!«
Gangsta-Rap aus den Villas
Für den argentinischen Soziologen Jorge Elbaum stellen die derben Texte der Cumbia Villera eine Art symbolische Rache an gängigen sozialen Konzepten dar: »Nur die negativen Klischees über Villeros werden in der Musik behandelt, eine Art Selbst-Diskriminierung findet statt.« Einige Analytiker ziehen den Vergleich zum US-amerikanischen Gangsta-Rap, in dem ebenfalls der Kult um Waffen, Gangs, Drogen und Misogynie gefeiert wird. Eine Parallele ist gewiss nicht von der Hand zu weisen: Mit »cabezas negras«, den »schwarzen Köpfen«, bezeichnen die oberen Schichten abfällig die meist mestizischen BewohnerInnen der Villas. Die wiederum begrüßen ihre Fans mit einem stolzen »Guckt her, wie die Schwarzen singen!« Nach all den Jahren, in denen sich die ArgentinierInnen aus der Unterschicht geduldig blonde Sunnyboys à la Ricky Martin als Prototypen des Latino-Popstars anschauen mussten, können sie sich endlich wieder mit ihren Stars identifizieren.
Die Cumbia Villera ist ein breitenwirksamer Mode-Trend geworden. Die langhaarigen Typen in Jeans und Trainingsjacken bringen mittlerweile sogar Mittelschicht-Kids in Verzückung, und was früher Synonym für schlechten Geschmack war, wird heute in Nobel-Discos aufgelegt. Einige Linke wollen darin sozialromantisch verklärend einen Aufstieg der marginalisierten Bevölkerungsschichten sehen. Doch den Erfolg haben einmal mehr die schlauen Marketingstrategen für sich gebucht, die früh das kommerzielle Potenzial des Genres erkannt haben. Die uruguayische Wochenzeitung Brecha bringt es auf den Punkt: »Die Villero-Bands sind weit davon entfernt, Protest-Musik zu machen. Die Musik ist tanzbar, lustig, und sie redet vom Alltag.«
Ein anderes Massenphänomen, die kolumbianische Pop-Göttin Shakira, hat derweil im krisengeschüttelten Argentinien keinen leichten Stand. Mitte März erschüttert eine politisch brisante Nachricht die Pop-Welt: Die Musik-Kaufhauskette Tower Records boykottiert Shakiras letztes Album! Grund: In dem Video »Underneath your clothes« turtelt der Megastar mit Antonio de la Rúa – und der ist nicht nur ihr Lebensabschnittspartner, sondern auch Sohnemann und ehemaliger Politikberater des Ex-Präsidenten. When pop meets politics...
Anmerkung
- Ursprünglich war Cumbia ein mestizisch-afrokolumbianischer Volkstanz. Heute ist der getragene Musikstil im 2/4 Takt samt seiner vielfältigen regionalen Fortentwicklungen in ganz Lateinamerika populär.
Britt Weyde ist Redakteurin der ILA und hat Argentinien zuletzt im Frühsommer 2002 besucht.
Bolivien: Mythen I
Den Che trägt man im Herzen
Über die Funktionen des Mythos Che Guevara in Bolivien und Kuba
von Astrid Geese
Am 9. Oktober 1967 endete die Mission Che Guevaras in La Higuera. Zu wenige konnten für das revolutionäre Anliegen gewonnen werden, waren zur Schaffung von »zwei, drei, vielen Vietnams« bereit. Heute, 30 Jahre später, wird Guevara in Bolivien und Cuba geehrt und gefeiert – mit staatlicher Unterstützung und mit teils zweifelhaften politischen und wirtschaftlichen Absichten.p>
Am 9. Oktober 1967 endete die Mission Che Guevaras in La Higuera. Zu wenige konnten für das revolutionäre Anliegen gewonnen werden, waren zur Schaffung von »zwei, drei, vielen Vietnams« bereit. Heute, 30 Jahre später, wird Guevara in Bolivien und Cuba geehrt und gefeiert – mit staatlicher Unterstützung und mit teils zweifelhaften politischen und wirtschaftlichen Absichten.
Sicher geht es nicht bei allen Projekten nur um Kommerz, doch drängt sich der Verdacht auf, daß das, was im Norden zum Thema Che anläßlich seines 30. Todestages geschieht, in hohem Maß Geschäftsinteressen unterliegt. Im Süden hingegen wird Che Guevara hauptsächlich für politische Zwecke instrumentalisiert. Dies läßt sich vor allem in Bolivien beobachten. Nach Peru ist es das zweitärmste Land des Kontinents. In diesem Jahr wurde mit 22 % der Stimmen der Diktator der Jahre 1970-77, Hugo Banzer Suarez, zum Präsidenten gewählt. Durch eine Vierparteienkoalition verfügt er über die absolute Mehrheit im Parlament.
Staatlich geförderter Revolutionstourismus
In Bolivien wurde Che Guevara 1967 erschossen, und hier sollen 1997 unter der Landepiste des kleinen Flughafens in Vallegrande seine Gebeine gefunden worden sein. Fernsehen und Tageszeitungen von rechts bis liberal-konservativ, wie Razón und Presencia, begleiteten die Ausgrabungen und die Überführung mit täglichen Hintergrundreportagen und Leitartikeln. Sonderausgaben von Zeitschriften, so z.B. die eher kommerzielle Enfoques, kamen mit reichhaltigem Bildmaterial an die Kioske. Die Regierung fördert Reiseveranstalter, die »Che-Touren« anbieten wie »Auf den Spuren der Guerrilla« oder auf dem »Weg des Che«.
Auf den ersten Blick mag dieses Engagement überraschen. Angesichts von Armut und Elend ist jedoch jede Art von Ablenkung und alles, was das Nationalgefühl fördern könnte, willkommen. Und selbst ein vom Staat ermordeter Revolutionär aus Argentinien respektive Cuba kann noch einen unfreiwilligen Beitrag zur partei- und klassenübergreifenden Einheit leisten, wenn seine Gebeine 30 Jahre später in Bolivien gefunden werden. Das setzt allerdings eine selektive Vermittlung dessen voraus, wofür Che Guevara stand: Hervorgehoben werden sein Mut, seine Aufrichtigkeit, verschwiegen wird, daß er sich für einen »neuen Menschen«, befreite Völker, eine gerechte Gesellschaft und Sozialismus einsetzte.
Das von offizieller Seite mitgeschürte Che-Fieber entspricht der Stimmung der Bevölkerung. Iram Rosada aus dem Dörfchen La Higuera erinnert sich daran, wie »el Che« noch lebend von den Soldaten gebracht und später tot mit dem Helikopter abtransportiert wurde. Heute erzählt sie, daß viele in der Gegend Wunder von ihm erwarten und ihn wie einen Heiligen anbeten. Und was haben die Leute damals gedacht? »Nichts.«, antwortet sie, »Wir haben nichts gedacht. Wir hatten Angst vor der Guerrilla. Aber jetzt finden wir es gut, daß es hier passierte. Sonst hätten wir weder Geld noch ein Gesundheitszentrum bekommen, und La Higuera wäre immer arm geblieben.« (Die Gesundheitsstation wird von drei NGOs aus Deutschland, Argentinien und Cuba finanziert.)
Iram Rosadas Aussage wird von Erich Blössl aus Vallegrande bestätigt. Der ehemalige Entwicklungshelfer lebt dort seit mehr als 20 Jahren und ist Inhaber eines Restaurants. »Vor dreißig Jahren war niemand auf Che Guevaras Seite. Zwar bezahlten die Guerrilleros den Bauern alles, was sie nahmen, aber schließlich haben sie 50 Bolivianer getötet. Das, was wir heute hier als Kult beobachten können, ist oft Heuchelei. Damals waren alle erleichtert, als er tot war.« Kein Wunder also, daß man in der Gegend Che-Graffitis und Banzer-Plakate an ein und derselben Hauswand sieht.
Gegen das Vergessen
Das macht den Mitgliedern der lokalen Koordination der Fundación Ernesto Che Guevara in Vallegrande das Argumentieren genauso schwer, wie den Studenten der staatlich finanzierten Universidad Autónoma San Martín in La Paz. Sie haben sich mit anderen Gruppen in der Comisión 30 Aniversario zusammengeschlossen, um der offiziellen Geschichte und dem Vergessen im 30. Todesjahr die »wahren« Inhalte entgegenzusetzen. Mit Lautsprecherwagen, Flugblättern und Videowänden versuchen sie zu vermitteln, was Che Guevara wirklich wollte, und welche Bedeutung er heute noch hat. Kunststudenten produzierten mehrere Büsten des Comandante für den Garten der Universität in La Paz, für Vallegrande und für Cuba. Sie glauben an seine Ideale, weil er weder eine Avantgarde noch eine Partei oder Organisation als treibende Kraft für die Veränderung der Gesellschaft ansah, sondern dies als einen aus der Gesellschaft heraus initiierten und von ihr insgesamt getragenen Prozeß begriff.
Die Notwendigkeit eines Wandels und die Wichtigkeit des gesellschaftlichen Projekts sehen auch María und Amalia, zwei Argentinierinnen, die das Waschhaus des Krankenhauses in Vallegrande besichtigen, den Ort, an dem der tote Che Guevara vor 30 Jahren aufgebahrt lag. »Es gibt eine ganze Generation von Argentiniern, denen die Diktatur das Vergessen verordnet hat. Sie wissen nichts über Che und das, was er vertrat. Es ist heute wichtiger denn je, dieses Wissen nachzutragen und weiterzugeben.« Sie fotografieren sich gegenseitig in der lavandería und sammeln Steine vom Boden auf, um sie mit nach Argentinien zu nehmen, obwohl, wie Amalia erzählt, ein kubanischer Zollbeamter ihr einmal, als sie verbotenerweise einen Geldschein mit dem Bild des Helden aus Cuba mitnehmen wollte, gesagt hat, den Che trage man im Herzen.
So ähnlich sieht das auch die Gewerkschaftsbewegung in Bolivien. Felipe Calisaya, Generalsekretär des Dachverbandes der Fabrikarbeitergewerkschaften in La Paz, dessen Gebäude im Stadtzentrum in der Zeit der Suche nach den Gebeinen der Märtyrer in Vallegrande von einem riesigen Che-Transparent geziert wurde, erläutert den Zusammenhang zwischen den Forderungen der Arbeiter an die neue (alte) Regierung und dem Kampf Che Guevaras 1967. »Wir identifizieren uns nicht mit seiner Form des Kampfes, aber er ist für uns einer, der die Interessen des Proletariats und der verarmten Bevölkerung des Landes vertreten, der konsequent und kompromißlos dafür gekämpft hat.« Wenn es heute darum geht, sich für bessere Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung für die werktätige Bevölkerung einzusetzen, dann auch im Geist dieses Kämpfers für eine gerechtere Gesellschaft.
Loyola Guzmán, Mitkämpferin Che Guevaras als Vertreterin der damaligen Jugendorganisation der KP Boliviens und heute Präsidentin der ASOFAMD, des ersten in Lateinamerika gegründeten Verbandes von Angehörigen von Verschwundenen und Gefangenen der Diktaturen, vertritt eine ähnliche Position. Es ist ihr ein Anliegen, nicht nur die Erinnerung an Che Guevara und das, wofür er stand, lebendig zu halten, sondern sie weist auch darauf hin, daß er für die Jugend im Land heute eine wichtige Rolle spielt. »In Zeiten, in denen jeder nur noch an sich selbst denkt, ist es wichtig daran zu erinnern, daß nur gemeinsam Veränderungen im Interesse aller möglich sind.«, sagt sie. Paul Araníbar, Soziologe und Aktivist in La Paz, bringt das ganze noch auf einen anderen Nenner: »Wir nutzen die Kommerzialisierung des Che, um die wirklichen Werte lebendig zu halten, und das (neu) entstandene Interesse dient uns als Katalysator, um den Leuten zu sagen, daß Che Guevara in vielem Recht hatte.«
Im Zuge des »individualismo« versucht offenbar jede/r, das in Che Guevara hineinzuprojizieren, was den eigenen Interessen dienlich ist – sowohl diejenigen, die die Hoffnung auf eine kontinentweite Bewegung gegen den Neoliberalismus noch nicht aufgegeben haben als auch diejenigen, deren erstes Anliegen die Förderung des Fremdenverkehrs, mehr Konsum und Devisen sind. Und vielleicht auch politische Ruhigstellung. Doch das wird noch deutlicher in Cuba.
Havanna in schwüler Sommerhitze, Juli/ August 1997. Mehr als 11.000 Menschen füllen die Stadt als Delegierte und Gäste der Weltjugendfestspiele, die dieses Jahr im Zeichen Che Guevaras stehen. Pünktlich vor der großen Eröffnung werden die Gebeine gefunden und nach Cuba überführt. In einem schlichten Staatsakt, live übertragen vom cubanischen Fernsehen, übergibt Aleydita Guevara dem Land die Reste ihres Vaters. In einem Mausoleum in Santa Clara soll er ewige Ruhe finden. »Unser Land braucht Menschen wie meinen Vater Che Guevara, der nicht nur Verzicht predigte, wo nötig, sondern auch selbst zu Opfern bereit war, der mutig im Angesicht von Schwierigkeiten nicht aufgab«, macht sie in einem Gespräch deutlich. »Der Che lebt«, sagen auch die Kinder, die als Junge Pioniere mit dem Motto »Wir wollen sein wie der Che!« aufwachsen. Doch die Blickwinkel variieren. »Das cubanische Volk liebt und verehrt Che Guevara«, erläutert einer der zahlreichen Privattaxifahrer Havannas, »und das läßt sich in Krisenzeiten natürlich gut nutzen. Wenn die Wirtschaft am Boden liegt, das Volk aber nicht rebellieren soll, erinnert man an einen, der konsequent und uneigennützig war.« Er weist darauf hin, daß seit einiger Zeit die beiden staatlichen Fernsehsender und das Radio täglich eine Stunde »Che« bringen: Geschichten und Dokumentationen der ersten Stunden der Revolution, als ständige Erinnerung an eine Zeit, in der es auch schwer war, aber niemand die Ideale aus dem Blick verlor. Pedro Luis Ferrer, Liedermacher mit zeitweise eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten wegen seiner kritischen Texte, will mit seinem Lied »Cadena de pajaros« dazu beitragen, nicht zu vergessen, daß Che auch dafür eingetreten ist, sich nicht in einem mehr oder weniger goldenen Käftig fangen, sich nicht die Freiheit nehmen zu lassen.Che als Rebell gegen innenpolitische Unterdrückung? Dies ist nicht das offizielle Bild, das Cuba von ihm malen möchte. Che in Cuba – eine Medaille mit zwei Seiten, zumindest von der Regierung aus gesehen. Man fragt sich schon, warum nach genau dreißig Jahren seine Gebeine gefunden wurden, warum plötzlich auch in Cuba die Che-Literatur den Markt überschwemmt, wo es vor wenigen Jahren noch den Anschein hatte, als seien seine Texte eher unbeliebt. Vielleicht, weil Fidel Castro alt wird und überlegt, wie es mit dem Land eines Tages ohne ihn weitergehen soll. Vielleicht auch, weil es, wie auch Froilán Gonzales sagt, Che-Experte und eloquenter Sachbuchautor seit vierzehn Jahren, eine allgemeine Wertekrise gibt und nur wenige Menschen geeignet sind, als Zeugen gegen exzessiven Individualismus und für die Bedeutung der Gemeinschaft zitiert zu werden.
Hier schließt sich im Grunde der Kreis. Was die Werbung im reichen Norden auszunutzen trachtet, ist vielen im armen Süden umgekehrt das, was es aufzuhalten gilt: »el individualismo«. Mehr Egoismus und Rücksichtslosigkeit werden in den Ländern der sogenannten Dritten Welt keine Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung mit sich bringen. Bei uns aber genügen vielleicht schon Symbole, um gefühlsmäßige, assoziative Zufriedenheit herzustellen.
Anmerkung:
- Informationen und Zitate in diesem Artikel stammen aus Interviews und Gesprächen im Rahmen der Dreharbeiten zum WDR-Dokumentarfilm Che Guevara – Der Mythos lebt! von Hans-Peter Weymar.
Astrid Geese ist Dometscherin und freie Autorin.
Bolivien: Demokratien und andere Katastrophen
Bolivien im Februar 2003
von Peter Strack
In den gesamten neunziger Jahren galt Bolivien als das Musterland des IWF. Fast alle Auflagen der internationalen Finanzinstitutionen wurden umgesetzt und makroökononisch sahen die Zahlen zeitweilig auch ganz gut aus. Doch in der Bevölkerung wuchs die Armut, die einzig durch die Überweisungen der im Ausland lebenden BolivianerInnen und durch die ins Land kommenden Drogengelder nicht zur völligen Verelendung breiter Bevölkerungsschichten führten. Doch seit mit militärischer Gewalt gegen die DrogenproduzentInnen vorgegangen wird und durch die Argentinien-Krise auch die Überweisungen der dort lebenden BolivianerInnen drastisch zurückgingen, wird die soziale Lage in Bolivien für viele Leute immer hoffnungsloser. Der Frust und die Wut entladen sich in Protesten und Angriffen, die keineswegs immer zielgerichtet sind. Im Februar explodierte die soziale Situation. Doch wenig weist darauf hin, dass eine sich abzeichnende andere Politik in absehbarer Zeit wirtschaftlich und politisch durchsetzbar ist.
Dass eine Regierung ohne Volk eigentlich keine Regierung mehr ist, musste im Februar auch die IWF-Delegation in Bolivien zur Kenntnis nehmen. Was hilft es, einem Präsidenten die hundertmal erprobten und fast genauso oft gescheiterten Rezepte zu verschreiben, wenn selbst die auf Niederschlagung von Protesten spezialisierte und für ihr brutales Vorgehen gegen Demonstranten berüchtigte Polizeisondereinheit GES nicht mehr mitmacht. Nein, es sei keine Rebellion, versicherte der Major Vargas, einer ihrer Sprecher, obwohl er wenig später in der Tradition von Chavez und Gutiérrez gemeinsam mit Militärs eine zweifellos politische Initiative gegen den Gasverkauf über Chile startet. Das Megaprojekt mit dem Bau einer Pipeline zum Pazifik und anschließender Verschiffung des Erdgases in die USA ist nicht nur ökonomisch umstritten, weil Bolivien langfristig durch Verkauf an die Nachbarländer vermutlich höhere Einnahmen erzielen kann, sondern trifft auch auf von den Kritikern gezielt geschürte historisch-politische Ressentiments gegen Chile, über das die interessierten Konzerne das Gas exportieren wollen. Besonders empfänglich für antichilenische Vorurteile sind die Uniformierten. Aber darum ginge es überhaupt nicht, versicherte der Polizist, es ginge ihnen nicht nur um die Sicherung ihrer Lebensgrundlage... wie so vielen sozialen Organisationen, mit denen die Regierung nach den Januar-Konflikten noch in Verhandlung stand, während die nach la Paz angereiste IWF-Delegation, trotz Deflation, auf Maßnahmen zur spürbaren Senkung des auf acht Prozent kalkulierten Haushaltsdefizits drängte.
Versuche, die Abgaben für die Ölkonzerne ein wenig mehr an international übliche Niveaus anzugleichen, hatten heftigen Widerspruch und sanften Boykott der Betroffenen und ihrer Botschaften zur Folge gehabt. Die fehlende Kompromissbereitschaft der USA bei der Koka-Vernichtungspolitik deutete auf zusätzliche wirtschaftliche und politische Probleme. Der geplante Gasexport in die USA über Chile schien sich in Luft aufzulösen, weil die Entscheidung auf heftigem Widerspruch aus der Bevölkerung treffen würde. Weil eine Benzinpreiserhöhung nicht durchsetzbar erschien, entschied sich die Regierung für eine Modizifierung der Steuergesetzgebung, die einer Erhöhung gleichkam, aber dabei zu einer weiteren Informalisierung der Wirtschaft geführt hätte. Gleichzeitig kündigte sie an, dass es keine Lohnerhöhungen geben werde.
Während die Unternehmerverbände und Oppositionspartien protestierten, die Gewerkschaften, Studenten und selbst Schüler begannen zu demonstrieren und nachdem die Polizei in mehreren Städten in Streik getreten war, versuchten Menschenrechtsorganisationen und Ombudsfrau Campero de Romero, zwischen den die Proteste anführenden GES-Polizisten und der Regierung zu vermitteln. Doch die verteidigte die Maßnahmen als unabdingbar, setzte auf die Durchsetzung des Autoritätsprinzips. Die Hardliner in der Regierung ließen das Militär aufmarschieren. Als eine Verhandlungsdelegation aus dem GES-Gebäude ganz in der Nähe des Reigerungspalastes trat, wurden zwei Delegationsmitglieder von Scharfschützen erschossen. Es folgte eine mehrstündige Straßenschlacht zwischen GES und Militär mitten im Regierungsviertel, an der sich bald auch Polizisten in Zivil und zunehmend andere Personen beteiligten.
Nachdem es bereits acht Tote gibt, die Mehrzahl Polizisten, tritt der Präsident sichtlich bedrückt vor die Fernsehkameras um das Steuerpaket zurückzunehmen. Mit dem Schlusssatz „Gott möge Bolivien retten“ verschwindet die Regierung erst einmal von der Bildfläche. Die Schlacht geht weiter. Vor laufenden Kameras erklärt Polizeigeneral Pardo wenig später am aufgebahrten Leichnam eines seiner Untergebenen weinend seinen Rücktritt. Ist der Versuch ohne Volk zu regieren schon ein schwieriges Unterfangen, so erwies sich aber auch die umgekehrte Version in La Paz als Alptraum. Während von politisch bewussteren Gruppen gesteuerte Massen gezielt die Parteibüros von MNR, MIR und UCS, zwei Ministerien und das Gebäude der Vizepräsidentschaft stürmten und in Brand setzten (die Parteibüros in anderen Städten sollten folgen), plünderten vorwiegend Jugendliche Supermärkte und andere Läden im Zentrum der Stadt. Die Arbeiter der Coca Cola-Fabrik in El Alto organisierten sich, um mit Unterstützung des Militärs ihren Arbeitsplatz, die Händler ihre Geschäfte, die Parteien ihre Büros zu verteidigen. Am nächsten Morgen werden 16 Tote und über 70 Verletzte gezählt.
Die Regierungsmannschaft hatte die Zeit nicht nur genutzt um TV-Spots und Presseerklärungen zu produzieren, in denen ihre Verantwortung für die tragischen Ereignisse und selbst der Einsatz der Scharfschützen geleugnet und die These vom Attentat auf den Präsidenten verbreitet wurde, sondern auch um mit der GES-Sondereinheit zu verhandeln. Während Einzelheiten vor allem über Lohnerhöhungen und Straffreiheit geklärt werden, gehen die Plünderungen jetzt ganz ohne politische Zielrichtung weiter. Der „Generalstab des Volkes“, der im Januar die Proteste koordiniert, aber auf die spontanen Proteste und Randale ebensowenig Einfluss hatte wie Evo Morales, fordern den Rücktritt des Präsidenten und von Staatsminister Sanchez Berzaín, der als der Drahtzieher und starker Mann in der Regierung gilt. Die IWF-Delegation reist aus La Paz ab. In anderen Städten nehmen die Proteste zu und werden zunehmend gewalttätig von Militäreinheiten unterdrückt.
In Cochabamba führen Journalisten den Präfekten auf das Dach seines Amtssitzes, wo die Scharfschützen liegen, deren Existenz die Autorität der Presse gegenüber leugnen wollte. Als die Polizei schließlich wieder auf die Straße geht, um die öffentliche Ordnung herzustellen, erscheinen in der Schreckensbilanz 33 Tote und mindestens 173 Verletzte sowie wirtschaftliche Schäden, die das staatliche Haushaltsdefizit gewiss nicht verringern werden. Doch ausgerechnet in diesem Moment der Schwäche erlebt die Regierung unerwartet Zuspruch von der Mehrzahl der Menschen. Wie unzufrieden auch immer sie mit ihrer wirtschaftlichen Situation und der Regierung sind, das Blutbad haben sie nicht gewollt. Und wo zudem keine Alternative in Sicht ist, setzen sie auf die Polizei, die sie so oft misshandelt hat, sie setzen auf den Fortbestand des politischen Systems und sie setzen auf den gewählten Präsidenten, der aus seinem eigenen Umfeld heraus bedroht zu sein scheint. Was sie aber wollen, ist eine andere Politik, nämlich die Politik, die Sánchez de Lozadas MNR und sein Hauptalliierter MIR im Wahlkampf zwar versprochen haben, für die aber in der Praxis eher Figuren wie der Kokabauernführer Evo Morales stehen: die Rücknahme der neoliberalen, den ausländischen Unternehmen wie den Finanzinstitutionen servilen Wirtschaftspolitik, die Revision der Privatisierungspolitik, nein zur ALCA und auch eine autonomere Drogenbekämpfungsstrategie, die nicht auf Kosten der Bauern geht.
Zunächst kommen nur die Plünderungen unter Kontrolle, die Proteste gehen weiter, bis der Präsident nach hartem Ringen in der Regierungskoalition und angesichts von Rücktrittsdrohungen von Vizepräsident Carlos Meza die graue Eminzenz im Kabinett, seinen Vertrauten, von der Bevölkerung als »Zorro« bezeichneten, Sánchez Berzain auf ein Parteiamt versetzt, Innenminister Gasser durch den beim Massaker von Amayapampa (siehe ila 262) in Verruf geratenen früheren Präfekten von Potosí austauscht und andere Minister die Stühle wechseln lässt. Gleichzeitig werden Untersuchungen zu den Todesfällen eingeleitet, die bereits jetzt wegen fehlender Mittel und nicht vorhandener personeller Ressourcen ins Stocken geraten sind. Und was die Hauptprobleme, angefangen beim Haushaltsdefizit, betrifft, werden wieder einmal Verhandlungskommissionen mit den sozialen Sektoren eingerichtet. Sánchez de Lozada gibt sich IWF- und selbstkritisch. Er sei nicht imstande gewesen den politischen und sozialen Konflikten im Januar zu begegnen und habe deshalb die wirtschaftlichen Themen vernachlässigt. Aber der IWF habe inzwischen auch verstanden, dass seine Maßnahmen in einem Land wie Bolivien nicht durchsetzbar seien.
Der nächste Überbrückungskredit in Höhe von 700 Millionen Dollar ist inzwischen genehmigt, während die Regierung versucht mit Gesetzen und Zugeständnissen, die kein Geld kosten oder nicht mit einem US-Veto rechnen müssen, wenigstens einige der enttäuschten sozialen Sektoren zufrieden zu stellen und mit Investitionsprogrammen die versprochene wirtschaftliche Belebung in Gang zu bringen. Doch auch hier könnten die USA wieder einmal einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn durch den Irak-Krieg die Ölpreise steigen sollten, dann wird auch das Ölförderland Bolivien statt mehr einzunehmen höhere Preise an die Konzerne zahlen müssen, die nicht nur die Erdölförderung in Bolivien, sondern auch die US-Politik inzwischen zu kontrollieren scheinen.
Aus: ila 264. www.ila-web.de
Bolivien: Grenzen der Utopie
Boliviens soziale Bewegungen gewinnen an Einfluss
Nach den heftigen Protesten vom Oktober 2003 ist Boliviens linke Opposition ihren Zielen näher gekommen. Der grundlegende Umbau des Staates zugunsten der marginalisierten Bevölkerung wird immer wahrscheinlicher. Erfahrungen mit linken Regierungen in anderen lateinamerikanischen Staaten stimmen jedoch skeptisch.
von Simón Ramírez Voltaire
Am Ende kamen sie doch nicht. Als Mitte November in Santa Cruz de la Sierra ein Sozialforum einberufen wurde, hätte die Linke Boliviens gern die lateinamerikanischen Hoffnungsträger auf dem Podium gesehen: Lula, Kirchner, Castro, Chávez und natürlich Evo Morales, Sprecher der Kokabauern Boliviens und Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Sie waren offiziell eingeladen worden, und im Vorfeld des Treffens hatte die Presse über ein konzertiertes Auftreten der Fünf spekuliert. Doch schließlich diskutierten auf dem von der MAS als Alternative zum gleichzeitigen 8. Iberoamerikanischen Gipfel organisierten Sozialforum die über 15.000 Bauern- und Indígenavertreter die Zukunft Boliviens ohne die Präsidenten Brasiliens, Argentiniens, Kubas und Venezuelas. Wichtigstes Ergebnis des Treffens war die Bekräftigung der Forderung nach an einer Verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2004.
Zur Vorgeschichte: Im Oktober 2003 war es in Bolivien zu Massenprotesten gekommen, welche die Flucht des neoliberalen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Losada erzwangen. Das Amt übernahm sein Vize Carlos Mesa. Er hatte sich von dem brutalen Vorgehen der Regierung distanziert, bei dem mindestens 80 Menschen getötet und über 400 verletzt wurden. Auslöser der wochenlangen Proteste war der geplante Export von Erdgas in die USA und nach Mexiko. Bei dem Geschäft hätten nur etwa 18 Prozent des Gewinns an den bolivianischen Staat fließen sollen, der Rest an transnationale Unternehmen, was die Bevölkerung empörte. An den Aktionen beteiligten sich neben den größten Organisationen der sozialen Bewegungen – die linke Partei MAS, der Gewerkschaftsdachverband Bolivianische Arbeiterzentrale (COB), das Einzige Bauernsyndikat Boliviens (CSTUCB) und die Partei Indígenabewegung Pachakuti (MIP) – vor allem unzählige Nachbarschaftsgruppen und Unorganisierte.
Druck von unten
Die Aufstände belegen einmal mehr die große Politisierung der Gesellschaft in Bolivien, die sich mit den Widerständen gegen die Wasserprivatisierung in Cochabamba (April 2002), gegen die Vernichtung der Kokaplantagen und die Kriminalisierung der Kokaleros (seit Mitte der 90er), gegen die Einführung der Lohnsteuer (Februar 2003) und nun gegen die Privatisierung des Erdgases nicht nur dem Einfluss der internationalen Finanzorganisationen und den USA widersetzt. Ein ganzes Bündel von Konflikten hält das Land in Bewegung: die Freihandelszone der Amerikas (englisch: FTAA, spanisch: ALCA), der Kokaanbau, gerechte Landverteilung und Rechte für die Indigenas sind nur die wichtigsten Punkte.
All dies kulminiert in der Forderung nach tiefgreifenden Reformen zur Überwindung des postkolonialen Staates, in dem 60 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Bereits im Wahlkampf 2002 war erklärtes Ziel der MAS, nicht auf konventionellem Wege die Präsidentschaft zu erlangen, um auf Basis des Status quo Reformen einzuleiten. Das Projekt der MAS und der sozialen Bewegungen zielte vielmehr auf umfassende Partizipation der bisher ausgeschlossenen indigenen, mestizischen und bäuerlichen Mehrheit.
Dies ist nach Auffassung von Antonio Peredo Leigue, einem der Köpfe der MAS, nur durch einen Umbau der staatlichen Institutionen und durch eine Neugründung der Republik möglich. Einberufen werden soll daher eine Verfassungsgebende Versammlung, in der alle sozialen, kulturellen und regionalen Sektoren repräsentiert sind. Ein für die ganze Gesellschaft nützlicher Umgang mit den natürlichen Ressourcen soll dem neuen Staat ermöglichen, soziale und kulturelle Organisationsformen der Indígenas in den Staatsapparat zu integrieren. »Die refundación muss von unten kommen. Nicht von der Oligarchie, sondern von der armen Mehrheit in unserem Land«, sagt dazu Evo Morales. Erschien die Forderung nach der Asamblea Constituyente vor einem Jahr noch als Utopie, so ist sie heute aufgrund des massiven Drucks der sozialen Bewegungen im Begriff, Realität zu werden.
Während Ex-Präsident de Lozada in die USA flüchtete und nun in der Washington Post über die gefährdete Demokratie und seine edlen Taten sinniert, sind die MAS und Evo Morales auf dem Weg zur Macht ein gutes Stück voran gekommen. Zwar erschienen Chávez, Lula und Kirchner nicht persönlich zum Sozialforum in Santa Cruz, doch kamen sie und weitere Staatsmänner der Region individuell mit Morales zusammen, um sich ein Bild von ihm und der MAS zu machen. Anschließend ließen sie die Welt ihre prinzipielle Unterstützung für die Kokaleros wissen. Anerkennung erfuhr Morales auch durch den zum Iberoamerikanischen Gipfel angereisten UN-Generalsekretär Kofi Annan, der ihn nach New York einlud. Die internationale Unterstützung ist für Morales von großer symbolischer Bedeutung, verwandelt er doch dadurch sein Image vom oppositionellen Bauernführer hin zum Staatsmann.
Auch inhaltlich ging Annan auf die MAS zu. Er erkannte die Komplexität der Kokaproblematik an und befürwortete den legalen, kontrollierten Anbau der Kokapflanze für den traditionellen Markt. Darüber hinaus will er sich für eine Lösung des Territorialstreits zwischen Chile und Bolivien einsetzen. Bolivien verlor im Pazifikkrieg 1879 bis 1880 seinen Zugang zum Meer an Chile, was als einer der Ursachen für die schlechte Ausgangsbasis der bolivianischen Ökonomie gilt. Dass Annan das Thema offen ansprach, löste in Bolivien große Hoffnungen aus.
Ernüchterung in Lateinamerika
Der in Bolivien stattgefundene 8. Iberoamerikanische Gipfel unterstrich ungewollt die Bedeutung der sozialen Kämpfe in Bolivien für ganz Lateinamerika. Sie stehen in einer Reihe mit der antineoliberalen Opposition Lateinamerikas, die im Jahr 2000 in Ecuador Jamil Mahuad und in Peru Alberto Fujimori stürzte und 2001 in Argentinien Fernando de la Rúa. Setzte sich auch in Bolivien eine linke Regierung durch, wäre dies eine weitere Verschiebung des Kräfteverhältnisses gegen das neoliberale Projekt. Doch zu übertriebenen Hoffnungen besteht kein Anlass: mit Gutiérrez (Ecuador), Toledo (Peru), Lula (Brasilien) und Kirchner (Argentinien) hat sich die politische Landschaft in der Region nur oberflächlich betrachtet verändert. Soziale und protektionistische Rhetorik ist vielerorts angesagt, wenig verändert sind dagegen die Strukturen.
Beispiel Argentinien: Nirgends waren in vergleichbarer Stärke und Radikalität Staat und Kapitalismus in Frage gestellt worden wie vor zwei Jahren in dem Land am Río de la Plata. Die Rückkehr eines Großteils der politischen Elite an die Macht, die erneute Akzeptanz des staatlichen Apparates und die Einführung von lokalem Ersatzgeld (Patacones) dürften heute als Lehren dafür gelten, wie beständig kapitalistische und staatliche Formen sind. Wo sie aufgrund einer Krise kollabieren, werden sie freiwillig und bisweilen improvisiert von den Menschen selbst wieder eingeführt. Auch international sorgen Verträge, Schulden, Diplomatie und Handelsbeziehungen dafür, dass sich wenig ändert, wenn eine linke Regierung an die Macht kommt. Eine Ausnahme stellt derzeit lediglich Venezuela dar: Unter aktiver Beteiligung der Basis wurden partizipativ-demokratische Elemente eingeführt und soziale Programme eingeleitet (vgl. iz3w 273).
Ob die »neuen sozialen Präsidenten« auf der Makroebene etwas bewirken können, wird sich unter anderem anhand der weiteren Verhandlungen über die ALCA zeigen. Im November beschlossen 34 amerikanische Staaten (außer Kuba) auf dem Ministertreffen des ALCA zwar die Einrichtung einer flexiblen Freihandelszone bis Januar 2005, jedoch konnten sie sich lediglich auf Rahmenbedingungen für einen gemeinsamen Markt einigen. Bis dahin sollen zwar für alle Länder geltende Rechte und Pflichten ausgearbeitet werden, jedes Land soll aber individuell den Umfang der Marktöffnung entscheiden. Umstrittene Themen wie Agrar-Subventionen in den USA, intellektuelles Eigentum, Regierungseinkäufe und Dienstleistungen blieben auf Initiative der wichtigsten Akteure USA und Brasilien außen vor und sollen der WTO zur Regelung überlassen werden.
Für die USA ist dieses Ergebnis unbefriedigend, weshalb sie nun eine bewährte Strategie verfolgen: Anstatt im Paket für alle, werden nun mit einzelnen Ländern bilaterale Abkommen ausgehandelt. In Chile tritt ein solches bereits 2004 in Kraft, Vorverhandlungen gab es mit Panama, Peru, Ecuador, Kolumbien und der Dominikanischen Republik. Das im November verabschiedete »ALCA light« ist deshalb auch kein wirklicher Erfolg für die südlichen amerikanischen Länder. Mit den bilateralen Verhandlungen ist die ursprüngliche Idee der MERCOSUR-Staaten, nämlich die regionale Integration voran zu treiben und en bloque zu verhandeln, unterminiert. Die USA kann nun die einzelnen konkurrierenden Länder gegeneinander ausspielen.
In diesem Wettlauf hat ein kleines Land wie Bolivien kaum keine Chance auf eine selbstbestimmte Entwicklung. Im Kampf gegen den internen, postkolonialen Rassismus haben die dortigen sozialen Bewegungen zwar jetzt schon unumkehrbare Erfolge gezeitigt. Dennoch muss man fragen, welchen Effekt sie auf die Ideologie des Freihandels, die Verschuldung und das internationale Machtgefüge eigentlich haben können.
Simón Ramírez Voltaire ist freier Autor und lebt in Berlin.
Brasilien: Hunger und Landwirtschaft
Liberale Landnahme
Konflikte um Brasiliens Agrarpolitik
von Wolfgang Hees
Seit den sechziger Jahren gibt es im ländlichen Brasilien gewalttätige Auseinandersetzungen wegen der ungleichen Besitzverteilung. In den letzten 20 Jahren wurde die Problematik so zentral, dass die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra, vgl. iz3w 211 und 215) heute die wichtigste Opposition zur neoliberalen Politik von Präsident Fernando Henrique Cardoso darstellt. Die Konflikte werden dabei zum Teil äußerst brutal geführt: Seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 wurden 1.167 Morde an LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen verübt. Bis heute blieben die Täter (überwiegend angeheuerte Pistoleiros) und ihre Auftraggeber aus den Reihen der Großgrundbesitzer fast ausnahmslos straffrei. 1998 gab es über tausend Konflikte um Land, von denen mehr als eine Millionen Menschen betroffen waren.
Die Hintergründe der Auseinandersetzungen haben sich in den letzten Jahren kaum verändert: 56,4% der landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über 5,5% der Gesamtbetriebsfläche Brasiliens, während 1,4 Prozent der größten Betriebe (über 1.000 ha) über 50 % der Landfläche verfügen. Die Landlosenbewegung MST geht von 4,8 Mio. Familien mit über 24 Mio. Personen aus, die auf der Suche nach Land durch Brasilien ziehen. 41 Millionen BrasilianerInnen hungern und leben unterhalb der Armutsgrenze. Die höchste Konzentration der Armut findet sich im ländlichen Raum, insbesondere im trockenen Nordosten. Aber auch die Armut im städtischen Umfeld geht auf die katastrophale Situation auf dem Land zurück, denn sie ist unter anderem eine Folge der Landflucht.
Rationalisierung auf dem Land
Durch die Agrarpolitik von Präsident Cardoso gerieten in den letzten vier Jahren 400.000 kleinbäuerliche Familienbetriebe in Konkurs und mussten ihre Höfe aufgeben. Cardoso hatte zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, innerhalb von vier Jahren 280.000 landlose Familien (weniger als 6 Prozent der landlosen Bevölkerung) neu anzusiedeln. Fünf Jahre später hat er sein Ziel fast erreicht: 254.792 angesiedelte Familien. Doch selbst staatliche Stellen geben zu, dass es sich bei einem Viertel der Fälle um bereits angesiedelte Familien handelte, deren Besitztitel nur noch zu unterzeichnen war, und bei weiteren 62 Prozent der Fälle lediglich langjährige Kolonisten in Amazonien ohne offizielle Landbesitztitel in Landbesitzer mit Bodentitel umbenannt wurden. Es handelt sich also eher um eine Legalisierung von Siedlern als um Neuansiedlungen.
Gleichzeitig verloren mehr als zwei Millionen Landarbeiter durch das Höfesterben, die Mechanisierung und die Extensivierung der Landwirtschaft ihre Arbeit. Mit der Einführung der Währung Real im Juli 1994 sanken die Preise für landwirtschaftliche Produkte um 37,5%, während die Betriebsmittelkosten für Dünger, Pestizide und Saatgut um 60,1% stiegen. Zudem wurden die Agrarkredite in den letzten zehn Jahren von 14,2 Mio. Real auf 4,5 Mio. Real gekürzt. Die subventionierten Agrarkredite für die kleinbäuerliche Landwirtschaft wurden sogar komplett gestrichen. Subventionen sind nun allein den Agrarexporten und der Vermarktung vorbehalten, wovon vornehmlich Großgrundbesitz, Banken und Händler profitieren. Im Jahr 1999 trug der (subventionierte) Export brasilianischer Agrargüter mit 11 Mrd. US$ zum Staatshaushalt bei.
Das Regierungsprogramm »Novo Mundo Rural« hat die Agrarentwicklungsprogramme der USA und der EU zum Vorbild. Diese heben die Multifunktionalität des ländlichen Raumes hervor und setzen unter verstärktem Einsatz von Technologie und versteckten Subventionen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft frei. Nach dieser Philosophie sollen sich nun auch in Brasilien die wenig konkurrenzfähigen Betriebe (Agrarreformansiedlungen, kleinbäuerlicher Besitz) an marktübliche Zinsen für den Weltmarkt gewöhnen – oder eben schließen. Da es keine Ausweichmöglichkeiten und Förderprogramme für die »freigesetzten« Bauern gibt, erhöhen sie lediglich die Zahl der Arbeitslosen. Und das, obwohl feststeht, dass die Landwirtschaft am ehesten geeignet ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen und ein agrarischer Arbeitsplatz mit 920 R$ wesentlich preiswerter eingerichtet werden kann, als ein industrieller (19.000 R$; Zahlen des Landwirtschaftssekretariats von Rio de Janeiro). Der Prozess der Bodenbesitzkonzentration hat unter Cardosos Agrarpolitik noch zugenommen, gleichzeitig führten die Förderung der Exportlandwirtschaft und des Handels unter den Bedingungen der Weltmarktintegration zu Massenarbeitslosigkeit und mangelhafter Inlandsversorgung.
Gentech-Soja für den Export
Bei der Modernisierung der Landwirtschaft setzt Brasilien zunehmend auf die Bio- und Gentechnologie der Agrarmultis. In weniger als drei Jahren genehmigte die Nationale Technikkomission für biologische Sicherheit bereits 636 Freisetzungen genetisch veränderter Organismen. Insgesamt sind 176 Sorten betroffen, unter anderen auch so wichtige Kulturen wie Reis, Mais, Kartoffel, Baumwolle, Zuckerrohr und Soja. Fast 90% dieser Sorten sind dabei von nur sechs multinationalen Unternehmen patentiert.
Darunter befindet sich z.B. auch die Patentierung für die Roundup Ready Sojabohne (RRS) des Chemiemultis Monsanto.1 RRS ist genetisch so verändert, dass die Pflanzen gegen den Wirkstoff Glyphosat (einer der Wirkstoffe im firmeneigenen Totalherbizid Roundup) resistent sind. Der Patentschutz für Roundup läuft in diesem Jahr ab. Daher versuchte Monsanto, das Saatgut über exklusive Lizenzverträge zu verkaufen und die Käufer an sich zu binden. Das ertragreiche Saatgut erhält nur, wer sich vertraglich verpflichtet, ausschließlich Roundup von Monsanto einzusetzen, jederzeitigen Kontrollen durch Monsanto zuzustimmen und unter Androhung hoher Strafen auf den Nachbau zu verzichten, d.h. der Verwendung von Teilen der eigenen Ernte als Saatgut im Folgejahr. Doch kürzlich verhinderte der Einspruch von Verbraucherorganisationen und Umweltschützern vorläufig die Anbaugenehmigung von RRS in Brasilien. Für Monsanto ein massives Problem, denn sowohl die Vorverträge mit den Bauern als auch Handelsverträge liegen damit auf Eis, zumal auch der internationale freie Handel mit gentechnisch veränderten Produkten umstritten ist (vgl. Kasten).
Pädagogische Märsche
Das Interesse der Saatgutfirmen an der Einführung gentechnisch veränderten Saatguts ist offensichtlich: Der Bauer müsste Saatgut und Pestizide als Gesamtpaket kaufen und dürfte mit seiner Ernte keinen Nachbau betreiben, muss also jährlich neu einkaufen. Viele Brasilianer wehren sich gegen diese Vereinnahmung. So war der Aufbau eines nationalen Bündnisses gegen transgene Lebewesen, das sich aus politischen Parteien, NGOs sowie Bauern und Bäuerinnen zusammensetzt, einer der Vorschläge des »Internationalen Seminar zu Biodiversität und gentechnisch veränderten Lebewesen« in Brasília. Mehr als zwanzig Nichtregierungsorganisationen haben dort im letzten Jahr das »Manifest für ein gentechnikfreies Brasilien« beschlossen. Darin werden die Probleme für die Gesundheit der Konsumenten, der Rückgang der Kulturpflanzenvielfalt, die genetische Erosion, die unkontrollierte Genübertragung in der Natur, die Gefahren neuer »Superschädlinge«, die Monopolstellung der Chemiekonzerne, Folgen für die Umwelt und nicht zuletzt die verfehlte Regierungs- und Informationspolitik des Staates thematisiert.
Vorreiter einer anderen Politik ist der Bundesstaat Rio Grande do Sul. Ihn erklärte der Gouverneur Olívio Dutra, von der Arbeiterpartei PT, zur gentechnikfreien Zone. Unter Aufsicht seines Landwirtschaftsministers wurde illegal von Monsanto angebauter Genreis geerntet und an Ort und Stelle verbrannt. Mehrere tausend Personen demonstrierten auf einer ersten Massenkundgebung massiv gegen den Einsatz transgener Lebewesen. In ihrem Manifest erklärten sie, dass die sozialen Bewegungen, Umweltschutzverbände, Verbraucherorganisationen, Bauern und Bäuerinnen, Gewerkschaften, Landlose und Kooperativen für eine von transgenen Lebewesen freie Welt arbeiten und dabei in Rio Grande do Sul beginnen würden.
Ein ähnliches Bündnis findet sich in der Forderung nach einer Agrarreform zusammen. Die Landlosenbewegung MST hat dabei im letzten Jahr eine neue Aktionsform ausgebaut: die pädagogischen Märsche. Der Landlosenbewegung gelingt es – bei häufiger Präsenz in den Medien – auf ihren Fußmärschen über tausende von Kilometern die Bevölkerung zu mobilisieren und zu solidarisieren. Unterwegs wird in Schulen, Kirchen oder Gemeindesälen mit Vorträgen über die Agrarpolitik Station gemacht. Der Erfolg dieser Aufklärung ist überwältigend und wird von der Regierung gefürchtet. Die Märsche beziehen ein breites Spektrum oppositioneller Kräfte ein. Inzwischen hat MST eine Vorreiterrolle (auch bedingt durch seine integrative Kraft) in der Opposition inne. Der Marsch von Rio de Janeiro nach Brasília endete mit Massenkundgebungen von hunderttausend Menschen gegen die neoliberale Politik Cardosos.
Anmerkung:
- Als bedeutende Welthandelsfrucht wurde Soja schon frühzeitig für die Gentechnik interessant. Dabei ging es vor allem um zwei Aspekte: die landwirtschaftliche Produktion (Herbizid-, Insektizid- und Soja-Mosaikvirusresistenz) und die industrielle Verwertbarkeit (höherer Methioningehalt des Eiweiß und höherer Öl- bzw. Linolsäuregehalt). Schon 1997 wurden 20% der US-amerikanischen Sojaflächen, also 5 Millionen ha, mit RRS angebaut. Brasilien ist mit 11,66 Mio. Hektar Sojaanbaufläche nach den USA (24,94 Mio. ha) der zweitgrößte Produzent von Soja und weltweit der größte Exporteur von Sojaschrot und -öl. Hauptabnehmer ist die EU: Sie importiert 80 Prozent der brasilianischen und 78 Prozent der argentinischen Bohnen, sowie 80 bzw. 60 Prozent der Sojaschrotexporte.
Wolfgang Hees ist Brasilien-Referent bei Caritas International.
TRIPs:
Ein weltweites Abkommen...
Das TRIPs-Abkommen (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) der Welthandelsorganisation WTO regelt handelsbezogene Aspekte des geistigen Einkommens: Patente, Lizenzen oder Warenzeichen. Umstritten ist das Teilabkommen vor allem im biotechnologischen Bereich. Wenn Personen oder Konzerne die Rechte an Genen und deren Vermarktung erlangen, müssen Landwirte für die Nutzung von Pflanzen und Saatgut künftig teuer bezahlen. Ziel des Vertrages ist außerdem der freie Welthandel mit gentechnisch veränderten Produkten. Dem steht allerdings das im Februar beschlossene Biosafety Protokoll entgegen, das Sicherheitsstandards für den internationalen Verkehr mit gentechnisch modifizierten Organismen festschreibt. Welches Abkommen für den Handel mit Gentech-Waren künftig ausschlaggebend sein wird, beschäftigt derzeit noch die Juristen (vgl. auch Kommentar S. 4).
…und ein kleines Dorf im Kaiserstuhl
Während wenige transnationale Firmen aus dem Bereich Saatgut, Nahrungsmittel und Agrochemie bereits die Hälfte des Weltsaatgutmarktes kontrollieren, hat sich in der 3000 Einwohner kleinen Gemeinde Eichstetten am Kaiserstuhl eine kommunale Initiative aus Bauern und Bäuerinnen sowie Gärtnern/Gärtnerinnen gegründet, die ihr Saatgut für den Eigenbedarf und zum Verkauf in der Region selber produzieren will. Sie will das Potenzial »alter« Marktsorten, vor allem im Gemüsebereich, die nicht mehr durch Nachbaugebühren geschützt werden, ausschöpfen. So soll ein Erhaltungszuchtgarten mit traditionellen Obst-, Reb- und Gemüsesorten eingerichtet werden. Durch Auslesezüchtung »neuer« Sorten soll zudem gewährleistet werden, dass das Saatgut und die landwirtschaftlichen Produkte auf umwelt- und sozialverträglichen Anbauweisen beruhen und nicht gentechnisch verändert sind. Neben dem Ziel, neue Einkommensmöglichkeiten in der Landwirtschaft zu schaffen, sieht sich das Projekt der Eichstetter Saatgutinitiative der Umweltkonferenz in Rio 1992 verpflichtet. Dort wurde der Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt als weltweite Aufgabe definiert.
Im wichtigsten Bereich der Initiative »der Saatgutvermehrung und Auslesezüchtung« werden in diesem Jahr sieben Betriebe die ersten Erfahrungen auf ihren Höfen sammeln. Die Saatgutaufbereitung und Vermarktung soll gemeinsam erfolgen. Denn während sich Pflanzenzuchtkonzerne in der ganzen Welt Landsorten, Wildpflanzen und »lokales Wissen« kostenlos aneignen und Bauern und Bäuerinnen für die »verbesserten« Sorten Lizenzgebühr beim Nachbau und Verkauf des Saatgutes zahlen, soll das produzierte Eichstetter Saatgut und die Vielfalt der erhaltenen Sorten der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Um der Privatisierung entgegen zu arbeiten, wird momentan im Projekt eine geeignete Trägerschaft gesucht, in der sich neben der idealen Rechtsform für die Aktivitäten auch das »geistige Gemeineigentum« widerspiegelt. Das Projekt möchte dabei auch politisch agieren und steht in Kontakt mit ähnlichen Initiativen in Europa und Brasilien – u.a. mit der Landlosenbewegung MST. Geplant ist auch die Einrichtung einer Ländlichen Akademie.
Anette Homlicher
(Weitere Informationen: gemeinde@eichstetten.de)
Brasilien: Armut und Selbstermächtigung
Get up, stand up
Armutsbekämpfung von unten in einer brasilianischen Kleinstadt
Armut und Reichtum liegen selten näher beieinander als in den Touristenregionen der Dritten Welt. So auch im brasilianischen Itacaré. Doch die dort lebenden Armen wollen sich nicht einfach mit dem Wohlstandsgefälle abfinden. Mittels Selbstorganisation und konkreter Projekte der Armutsbekämpfung »von unten« versuchen sie, der Zwangsglobalisierung durch Tourismus positive Seiten abzugewinnen.
von Thomas Seibert
In der Region um Itacaré im Bundesstaat Bahia an der Nordostküste Brasiliens wurde einmal im großen Stil Kakao angebaut. Als der Wert des »braunen Goldes« auf dem Weltmarkt in den Keller sackte, ging eine Plantage nach der anderen in Konkurs. Damit brach die gesamte Ökonomie der Costa do Cacau zusammen, denn auch Handel und Gewerbe hingen an dem Geld, das auf den Plantagen verdient wurde. Wem Ersparnisse blieben, der verließ die Gegend, um anderswo sein Auskommen zu suchen. Itacaré und das Land um die Mündung des Rio de Contas wurden von der Welt vergessen. Wer zurückgeblieben war, schlug sich mit Fischfang und einem bisschen Landwirtschaft durch. So entstand eine Subkultur der Selbstversorgung, in der Geld aus purem Mangel kaum eine Rolle spielte. Die Wasserrechnungen beispielsweise beliefen sich lediglich auf ein paar Centavo, weil der Verbrauch mangels Zählern nicht zu kontrollieren war. Zapfte man illegal einen der windschiefen Strommasten des Ortes an, gab es kostenfrei Elektrizität – wenn auch nur stundenweise.
Im März 1998 war es damit vorbei. In Anwesenheit des Gouverneurs von Bahia und eines Vertreters der Weltbank eröffnete der Bürgermeister von Itacaré die Bundesstraße BR 001. Die erschloss das weltabgewandte Küstenland binnen kürzester Zeit dem internationalen Tourismus. Für die Investoren eine lohnende Sache: die von Kokospalmen umsäumten Strände Itacarés brauchen keinen Vergleich zu scheuen, die umliegenden Regenwälder gehören zu den artenreichsten der Welt, die Unterkünfte zielen in Bauweise und Größe auf Gäste, die sich ihr ökologisches Bewusstsein schon mal was kosten lassen. Die »Surf City« Itacaré wurde zum angesagten Reiseziel der jeunesse d’orée nicht nur Brasiliens. Für die Leute vor Ort brachte das zahlreiche Veränderungen: in kurzer Zeit trieb die Spekulation die Bodenpreise in die Höhe und wurden die Strände privatisiert.
Mit dem (Wieder-) Anschluss an den Weltmarkt zog es allerdings nicht nur die Reichen, sondern auch die Armen nach Itacaré. Leute, die auf einen Job wenigstens für eine Saison hoffen, verdingen sich als Putzfrau im Hotel, Kellnerin in einem Restaurant, Bademeister am Swimmingpool, als Fahrer oder Dienstbote. In nur drei Jahren wuchs die Bevölkerung um mehr als ein Drittel. Viele zogen dahin, wo seit jeher schon die Ärmsten wohnen, nach Porto de Traz (zu deutsch »Hafen nach hinten raus«).
Der seit Fertigstellung der Hotels im ganzen Ort rasant gestiegene Strom- und Wasserverbrauch hatte auch in Porto de Traz Auswirkungen. Die Behörden kappten die illegalen Stromleitungen und statteten die Hütten mit Zählern aus; wer die plötzlich um ein Vielfaches erhöhten Rechnungen nicht zahlen konnte, wurde von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Zugleich brach die städtische Müll- und Abwasserentsorgung zusammen. Die sowieso kümmerlich ausgestatteten Schulen platzten aus allen Nähten. Jetzt stehen bettelnde Kinder an der Straße, die Itacaré mit der Welt verbindet.
Gesundheit in der Krise
Auch der öffentliche Gesundheitsdienst des Ortes steckt tief in der Krise. Trotz schwieriger Bedingungen versucht jedoch eine kleine Klinik wenigstens die Grundversorgung der mittlerweile 25.000 EinwohnerInnen zu sichern. Den MitarbeiterInnen der Klinik reicht ihr Lohn allein nicht zum Überleben. Der Verwaltungschef betreibt nebenher einen Billardsalon, der Chefarzt bessert sein Gehalt mit den Erträgen einer kleinen Farm auf. Zustände, die auch nach der offiziellen brasilianischen Gesundheitspolitik eigentlich nicht hinzunehmen sind. Die sieht eine von qualifiziertem Personal zu leistende kostenlose Basisgesundheitsversorgung der Bevölkerung vor, gestützt auf umfassende Maßnahmen der sozialen Prävention wie der kurativen Medizin. In Porto de Traz jedenfalls kann davon keine Rede sein, hinsichtlich der Prävention nicht und erst recht nicht hinsichtlich einer auch gerätetechnisch qualifizierten klinischen Heilbehandlung. Wer ernsthaft krank wird, muss zusehen, von hier wegzukommen, am besten gleich nach Salvador. Das gilt natürlich nicht für die TouristInnen im nahe gelegenen Praia da Concha. Die werden privat versorgt, von selbständigen Ärzten, deren Einkommen das des Klinikpersonals weit übersteigt.
Ausgebremst durch Bürokraten
Angesichts dieser Situation kam die Klinikleitung auf eine ebenso originelle wie den sich drastisch verschlimmernden Umständen angemessene Idee. Statt die Ausstattung der Klinik wie ursprünglich vorgesehen in kleinen Schritten über Jahre zu verbessern, wollte man »groß« einsteigen. Man suchte einen Geldgeber, der bereit war, die geplanten Anschaffungen von medizinischen Geräten usw. auf einen Schlag zu finanzieren. Denn warum eigentlich sollen dörfliche Fischer und Subsistenzbauern nicht auch Zugang zu einer Versorgung haben, die in Brasilien faktisch nur für Angehörige der höheren urbanen Mittelklasse oder eben für zahlungskräftige Touristen vorgesehen ist? Ihr umfassend erweitertes Behandlungsangebot wollte die Klinik dann beim staatlichen Gesundheitssystem SUS abrechnen und damit ihre Einkünfte entsprechend erhöhen – nicht, um die eigenen kargen Gehälter zu verbessern, sondern um vor Ort diverse Präventionsprogramme finanzieren zu können. Der Geldgeber hätte seinen Kredit so gleich für zwei gute Zwecke eingesetzt: Durch sein Geld wären die technischen und ökonomischen Kapazitäten der Klinik langfristig so verbessert worden, dass die Klinik aus ihren Mehreinnahmen noch einmal denselben Betrag hätte aufbringen können, um selbst helfend einzuspringen.
Ein Projektantrag der Klinik erreichte medico international in Frankfurt. Nach Besuchen vor Ort beantragte medico Hilfsmittel der Europäischen Union. Dem Antrag wurde stattgegeben und alles sah so aus, als ob der Anschluss Itacarés an den Globalisierungsprozess auch unvorhergesehene positive Effekte zeitigen könnte. Doch hatte man die Rechnung ohne das Gesundheitsministerium in Salvador gemacht, das noch drei Jahre später nicht entschieden hatte, ob es der Klinik den Einsatz der Geräte und damit die entsprechenden Abrechnungen erlauben würde oder nicht. Selbst das mehrfach vorgetragene Argument, dass die Klinik in eigener Initiative endlich die Leistungen erbringen wolle, auf die die BürgerInnen Brasiliens einen gesetzlich garantierten Anspruch haben, zog bei den Bürokraten in Salvador nicht.
Weil damit ein nicht unerheblicher Teil der bewilligten EU-Mittel für den ursprünglichen Zweck nicht mehr einzusetzen war, finanzierte medico jetzt direkt die Präventionsprogramme, die mit den Gewinnen der Klinik bezahlt werden sollten. Denn Gesundheit hat nicht nur mit ärztlicher Hilfe und Medikamenten zu tun. In erster Linie ist sie eine politische Angelegenheit, die von einer intakten Umwelt, angemessenem Wohnraum, ausreichender Ernährung und einem Einkommen abhängt, das der Vielfalt der sozialen Bedürfnisse entspricht. Und von der Teilhabe an einem freien Gemeinwesen, denn individuelle und soziale Selbstbestimmung sind das einzige Mittel, um allen die Güter des Lebens zu sichern.
Erste Anlaufstelle der Präventionsprogramme war Porto de Traz. Die meisten BewohnerInnen des Hafenviertels leben vom Krebs- und Fischfang, den sie mit Einbaum, Ruder und Netz betreiben. Die Boote sind Gemeinschaftsbesitz, denn nur wenigen gelingt es, mehr als das Überlebensnotwendige zu erwirtschaften. Zwölf Stunden Arbeit an sieben Tagen der Woche erbringen gerade mal den staatlichen Mindestlohn von 180 Reais. Um die Mikropolitiken ihrer Gemeinde besser organisieren zu können, haben die Leute eine Nachbarschaftsvereinigung gegründet, die »Associacao dos Moradores do Porto de Traz«. Auf deren Versammlungen wird ausgefochten, was im Viertel von Belang ist. Dem Vorstand fällt dann zu, die Einhaltung der Beschlüsse zu überwachen, die nach gelegentlich heftig geführter Debatte verabschiedet werden. So wurden beispielsweise die an Land gebliebenen Männer verpflichtet, sich um die Kinder der Frauen kümmern, die zum Fischen und Krebsfang raus fahren.
Familienangelegenheiten
In letzter Zeit aber ging es meistens um das Problem, das im Hafenviertel allen buchstäblich in die Nase sticht – die Abwasserentsorgung. Es fehlen sanitäre Anlagen, fließendes Wasser und ein funktionierendes Leitungssystem. Die Abwässer werden über offene Erdrinnen abgeleitet, in denen auch Bauschutt und Haushaltsmüll verrotten. Bei jedem Regen ergießt sich der Unrat über die Wege, fließt mitten durch die kleinen Hütten, in denen bis zu zehn Männer, Frauen und Kinder leben. »Wenn nicht bald was passiert, wird das eine Katastrophe«, sagt der Vorsitzende der Associacao, der sich Bob Marley nennt. »Vor dem Tourismus war unsere Lage auch nicht rosig, heute aber gehen fünf mal so viel ungeklärte Abwässer in den Fluss. Es stinkt zum Himmel, alle Wege verschlammen, die Fisch- und Krebsgründe in Ufernähe werden völlig verseucht. Wir müssen ständig weiter raus fahren. Das bedroht unser Überleben. Aber die Stadtverwaltung kümmert sich bloß um die Touristen. Manche hoffen auf den Ausbruch der Cholera, damit sich endlich was tut.«
‘Bob Marley’ und die Leute von Porto de Traz hoffen nicht länger auf staatliche Hilfe. Statt dessen organisieren die Familien des Viertels in Eigeninitiative die Säuberung des Mangrovensumpfes von Müll und ungeklärten Abwässern und die Anlage von Sickergruben. Über die Associacao baten sie medico um die Finanzierung einer Vorstudie für ein angepasstes Abwassersystem.1 Im Januar kamen Ingenieure nach Porto de Traz, im Juli war die Studie fertig, jetzt haben die Arbeiten begonnen. Die neue Kanalisation ist ein ökologisches, ökonomisches und medizinisches Projekt: sie dient zugleich dem Schutz der Umwelt, der Erhaltung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage und der Abwehr von Infektionskrankheiten.
Sie ist aber auch ein politisches Projekt. Denn die Hütten sind eng beieinander wild ins Gelände gebaut und das neue Leitungssystem samt Auffangbecken betrifft einige Grundstücke mehr als andere. Wo die großen Abflussrohre durchlaufen, kann nicht gebaut werden. Weil freie Grundstücke aufgrund des steten Zuzugs rar sind, geht das nicht ohne Streit ab. »Familienangelegenheiten«, sagt ‘Bob Marley’, »und die lösen wir besser ohne Einmischung der Stadtverwaltung.« Trotzdem begleiten nicht nur Ingenieure und Handwerker, sondern auch unabhängige Sozialarbeiter die Eigeninitiative der Leute. Denn im »Hafen nach hinten raus« wissen alle, dass die Stadtverwaltung das Viertel am liebsten räumen würde: »Wir sollen die Entdeckung Itacarés durch den Tourismus mit der Vertreibung aus unserem Stadtteil bezahlen. Doch die haben sich verrechnet«, ist sich ‘Bob Marley’ sicher.
Anmerkung:
- Zum Itacaré-Projekt gehören neben der Unterstützung der Klinik und der Associacao auch die ökonomische Förderung von Kleinbauern, die sich weigern, ihr Land an Investoren zu verkaufen und sich statt dessen um die Wiederaufforstung des Regenwaldes kümmern, sowie eines Hauses für rund 100 Kinder der Armenviertel. Weitere Infos unter info@medico.de.
Thomas Seibert ist Mitarbeiter von medico international.
Brasilien: Central do Brasil
Eine filmische Reise durch das Brasilien der Gegenwart
von Volker Kull
An Heiligabend kommt der auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film »Central Station« (Central do Brasil) des brasilianischen Regisseurs Walter Salles in die deutschen Kinos. Perfekt inszeniertes, gefühlsbetontes Kino mit einem Schuß verklärter brasilianischer Authentizität wird den Zuschauern ein bewegendes Weihnachtsfilmereignis bescheren.
Abgestumpft und ihrer zwischenmenschlichen Gefühle beraubt, führt die ehemalige Lehrerin Dora ein von trister Routine bestimmtes Leben. Umgeben von anonymen Menschenmassen, sitzt sie tagein tagaus an einem kleinen Tisch inmitten des Hauptbahnhofs von Rio de Janeiro. Seit sie pensioniert ist, verdient sie sich als Briefeschreiberin ein Zubrot zu ihrer kleinen Rente. Ihre Kunden sind die vielen Analphabeten Rio de Janeiros. Voller Hoffnung und Vertrauen wenden sie sich an Dora, um ihren Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen. Dora jedoch ist weit entfernt, das in sie gesetzte Vertrauen zu erfüllen. Im Gegenteil: Zuhause setzt sie sich mit ihrer Freundin Irene zusammen und diskutiert selbstgerecht und voller Gleichgültigkeit gegenüber den individuellen Schicksalen ihrer Kunden, welcher Brief es Wert sei, abgeschickt zu werden, welcher im Papierkorb landen oder in der Schublade zwischengelagert werden soll.
Ein dramatisches Ereignis verändert alles. Eine Kundin, die gemeinsam mit ihrem Sohn Dora gebeten hatte, einen Brief an ihren seit Jahren verschollenen Mann und Vater des Jungen zu schreiben, kommt vor dem Bahnhof ums Leben. Nach einigem Zögern nimmt sich Dora des Waisen an, dem die Gefahr droht, zu verwahrlosen und in der Masse der Straßenkinder von Rio zu verschwinden. Zunächst verbindet Dora mit ihrer Anteilnahme handfeste materielle Interessen. Sie verkauft den kleinen Josué für tausend Dollar an eine Vermittlungsstelle für Waisenkinder. Doch sie bekommt Gewissensbisse. Wenn der Junge nicht, wie die Vermittler behaupten, zu einer reichen Familie in die USA oder nach Europa vermittelt wird? Wenn er vielmehr getötet wird und seine Organe verkauft werden? Auf keinen Fall möchte sie am Tod des Jungen schuld sein. Sie beschließt, ihn zu retten. Nun ist auch sie in Gefahr. Sie ist gezwungen, mit dem Jungen aus Rio zu flüchten. Die beiden begeben sich auf die Suche nach dem Vater des Jungen. Es beginnt eine lange Reise durch das Brasilien der Gegenwart, von Rio in den Sertão, die ärmste Region im Nordosten des Landes. Was als überstürzte Flucht aus dem Moloch Rio beginnt, entwickelt sich zur Suche einer Frau und eines Landes nach ihrer Identität.
Inmitten Brasiliens
Das Roadmovie Central Station ist ein Film, der das Publikum knapp zwei Stunden in seinen Bann schlägt. Der Film bietet über weite Strecken gute Unterhaltung und ist darauf angelegt, die Gefühle der Zuschauer tief zu berühren. Central Station oder ‘›Inmitten Brasiliens‹, wie die Übersetzung des Orginaltitels Central do Brasil lautet, ist die filmische Reise durch ein Land, das durch scheinbar unvereinbare Gegensätze gekennzeichnet ist. Jedoch verklärt der Film die soziale Realität Brasiliens durch klischeehafte Beschreibungen, die an soziale Nostalgie erinnern. Der Anonymität der Großstadt stellt Regisseur Walter Salles die soziale Eingebundenheit und Geborgenheit der Landbevölkerung gegenüber. Im Unterschied zur Stadt kommunizieren die Menschen auf dem Land miteinander. Der Glaube an materielle Werte, der die Menschen in der Großstadt bestimmt, ist in diese abgelegene Gegenden noch nicht vorgedrungen. Trotz oder gerade wegen ihrer großen Armut hat sich die Bevölkerung den Glauben an Gott und das Vertrauen in die Menschen bewahrt.
Mit Hilfe einer durchdachten Filmsprache gelingt es Walter Salles, die Übergänge vom einen in das andere Stadium glaubwürdig zu präsentieren. Eindrucksvolle Bilder und der sorgfältige Wandel der filmischen Stilmittel lassen die stereotype Darstellung Brasiliens beinahe vergessen. In den Bahnhofshallen Rios dominieren Naheinstellungen die Szenerie. Die Schnitte sind hart. Die Hintergrundtöne verzerrt und schrill. Die Filmsprache unterstreicht eindrücklich die Personen in ihrer Vereinzelung und Einsamkeit. Sie werden ohne jeglichen Bezug zu ihrer sozialen Lebenswelt dargestellt.
Während der Reise weitet sich der Kamerablick ganz allmählich. Je weiter sich Dora und Josué von der Stadt entfernen, desto mehr weichen die Naheinstellungen halbtotalen oder totalen Einstellungen. Die Bilder bekommen Tiefenschärfe. Die Personen werden in einen sozialen Kontext eingebunden. Zugleich wird die Tonspur klarer, die Töne wahrnehmbar. Die Menschen sind nicht mehr dem hektischen, undurchdringlichen Treiben der Großstadt ausgeliefert. Eindeutige, religiöse Werte bestimmen das Leben im Sertão.
Diese langsame Veränderung der Filmsprache beschreibt jedoch nicht nur den Wandel der äußeren Realität. Zugleich ist sie Indikator für die Entwicklung der inneren Zustände der Protagonisten. Am Ende finden Dora und Josué zueinander und Dora schließlich zu sich selbst. Unterstützt wird die Filmsprache durch die schauspielerische Leistung von Fernanda Montenegros. Ihre Wandlung von der zynischen Kleinunternehmerin zu einer Frau, die – so will es der Film – ihre Weiblichkeit wiederentdeckt und schließlich zur mütterlichen Gefährtin des kleinen Josués wird, ist so überzeugend dargestellt, daß sie zu Recht mit dem silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
Ästhetik des Glaubens
Zweifellos steht Walter Salles in der großen Tradition des brasilianischen Kinos. Doch im Laufe der Jahre haben sich die Konnotationen verändert. Bereits in den 60er und 70er Jahren war der Sertão, die arme, unterentwickelte Region im Nordosten Brasiliens, zentraler Handlungsort zahlreicher Filme. Damals jedoch, in Filmen wie Vidas secas (Nach Eden ist es weit, 1963) von Nelson Pereira dos Santos oder Deus e o diado na terra do sol (Gott und Teufel im Land der Sonne, 1964) von Glauber Rocha, war der Sertão ausschließlich Ort des Hungers und der sozialen Revolte.
Bei Salles hingegen wird aus der bitterarmen Region ein Ort der Hoffnung für ganz Brasilien. In Central Station reagiert die Landbevölkerung des Sertão auf ihre Armut nicht mehr mit Gewalt, wie dies Glauber Rocha in seinem kinematographischen Manifest Die Ästhetik des Hungers Anfang der 60er Jahre ausgedrückt hat, sondern mit Religiosität. Aus der Ästhetik des Hungers ist eine Ästhetik tiefen religiösen Glaubens geworden. Fatalismus und Gottvertrauen treten an die Stelle persönlicher Handlungsfähigkeit. Die Skepsis, die diese Verschiebung hervorruft, wird durch den Umstand verstärkt, daß nur die rasant an Popularität gewinnende, aggressiv missionierende evangelistische Kirche explizit genannt wird. Nur als kleines Beispiel: Die evangelistische Kirche ist im November in die Schlagzeilen gekommen, weil sie Homosexualität als »Dämonenwerk« verurteilt hat und homosexuelle Brasilianer »heilen« will. (Neue Züricher Zeitung vom 12.11.1998). Die afrobrasilianischen Religionen, obgleich wichtige Elemente zeitgenössischer brasilianischer Kultur, spielen in Central Station ebensowenig eine Rolle für das gesellschaftliche und kulturelle Leben Brasiliens wie die Traditionen der zahlreichen indigenen Völker. Die selektive Auseinandersetzung mit Religion legt es nahe, die verschiedenen Identitätskonstruktionen in Central Station als ausschließliche Perspektive der weißen, privilegierten Bevölkerungsmehrheit zu deuten.
Ein weiterer Aspekt fällt auf. Begaben sich Filmemacher wie Fernando E. Solanas in El viaje (Die Reise) oder Jeanine Meerapfel in Amigomio noch auf die Suche nach einer kollektiven, panlateinamerikanischen Identität, die stark von der indigenen Tradition des Kontinents beeinflußt ist, verlagert Salles in Central Station die Suche auf das Individuum und auf sein eigenes Land, Brasilien. Darin mag sich zum einen die Haltung der Brasilianer manifestieren, sich von den anderen, spanisch kolonisierten Nachbarländern abzugrenzen. Zum anderen ist dies aber ein Kennzeichen, das Salles mit anderen lateinamerikanischen Filmemachern der jüngeren Generation teilt, beispielsweise mit dem Bolivianer Marcos Loayza, dessen Film Escrito en el agua (Auf’s Wasser geschrieben) ebenfalls bei der Berlinale zu sehen war.
Auch filmästhetisch bedient sich Central Station anderer Ausdrucksformen als die lateinamerikanische Filmtradition. Die realistische Erzählweise erinnert eher an den europäischen Autorenfilm als an die Filmemacher des cinema novo bzw. nuevo cine latinoamericano der 60er und 70er Jahre. Im Unterschied zu den Filmen eines Glauber Rocha oder Jorge Sanjines fehlen Central Station die großen metaphernreichen Bilder und die Radikalität der Filmsprache. Der Film bestätigt damit eine Tendenz, die sich im lateinamerikanischen Kino der Gegenwart herauskristallisiert: »Als Sanjines 20 Jahre alt wurde, da hatte in Kuba gerade die Revolution gesiegt. Als ich 20 Jahre alt wurde, hatte die Revolution in Nicaragua gerade die Wahlen verloren.« Mit diesen Worten bringt der bolivianische Filmemacher Marcos Loayza den Wandel des lateinamerikanischen Kinos auf den Punkt. Die Zeiten, in denen sich die radikalen politischen Veränderungen in einer revolutionären Filmsprache und der Suche nach einer eigenen, innovativen und authentischen filmischen Ausdrucksweise geäußert haben, sind vorbei. Die idealistische Aufbruchstimmung der 60er und 70er Jahre ist verschwunden. Viele Filmemacher bedienen sich heute einer globalen Erzählweise. Sicherlich ist dies eine Folge der vom Westen diktierten Marktgesetze, deren Konsequenzen für die brasilianische Bevölkerung Central Station gerade thematisiert.
Durch diese globale Erzählweise erreichen die Filme – auf Kosten der filmsprachlichen Authentizität – ein breites Publikum und sind auch mit unseren europäischen Rezeptionsgewohnheiten ohne größere Probleme verstehbar. Das internationale Publikum muß sich nicht erst mit dem Dekodieren narrativer Strukturen beschäftigen, die aus fremden Erzähltraditionen stammen. Dadurch finden die Filme den Weg in die europäischen und US-amerikanischen Kinos. Und auch dem heimischen Publikum, dessen Rezeptionsgewohnheiten zwischenzeitlich sehr stark durch europäische und US-amerikanische Ästhetik beeinflußt sind, sind die Filme leichter zugänglich.
Volker Kull ist Ethnologe. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit ethnographischem Dokumentarfilm und mit lateinamerikanischem, kubanischem und schwarzafrikanischem Kino.
Brasilien: Der Mythos der Monokultur
Fragen an die brasilianische Zuckerindustrie
von Ingo Melchers
João Cabral de Melo Neto hat 1955 in seinem berühmten Epos „Tod und Leben des Severino“ den Weg des Landflüchtlings mit dem Allerweltsnamen Severino beschrieben, den zunächst naiven und dann tief verzweifelten Migranten aus dem trockenen Sertão, der sich auf den Weg und auf die Suche nach Arbeit und Leben macht. Als er – nahe der Küste – das feuchte Klima und die feuchte, weiche Erde und die überschießende Vegetation wahrnimmt, da glaubt er sich am Ziel seiner Reise. Überall sieht er Zuckerrohr, nur Zuckerrohr. Und er sieht fast niemanden arbeiten und denkt sich, das Land sei wohl so fruchtbar, dass die Menschen hier nicht jeden Tag des Monats und nicht alle Monate des Jahres und nicht alle Jahre des Lebens arbeiten müssen. Doch bald schon merkt Severino, dass der süße Reichtum der Zuckerregion nur sehr wenigen zugute kommt und ansonsten auch hier nur bittere Armut und nicht das von ihm ersehnte Leben herrscht. Die Erzeugung von Zuckerrohr und seiner Folgeprodukte hat sich im Brasilien der vergangenen Jahre verändert und modernisiert. Der folgende Beitrag fragt nach der brasilianischen und internationalen Zucker- wie Bioethanolkonjunktur und ihrer möglichen Auswirkungen auf die sozialen Auseinandersetzungen.
Das Zuckerrohr hat seit fast 500 Jahren etwas wie eine mythische Macht. Das in der Zeit und in der Fläche ewige Zuckerrohr, die monströsen Zuckerfabriken, die Sklaverei, die Unterbeschäftigung und elendige Bezahlung für körperliche Schwerstarbeit, die ausgemergelten 30-Jährigen, die wie 60 aussehen, etwas, gegen das sich zu wehren sinnlos schien. Und wenn es versucht wurde, hat es immer Polizei, Militär, Anwälte oder auch private Kommandos gegeben, die den Zuckerherren dienstbar und ergeben waren. Zu dem Mythos gehört auch, dass es keine landwirtschaftliche Alternative zum Zucker geben soll. Das Zuckerrohr reicht bis an die Baracken der Arbeiter heran, die meisten wissen kaum, wie Bohnen, Reis oder Yucca oder Yam angebaut werden, von Tierhaltung verstehen sie wenig und sie sind keine Bauern, die es gewöhnt sind unternehmerische Entscheidungen zu treffen, weil sie nur Zuckerrohrschneiden kennen und nur dafür bezahlt werden, und das auch nur für vier oder sechs Monate pro Jahr, wenn sie Glück haben. Alternativen denken ist ein Wagnis. Geld und Arbeitskraft in etwas Unbekanntes zu investieren kann morgen Hunger bedeuten. Viele, die Zugang zu einem Flecken eigenes Land haben, produzieren daher häufig wiederum Zuckerrohr und liefern es bei der alten Fabrik ab. Es ist das einzige Produkt, von dem sie wissen, wie es erzeugt, und vor allem, wie es vermarktet wird. Die Monokultur auf dem Land und in der Agrarpolitik und in den Köpfen. Die, die Alternativen denken und umsetzen wollen, wie die Landlosenbewegung MST und die Landpastoral CPT, wollen mit der Oligarchie auch das Zuckerrohr entmachten, wollen Diversifizierung der Kulturen, wollen Grundnahrungsmittel zur Abschaffung des Hungers mit dem Anbau von Marktfrüchten mischen. Aber die wenigen Techniker, die zur Verfügung stehen, sind meist nicht ausreichend qualifiziert um auf den vom Zucker ausgelaugten Böden etwas anderes anzubauen, wissen nicht, welche Methoden notwendig sind um die Bodenfruchtbarkeit langfristig zu verbessern. Und die öffentlichen Förderbanken sind unflexibel und verschreiben nicht-angepasste Technik- und Produktpakete und geben oft die Kredite erst frei, wenn die Aussaatzeit vorbei ist. Monokultur.
Einige Nichtregierungsorganisationen arbeiten an Agroforstsystemen, die MST realisiert den Anbau von Heilpflanzen und tastet sich in ihren Ansiedlungen an ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Alternativen heran, einiges davon mit Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Ein Förderprogramm der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IBD) sieht 18 Millionen US-Dollar für die Diversifizierung der landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Aktivitäten vor. Eine systematische Förderung und Absicherung von alternativen Formen der Bodennutzung in der Zuckerrohrregion im Nordosten durch eine abgestimmte Agrarpolitik ist jedoch nicht erkennbar. Seit Jahren wird der Krise des Zuckerrohrs im Nordosten das Wort geredet. Schon als Cabral sein Werk über Severino schrieb, überholte der Bundesstaat São Paulo den historischen Zuckerproduzenten Pernambuco und danach fiel der Nordosten immer weiter zurück. Während São Paulos Zuckerproduzenten modernisierten, mechanisierten und die Produktion ausdehnten, nahmen ihre Kollegen im Nordosten wie gewohnt Kredite auf, selten in der Absicht, diese zurückzuzahlen, und nicht immer, um tatsächlich in die Produktion zu investieren. Bis heute erhalten die Zuckerproduzenten im Nordosten dank ihres politischen Einflusses auch in der fernen Hauptstadt Brasília die so genannte Preisangleichung, eine Subvention, die die höheren Kosten gegenüber produktiveren Regionen in Brasilien ausgleicht. Keine andere Kultur demonstriert krasser die historische Verbindung von Landbesitz und politischer Macht als eben das Zuckerrohr, wenngleich der Staat ab 1997 seine Intervention zugunsten der Zuckerproduzenten und –industrie deutlich reduziert hat.
1975 legten die Militärs das Proalkohol auf, das Programm zur Produktion von Alkohol als Biokraftstoff, um das nach dem Ölschock teuer gewordene Benzin zu ersetzen. 1986 hatten nach Angaben des Automobilverbandes ANFAVEA 76% aller in Brasilien produzierten Kraftfahrzeuge (einschließlich LKW) Alkohol-Motoren. Die Agonie des Zuckerrohrs und das Leiden der Severinos und der Severinas fand wiederum keinen Ausweg. Im Jahr 2000 hatte der Anteil der erzeugten Alkoholmotoren mit unter einem Prozent seinen Tiefpunkt erreicht. Die Experten kündigten das nunmehr endgültige Ende des Zuckers an. Beschäftigungsalternativen müssten geschaffen werden zu einem Zeitpunkt, als die Arbeitslosigkeit weiter angestiegen war und der Index für menschliche Entwicklung in der Region den vieler afrikanischer Länder unterbot und die Schulden der Zuckerproduzenten ins Unermessliche gestiegen waren. Allein bei der Sozialversicherung haben 25 große pernambucanischen Zuckerproduzenten und Destillierfabriken mindestens 362 Millionen Reais (ca. 120 Mio. Euro) Schulden, nicht abgeführte Sozialabgaben.
Welche Perspektiven haben das brasilianische Zuckerrohr und seine Derivate?
Präsident Lula hat bereits vor seiner Wahl gesagt, dass der „alte Diskurs” von den Zuckerherren, die ihre Schulden nicht zurückzahlen, nicht in alle Ewigkeit wiedergekäut werden solle. Die industrielle Verarbeitung landwirtschaftlicher Rohstoffe biete Brasilien die Chance, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern, und das Zuckerrohr und seine Folgeprodukte dürften da nicht ausgenommen werden. Und in der Tat hat in großen Teilen der brasilianischen Zuckererzeugung eine administrative und ökonomische Modernisierung stattgefunden, insbesondere in São Paulo und anderen südlichen und zentralen Bundesstaaten. Der Staat fungiert nicht mehr als der totale Preis- und Abnahmegarant, wie es zu Zeiten des Proalkohol und eigentlich zu allen Zeiten war. Es ist richtig, dass die Kosten der Zuckerproduktion im Nordosten mit ca. 300 US-Dollar pro Tonne fast doppelt so hoch sind wie in São Paulo, aber immer noch deutlich billiger als in der Europäischen Union mit 480 bis 710 US-Dollar (Agroanalysis, vol 23). Und hier, hauptsächlich in Frankreich und Deutschland, liefern sich Zuckerrübenerzeuger und die Zucker verwendende Industrie seit Jahren eine Schlacht der Lobbyisten. Die EU-Zuckermarktordnung mit ihren Quoten, produktions- und exportstimulierenden Subventionen ist erst einmal bis Ende Juni 2006 verlängert, aber das mag vielleicht der letzte Sieg der Rübenbauern sein. Global Alliance, ein potenter internationaler Lobbyverband, sowie die meisten Entwicklungsländer (außer den ehemaligen europäischen Kolonien Afrikas, der Karibik und des Pazifik, kurz AKP-Staaten) und Australien machen in der WTO Druck zugunsten einer deutlichen Reduzierung der Zuckersubventionen.
Das Infozentrum Zucker, ein Lobbyverband der deutschen Lebensmittelindustrie, gibt an, dass von den 2,8 Mio Tonnen Zucker, die in Deutschland jährlich konsumiert werden, lediglich 22 Prozent in die Haushalte gehen, der Rest findet in der Lebensmittelindustrie Verwendung. 26 Prozent allein in die Erzeugung von alkoholfreien Getränken. Zucker repräsentiert hier 10-15 Prozent des Verkaufspreises und es ist denkbar, dass Coca-Cola den Zucker aus Brasilien für 200 bis 300 US-Dollar dem europäischen für 500 bis 700 US-Dollar pro Tonne vorzieht. Der Selbstversorgungsgrad in der EU liegt bei etwa 130 Prozent, die entsprechenden Überschüsse werden subventioniert auf dem Weltmarkt abgesetzt. Es gibt mehr Interessen als gute Argumente um die Zuckermarktordnung in der bisherigen Form auch nach 2006 beizubehalten. Die Studie über die Neuordnung des europäischen Zuckermarktes auf Brasilien, die von FIAN und GTZ in Auftrag gegeben wurde (vgl. vorgangegangenen Beitrag von Klemens Laschefsky), kommt zu dem Ergebnis, dass die Zuckerproduktion im brasilianischen Nordosten mit ihren meist veralteten Anlagen und dem hügeligen Anbaugebiet, das eine Mechanisierung kaum zulässt, keine Perspektiven habe. Vielleicht. Aber werden die alten und die modernisierten „Grundherren” in Pernambuco und Alagoas das ebenso sehen? Werden sie nicht ihren Anteil der sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene insgesamt doch viel versprechenden Konjunktur beanspruchen wollen?
1997 wurde das Kyoto-Protokoll unterzeichnet, das unter anderem den Handel mit CO2-Emissionsrechten in die Debatte wirft. Reiche Länder mit hohem CO2-Ausstoß sollen demnach Kohlenstoff-Reduktions-Projekte in armen Ländern finanzieren, um sich ihren hohen Energie-Konsum zu erkaufen. Das Zuckerrohr wittert eine weitere Chance. Französische, deutsche und andere Konzerne kaufen sich in Brasilien in die Zucker- und Bioethanolproduktion ein, große Ölkonzerne beginnen ohnehin in alternative Energiequellen zu investieren. Brasilien scheint prädestiniert hier eine Vorreiterrolle zu spielen. Ein riesiger Markt, der bereits breite Erfahrung mit Alkohol betriebenen Autos hat. VW bietet als erster Autokonzern in Brasilien die sogenannte Flex-Fuel-Technologie an, die es erlaubt, dass ein Auto mit Benzin oder Bioethanol oder einer beliebigen Kombination beider Kraftstoffe angetrieben werden kann. Auf dem Johannesburger Umwelt-Gipfel unterzeichneten Deutschland und Brasilien 2002 eine Vereinbarung neuen Typs: Deutschland investiert 40 Mio Dollar zum Ankauf von Quoten zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen. Im Gegenzug verpflichtet sich die brasilianische Regierung zur Zahlung von 100 Millionen Reais, mit denen der Kauf eines alkoholbetriebenen Fahrzeugs mit je 1000 Reais subventioniert wird. Die Frage, ob dabei eine bestimmte Marke bevorzugt werden wird, kann niemand beantworten. Hinzu kommen neue oder alte Subventionen, Förderungen und internationale Konjunkturen. Die erlaubte Zumischung von Alkohol zum Benzin wird in Brasilien von 20 Prozent auf 25 Prozent erhöht. Und es werden wieder mehr Alkoholfahrzeuge gekauft, Tendenz deutlich und vermutlich schnell steigend. Am 28. Mai 2003 wurde entschieden, dass 500 Millionen Reais an Subventionen für die Lagerhaltung von Bioethanol für die beginnende Ernte bereitgestellt werden. Der Präsident des Verbandes der Zuckerrohrproduzenten von São Paulo, Eduardo Pereira de Carvalho, freut sich über den »risikofreien Vertrag«, denn die Vermarktung von 97 Prozent der zusätzlichen Produktion ist abgesichert. Die brasilianische Regierung will offensichtlich der Erfahrung von 1989 vorbeugen, denn damals haben die Produzenten ihr Alkoholangebot reduziert, weil die internationalen Zuckerpreise gestiegen waren und der Zuckerexport damit lukrativer war als die einheimischen Autos mit Bioethanol-Kraftstoff zu versorgen.
Die Vorstellung ist bestechend und besticht offenbar auch: Brasilien ist ein Land, in dem der weit überwiegende Anteil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen (Wasserkraftwerke) getätigt wird. Innerhalb einiger Jahre kann auch bei den Kraftstoffen für PKW in hohem Maß auf erneuerbare Quellen umgestellt werden. Ihre Nutzung erfolgt ohne die Freisetzung fossiler Treibhausgase. Damit qualifiziert sich Brasilien politisch und umwelttechnisch für die Produktion und den Export eines hochmodernen Produktes. Kein Zweifel, auch ein attraktiver volkswirtschaftlicher Vorteil, muss doch Brasilien auf Teufel komm raus eine positive Handelsbilanz erzeugen. In den USA wird ab 2004 zur Erhöhung der Oktanzahl das MTBE (Methyl-Tertiär-Buthyl-Ether), ein umweltbelastender und – wie jüngste Studien ergeben – krebserzeugender Zusatzstoff im Benzin, durch Alkohol ersetzt werden, was die Nachfrage nach Bioethanol sicher erhöhen wird. Zwar sitzen auch die US-Produzenten (Bioethanol aus Mais) in den Startlöchern, aber werden sie den gesamten Bedarf abdecken? Und werden sie sich langfristig gegen Importe aus anderen Ländern abschotten können? In Brasilien wird der Liter Bioethanol für 0,19 US-$ erzeugt. In den USA für 0,33 und in Europa für 0,55 US-$. Und so kommt auch ein im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) erstelltes und im Mai 2003 vorgestelltes Gutachten zu dem von Skeptikern bereits erwarteten Ergebnis: Ein Blick auf den wirtschaftlichen Kontext zeigt, dass zwar der Bedarf an Ethanol unter den veränderten Rahmenbedingungen erheblich steigen wird, seine Produktion jedoch in der EU zu kostspielig sei. Beim momentanen Rohölpreis von ca. 25 $ je Barrel sei Bioethanol etwa zwei- bis dreimal so teuer wie herkömmlicher Ottokraftstoff.
In Deutschland werden zur Zeit etwa 450 000 Tonnen MTBE dem Kraftstoff zugesetzt, die durch ca. 200 000 Tonnen Ethanol ersetzt werden könnten, informiert die KVG, ein Biokraftstoff-Unternehmen. Eine sehr niedrige Menge, wenn nicht nur die Zumischung von Bioethanol zu Benzin, sondern die Möglichkeit berücksichtigt wird, dass er den fossilen Kraftstoff an der Zapfsäule zumindest partiell ersetz.
Der internationale Handel mit Bioethanol steckt noch in den Kinderschuhen, doch aus einem Nischenmarkt kann sich in vergleichsweise kurzer Zeit ein großer Zukunftsmarkt entwickeln. Die Steuerbefreiung für Biokraftstoffe in Deutschland und die EU-Biokraftstoff-Richtlinie, die einen Zielwert von 5,75 Prozent Marktanteil für grünes Benzin bis zum Jahre 2010 vorsieht, weisen in diese Richtung. Nicht von der Hand zu weisen ist dabei die Möglichkeit, dass die Subventionen für die europäische Landwirtschaft sich auf diese neuen Produkte und die Beitrittsländer ausdehnen könnten und den Produzenten anderer Länder damit den Zugang erschweren oder verweigern. Konkret denken Interessenverbände bereits darüber nach, wie ethische Argumente gegen die Bioethanol-Erzeugung aus Roggen widerlegt werden können.
Entwicklungspolitische Aktionsgruppen wie FIAN und die BUKO-Agrarkoordination sowie Entwicklungstheoretiker fordern seit langem die Rückführung der produktions- und exportstimulierenden Subventionen in den USA und der EU, um den Produzenten aus Entwicklungsländern – und hier wird jeweils explizit der Zucker aus Brasilien erwähnt – einen größeren Anteil an den Internationalen Agrarmärkten zu garantieren. Eine Reduzierung der Zucker-Subventionen würde vermutlich weltweit, zumindest aber in Europa und den USA, zu einem Rückgang der Konsumentenpreise führen. In Brasilien zunächst wohl eher zu einer Stabilisierung althergebrachter Machtverhältnisse. Und zu einer Schwächung der Bemühungen der sozialen Bewegungen auf dem Land um soziale, ökologische und ökonomische Alternativen.
Wenn die Richtung der hier grob skizzierten Vermutungen zu Perspektiven der brasilianischen Zuckerwirtschaft stimmt, dann wird dies über kurz oder lang Auswirkungen auf die Art und Zielsetzung der sozialen Auseinandersetzungen in der Zuckerregion des brasilianischen Nordostens haben. Betriebswirtschaftlich bedeutet dies, dass durch höhere Preise die relative Vorzüglichkeit des Zuckers gegenüber den – meist zumal unsicheren – anderen Produkten steigt. Ein verstärkter Anbau von Zucker und eine De-Stimulierung der Alternativen ist die Folge. Viele Zuckerfabriken sind in Pernambuco in den letzten zehn Jahren geschlossen worden, meist mit immensen Schulden, andere haben in neue und hochmoderne Anlagen investiert.
Wenn die Richtung der hier grob skizzierten Vermutungen zu Perspektiven der brasilianischen Zuckerwirtschaft stimmt, dann wird dies über kurz oder lang Auswirkungen auf die Art und Zielsetzung der sozialen Auseinandersetzungen in der Zuckerregion des brasilianischen Nordostens haben. Betriebswirtschaftlich bedeutet dies, dass durch höhere Preise die relative Vorzüglichkeit des Zuckers gegenüber den – meist zumal unsicheren – anderen Produkten steigt. Ein verstärkter Anbau von Zucker und eine De-Stimulierung der Alternativen ist die Folge. Viele Zuckerfabriken sind in Pernambuco in den letzten zehn Jahren geschlossen worden, meist mit immensen Schulden, andere haben in neue und hochmoderne Anlagen investiert.
Nach dem Vorbild der sog. „Usina Catende” (vgl. vorangegangenen Beitrag und die ila 255) könnten erstens Gewerkschaften oder die Landlosenbewegung in anderen Fabriken die Erklärung eines Konkurses anstreben, weil in einem solchen Fall die aufgelaufenen Ansprüche der ArbeiterInnen Priorität vor denen der Banken und Zulieferer haben. Politische Verhandlungen, öffentliche Investitionsförderung und intensive Basisarbeit könnten dann dazu führen, dass die alten Fabriken durch Selbstverwaltung der ArbeiterInnen weitergeführt oder wieder neu betrieben werden, weil oft die aufgelaufenen Ansprüche der ZuckerarbeiterInnen so hoch sind wie der Restwert der zu erwartenden Konkursmasse. Zweitens könnte in diesen „Usinas” – ebenfalls nach dem Vorbild von Catende – neben dem Hauptprodukt Zucker eine allmähliche Diversifizierung der landwirtschaftlichen Kulturen und verstärkte Bodenkonservierung erfolgen. Wo der Großgrundbesitz in der Zuckerregion nicht genutzt wird, muss drittens das Verfassungsgebot der Enteignung unproduktiven Grundeigentums entschieden zum Einsatz kommen, um die Sozialbindung des Landbesitzes zu garantieren. Dort, wo modernisierte Zuckerrohrproduzenten sich in die Konjunktur einklinken, produzieren und Arbeitskräfte einstellen, werden sich die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Lohnkämpfe gegenüber den Jahren des Niedergangs und steigender Arbeitslosigkeit von 1998 bis 2002 vermutlich verbessern.
Der Justizapparat, traditionelle Domäne des Zuckers, muss viertens dringend und radikal modernisiert werden. Die anstehenden Verfahren zu Konkurs, Enteigung und Erfüllung der verfassungsmäßigen Rechte der Arbeiter müssen spürbar beschleunigt werden. Insbesondere die traditionelle Straflosigkeit bei politisch motivierten Gewalttaten gegen Führungspersonen der sozialen Bewegungen muss beendet werden. Und schließlich muss die Politik in Brasília all dies mittragen und aktiv unterstützen. Die Zuckerbarone, die sich in „normale” Zuckerunternehmer verwandelt haben, werden von der Politik nicht eingeschränkt, sondern begünstigt. Die anderen muss die Kraft der programmatischen brasilianischen Verfassung zugunsten einer Agrarreform treffen, um den alten Traum Severinos zu realisieren.
Ist eine solche Perspektive des Zuckers ohne Barone möglich?
Aus: ila 266. www.ila-web.de
Chile: Digitale Killerbutter
MC Nalini rappt in Chile für Freiräume im HipHop
von Bianca Ludewig
MC Nalini rappt in Chile für Freiräume im HipHop
von Bianca Ludewig
In jeder Kleinstadt Chiles und besonders in Santiago bemerken aufmerksame HipHop-LiebhaberInnen sofort die Präsenz dieser Kultur. Zum einen durch Tags und Graffitis, zum anderen durch Breakdancer, die vor Einkaufszentren ihre Moves üben, und durch die Rapper, die an Straßenecken ihre Gedanken der Außenwelt in Reimform – Rap – präsentieren. Santiago ist einer der wenigen Orte in Chile, wo diese Bewegung auch Strukturen besitzt, wie z.B. HipHop-Läden, die auch immer eine Treffpunkt-Funktion haben. Hier stößt man auch auf eine seltene, aber selbstbewusste Spezies: Weibliche MCs – Frauen, die rappen.
In der Innenstadt von Santiago de Chile nahe des Plaza de Armas, wo Faschisten immer noch gerne Unterschriften sammeln, befindet sich das Einkaufszentrum „Eurocentro“. Dort, zwischen Skateboard-Shops, Internet-Cafés, Läden für Punkmusik und Tattoo-Studios fällt im dritten Stock ein Geschäft in's Auge, dessen Schild über dem Schaufenster »Kultura HipHop« verkündet. Im bunten Schaufenster, in dem jeder Millimeter ausgefüllt ist, liegen Marker, Aufkleber, Zeitschriften und CDs von Rapgruppen aus aller Welt. Es gibt auch eine Ecke, in der unter einem Extraschild mit dem Hinweis »Kalimba – Chiles erstes unabhängiges HipHop-Label« nur nationale HipHop CDs ausliegen. Auf einer CD ist der seltsame Name »Mantekilla Digital« zu lesen. Ein anderes Cover mit einer Comicfigur fällt besonders ins Auge. Denn die Figur ist eine Frau und erweckt zusammen mit der gelben Aufschrift »Corrosivas«1 den Eindruck, dass die MCs weiblich sind. Ein Grund mehr, das Geschäft zu betreten.
Drinnen wird der Blick auf eine acht Quadratmeter große Farbenflut freigegeben. Ein deutsches Mädchen erklärt der Frau hinter dem Tresen, dass sie ihre eigene CD mitgebracht hat, um sie gegen die CD einer chilenischen Rapperin zu tauschen. Die sympathische Verkäuferin verweist auf die CD mit dem gelben Schriftzug im Schaufenster und erklärt der deutschen Rapperin, dass dies eine Freundin von ihr sei, deren CDs auf dem hauseigenen Label erscheinen. Außerdem würde sie gleich sowieso vorbeikommen. Kurz darauf betritt eine große, kräftige Frau mit selbstbewusstem Blick, schwarzen schulterlangen Haaren und heller Haut die Tienda. Sie trägt Baggyshorts, Turnschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mantekilla Digital« – ihre Kette ziert ein Anhänger in Mikrofonform mit der Gravur »MC«, vor sich schiebt sie energisch einen Kinderwagen. Sie wird der Deutschen als MC Nalini von den Corrosivas und Mantekilla Digital vorgestellt. Die Frauen spielen sich gegenseitig ihre CDs vor und sind vor Freude ganz außer sich, ein weiteres Exemplar der seltenen Spezies »Rapperin« getroffen zu haben. Sie beschließen sofort, gemeinsam ein Stück aufzunehmen.
Es war nicht immer so leicht, andere Frauen zu treffen, die rappen. Dass dies heutzutage in Chile einfacher ist, liegt auch an MC Nalini. Sie hat mit ihren verschiedenen Projekten – den Corrosivas, Demos Sapiens und Mantekilla Digital – die HipHop-Szene Chiles nachhaltig mitgestaltet und verändert. Und das trotz des Machismo, der ja in der HipHop-Szene und generell in Chile sehr extrem ist. Dazu sagt MC Nalini: »Als Frauen haben wir unsere eigenen Anliegen, und vor allem einen eigenen Diskurs. Es wurde uns sehr schwer gemacht, mit dem Rappen anzufangen. Von den fünf, mit denen wir 1991 als Corrosivas anfingen, bin ich die Einzige, die noch rappt.« Sie war und ist eine der Wenigen, die anderen chilenischen Frauen vorlebt, dass dies nicht unmöglich ist. »Es war mir immer wichtig, den männlichen Vorstellungen vom Leben und besonders von Rap eine Gegenantwort zu präsentieren«, erklärt Nalini. Für sie kam es nie in Frage aufzuhören, denn der Kampf gegen den männlichen Widerstand war längst zu einem persönlichen Kampf auf der Suche nach Respekt und Freiräumen geworden. Freiräume der persönlichen Entwicklung, die Frauen schon seit Jahrhunderten abgesprochen werden. »Ich glaube, dass meine Überzeugungen mit der Zeit eine Rückkopplung an die Kraft und die Inhalte herstellen werden, für die schon andere Frauen in Chile gekämpft haben.« So wie vorher ihre Schwester und ihre Mutter. Oder auch Gabriela Mistral, die chilenische Dichterin, die 1945 den Nobelpreis für Literatur erhielt, oder Gladis Marín, die Präsidentin der Kommunistischen Partei Chiles. Für sie symbolisieren all diese Frauen eine Antwort, da sie die Rolle der Frau in der Geschichte durch ihren Widerstand, ihre Gehorsamsverweigerung hinterfragten. Denn diese Frauen kämpften für das, was sie dachten und woran sie glaubten, und für das Recht, das zu tun, was sie aus eigener Berufung tun mussten, anstatt das zu tun, was man von ihnen erwartete. »Darum ging es uns auch bei den Corrosivas, vor zehn Jahren waren der Sexismus und die Widerstände, auf die wir stießen, noch viel extremer als heute, und ich denke, wir haben dazu beigetragen, dass sich die Situation für Frauen, wenn auch nur geringfügig, verbessert hat«, sagt Nalini. Es ist 2 Uhr morgens und in dem Stadtteil Las Rosas sind aus einer Dachwohnung im vierten Stock lautes Lachen und Rapmusik zu hören. Ein Aufkleber an der Tür mit dem Schriftzug »Corrosivas« ersetzt das Türschild. In der Wohnung sind zwölf RapperInnen aus verschiedenen Rapgruppen Santiagos. Vom Computer kommen die Instrumentals, über die irgendwie alle auf einmal rappen. Gerade läuft ein Instrumental von Mantekilla Digital, das eigentlich nur für drei MCs gedacht ist, aber da alle ihre Stücke durch die vielen gemeinsamen Auftritte und Projekte auswendig können, werden einfach alle Stücke zu zwölft gerappt. Von dem männlichen Stimmengewirr hebt sich Nalinis kräftige weibliche Stimme ab. Alle haben ein Dauerlächeln, leuchtende Augen und eine Art Glühen im Gesicht. Rappen scheint glücklich zu machen, erst recht zu zwölft. Und das, obwohl die Texte und Beatz oft alles andere als positiv oder lustig sind. Mantekilla Digital, das sind MC Nalini und ihr Freund Chico A. Ihre Musik beschreibt sie selbst als apokalyptisch, sonderbar, psychedelisch und avantgardistisch. Die Beatz sind eine Mischung aus modernen Elementen und Samples alter, auch traditioneller chilenischer Musik und erinnern an melancholischen französischen HipHop. In ihren Texten versucht sie die dunkle menschliche Seite und ihre Destruktivität zu beleuchten. Es geht auch viel um Ängste. »Ich beschäftige mich gern mit dem Zusammenspiel von Positivem und Negativem, und wir versuchen in unseren Texten bewusst verschiedene Sichtweisen auf das menschliche Dasein zu entwerfen. Wir analysieren gerne, und das ist oft verbunden mit viel Ironie«, sagt MC Nalini. Ihr Stil gehört zur neuen Schule des chilenischen Rap. Die nueva escuela versuchte zu Anfang der 90er Jahre, stilistisch neue Wege zu beschreiten, abseits des US-amerikanischen Vorbildes.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Leben einer 27-Jährigen, und auch in der 20 Jahre jungen Geschichte einer musikalischen Bewegung in Südamerika. In der Entwicklung der HipHop-Bewegung Chiles und der Corrosivas gab es Hoch- und Tiefpunkte. Die Corrosivas waren damals auch Teil der Organisationsgruppe Demos Sapiens, einer der ersten HipHop Crews überhaupt in Santiago. Einige Graffitiwriter, B-Boys und Rapper schlossen sich zusammen, um die fehlenden Strukturen dieser Szene auf- und auszubauen. Bei diesem Zusammenschluss waren auch viele Rückkehrer aus Europa dabei, die ihre musikalischen Einflüsse und Erfahrungen mit einbrachten. Dazu gehörten auch Mitglieder der bekanntesten und erfolgreichsten HipHop-Gruppen Chiles: Tiro de Gracia, Tapiarabiajackson und Makiza (heute Nemisis). »Wir rappten auch gemeinsam, aber in erster Linie organisierten wir gemeinsam HipHop-Events und Konzerte in Santiago, denn zu dieser Zeit gab es hier wenige Angebote. Wir waren damit auch sehr erfolgreich und machten uns schnell einen Namen«, sagt Nalini. Als 1996 Tiro de Gracia mit ihrem Album »Ser Humano«, auf dem auch das Stück »Combo 10« ist, bei dem MC Nalini und andere Demos Sapiens-Mitglieder rappen, einen Majorvertrag bei EMI bekamen und von MTV promoted wurden, zerfiel die bis dahin gemeinschaftliche HipHop-Szene Santiagos. Konkurrenz und Rivalität kamen auf. Die Atmosphäre veränderte sich, und Streit, Schlägereien und unkorrektes Verhalten wurden bei Veranstaltungen zum Regelfall.
Diese Veränderungen machten sich auch bei Demos Sapiens bemerkbar. MC Nalini und ihre Rapkollegin wurden immer häufiger mit Sexismus und Machismo konfrontiert. Das waren sie irgendwann leid, und als noch andere Streitpunkte hinzukamen, stiegen sie aus und konzentrierten sich ganz auf ihr eigenes Vorhaben. Insgesamt sieben Jahre lang spielten sie bei verschiedenen Jams und Konzerten in ganz Chile. Als die Corrosivas vor drei Jahren auf dem Höhepunkt ihrer musikalischen Aktivitäten angelangt waren und ihr Album endlich rauskommen sollte, verabschiedete sich Nalinis Partnerin von ihr und dem Rap und ging nach Frankreich. Nalinis Freund, Chico A, passierte Ähnliches. Seine Gruppe, die Nativos, kamen zu einem klischeehaften und plötzlichen Ende, als einem Mitglied in die Hand geschossen wurde und ein anderer ins Gefängnis musste. Die Lösung eines Problems kann oft sehr nahe liegen, wie im Fall von MC Nalini und Chico A. Sie rappten einfach zusammen weiter, was sie in der Vergangenheit auch schon gelegentlich getan hatten. Als Mantekilla Digital ging man weniger romantischen Duetten nach, sondern verfolgte unkonventionellere Stilmittel und Texte, mit denen die sinnentleerte Rapmusik wieder mit Inhalten gefüllt werden sollte.
Ihr Ziel war es, dass aus ihren Erfahrungen etwas Konzeptionelleres und Experimentelleres entsteht. Etwas mit mehr Bewusstsein. Eine Quintessenz aus Nativos und Corrosivas. Verbal oder nominal ist Mantekilla Digital, die digitale Killerbutter, zumindest nicht die Quintessenz der Vorgänger. Wie kommt man zu so einem Namen? Die Antwort ist naheliegender, als man vermuten könnte: Die Zeiten waren finanziell nie rosig für die beiden. Weil sie sich wochenlang nur von Nudeln, Brot und Butter (mantequilla) ernährten und den beiden meistens beim Aufmachen des Kühlschranks nur eine Packung Butter entgegenblickte, nannten sie sich Mantekilla Digital. Außerdem hatten beide eine Affinität für Butter, Nalini fand Butter als Kind schon toll und schmierte sich damit möglichst flächendeckend ein.
Und »Digital«: Weil sie sich gezwungenermaßen – statt über Essen – rappenderweise über digitale Beatz hermachten. Heute gibt es zwar meist mehr im Kühlschrank, denn ihr Kind kann sich noch nicht von Beatz und Raps ernähren, aber das Bestreiten des Lebensunterhaltes ist jeden Tag von neuem ein ungewisses Abenteuer, wie für die meisten ChilenInnen. Dies ist eigentlich auch der einzige Streitpunkt, der die beiden als Gruppe und Paar oft beschäftigt: Wo soll das Geld morgen herkommen, wofür soll es genutzt werden? »Wir haben einen Lebensweg mit wenig Sicherheit gewählt. Wenn man hier in Chile Musiker oder Künstler sein will, finden die Leute das sehr seltsam, umso mehr, wenn man versucht damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist nicht immer leicht, sich gegen diese gesellschaftliche Stigmatisierung zu behaupten, und ganz besonders dann nicht, wenn mal wieder gar kein Geld da ist.« Aber irgendwie gibt es doch immer eine Lösung, und gerade in Chile ist man in existenziellen Dingen sehr erfinderisch.
Heute kann Nalini etwas Geld bei ihren FreundInnen im HipHop-Laden verdienen. In dem winzigen Laden im Eurocentro ist es mindestens 35 Grad heiß und die Luft steht, trotz Ventilator. Nalini erzählt einem Freund von ihrem Sampler-Projekt. Es soll ein Sampler mit ausschließlich weiblichen MCs sein. Ihr Kollege versteht nicht, warum nicht auch Rapper dabei sein können. Sie erklärt ihm, dass die wenigen rappenden Frauen keinen Ort haben, um sich zu treffen, zu motivieren oder ihre Ideen zu teilen. Deshalb soll es zumindest eine Compilation geben, mit der dies versucht wird. Der Rappero will wissen, wer denn überhaupt dabei ist und ob es überhaupt genügend Frauen gäbe. Nalini zählt einige chilenische Rapperinnen auf, darunter Mistika von Mama Soul, dann soll auch noch eine Argentinierin und eine Deutsche dabei sein. Eine Deutsche? Nalini erklärt ihm, sie habe neulich eine deutsche Rapperin kennen gelernt und mit ihr zusammen gleich ein Stück aufgenommen. Sie holt eine CD aus ihrer Tasche und legt sie in den Player: »Wir vermischen unsere Realitäten und Mentalitäten / und werden durch unsere Musik weit kommen / denn wir bleiben unserer Sache verpflichtet / das ist unsere Kosmovision ... Mit HipHop sind wir vereint / so wie Schwestern / denn wir kommunizieren und analysieren / in Santiago kreiere ich / auf Spanisch reflektiere ich / seit 1991 partizipieren wir / generieren wir / und in 2002 wachsen wir…«
Aus: ila 264. www.ila-web.de
Ecuador: Dollar-Koller in Lateinamerika
Ecuadors neue Währung
von Gaby Küppers
Die DDR tat es, Argentinien tat es sozusagen, Brasilien ließ es wieder sein und jetzt macht es Ecuador: Die Landeswährung wird durch die Währung einer stärkeren Wirtschaft ersetzt. Was Neufünfland davon hatte, ist bekannt. Argentinien schrieb sich unter Ex-Präsident Menem die Peso-Dollar-Parität in die Verfassung und knabbert jetzt daran, dass das große Nachbarland Brasilien eben diese Parität (1 Real = 1 Dollar) im Januar 1999 aufgab und den argentinischen Markt seither mit Produkten überschwemmt, die in Argentinien durch die Abwertung des brasilianischen Real bis um die Hälfte billiger sind. Doch als sei das alles nicht der Rede wert, macht sich Ecuador derzeit daran, mit freundlich-nachdrücklicher Empfehlung des IWF die Landeswährung Sucre komplett auf den US-Dollar umzustellen, und zwar im Verhältnis 1:25.000.
In der grauen Theorie steht hinter dieser Währungspolitik die Annahme, dass die mit der Währungsumstellung erfolgende Preisstabilität zu wachsendem Konsum und Investitionen führt. Bis Ende September, so der Fahrplan, sollten die EcuadorianerInnen die Umtauschaktion Sucres gegen Dollar vollzogen haben. Auch wenn sich das noch etwas hinzieht , die Preise werden – für die, die sie bezahlen können – fortan in Dollar ausgezeichnet.
Im Januar des Jahres noch war der damalige Präsident Jamil Mahuad über dieses Vorhaben gestolpert. Der Aufstand von Indígenas und Militärs im Januar richtete sich gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell, als dessen letzten Baustein und Krönung Mahuad die Dollarisierung angekündigt hatte, obwohl sein Kurs bis dahin schon verhehrende Folgen für die einheimische Wirtschaft gehabt hatte. Der Finanzsektor war in der zweiten Jahreshälfte 1999 praktisch zusammengebrochen. Die dann von Mahuad verordnete Kur sah die Streichung der Subventionen für Treibstoffe, Wasser, Strom und Telefon und die Privatisierung von Staatsbetrieben vor. (Der Vorsitzende der Privatisierungsgesellschaft mit dem bemerkenswerten Namen »Nationaler Modernisierungsrat« heißt übrigens Ricardo Noboa und ist ein Bruder des jetzigen Staatspräsidenten.) Man konnte, wie es so schön heißt, mit dem Finger dran fühlen: Das ganze Manöver war ein IWF-inspirierter Versuch der ecuadorianischen Elite, internationale Investoren zu beruhigen und die Macht trotz wirtschaftlicher Talfahrt und sozialer Krisen zu behalten.
Der Coup misslang im ersten Anlauf. Mahuad stürzte nach dem hauptsächlich von der indígenen Bevölkerungsmehrheit getragenen Aufstand, dem vierten innerhalb seiner zweijährigen Amtszeit. Bemerkenswerterweise versprach sein Nachfolger, der bisherige Vizepräsident Gustavo Noboa, als erste Amtshandlung, den Kurs seines Vorgängers fortzusetzen und bis September die Talfahrt des Sucre durch dessen Verschwinden zu stoppen. Die galoppierende Inflation und Spekulation kämen so zum Stillstand, die einheimische Produktion würde angekurbelt. Am 1. März stimmte das Parlament der Radikalkur zu. Doch den Teufel treibt man mit dem Belzebub nicht aus. In den Folgemonaten stieg die Inflation weiter an, die Produktion fiel noch mehr zurück.
Ein Land wird schließlich durch die Umstellung auf Dollar weder produktiver noch verscheucht es damit die Korruption. Stattdessen verliert als erstes die Zentralbank ihre Reserve und damit ihre Daseinsberechtigung, es sei denn, sie versteht sich als Aussenstelle der US Federal Reserve Bank. Infolgedessen verschwindet, wie in Ecuador geschehen, die Möglichkeit einer eigenständigen Währungspolitik und somit ein wesentliches Instrument, um auf Produktivitätsveränderungen zu reagieren. Zinspolitik wird nurmehr in den USA gemacht. Absehbar ist des Weiteren, dass ausländische Produkte in kürzester Zeit die wenig konkurrenzfähigen einheimischen Industrieerzeugnisse vom Markt werfen. Davon profitieren allein die Importeure und in ihrem Gefolge internationale Banken und Dienstleistungsunternehmen. Die Exportpalette schrumpft auf Rohstoffe zusammen, was, nebenbei, noch mehr ökologischen Raubbau bedeutet.
So ziehen sich die USA einen neuen Markt an Land, ohne politisch Verantwortung für die Folgen zu übernehmen und ohne einen Cent für die Kolonie zu bezahlen. Allerdings hat auch die Mehrheit der Bevölkerung kaum Cents in der Tasche, um die Importware zu erwerben – mit etwa 20 Dollar im Monat muss ein Großteil der Bevölkerung jetzt auskommen. Ausländische Investitionen werden sich auf Aufkäufe beschränken. Angesichts der durch Vetternwirtschaft geschwächten Banken raten US-Finanzfachleute ihren Bankern von zuviel Engagement in Ecuador ab: Wo die Leitungen marode sind, sickert das Wasser immer durch, egal welches.
Tatsächlich erfüllten sich nach dem Parlamentsbeschluss vom 1. März nicht einmal in den ersten Monaten der Umstellung die Versprechungen der Regierung in Quito. Stattdessen wurde alles weiter teurer, die Inflation zog noch stärker an als 1999. Angesichts neuerlicher Streiks versprach Noboa Beihilfen für RentnerInnen und arme Familien und verzögerte die dem IWF zugesagten Gaspreiserhöhungen für Privathaushalte – ein Spagat, der mit dem nun bevorstehenden Abschluss der Währungsumstellungsphase nicht mehr möglich sein wird. Und in der gut organisierten Bevölkerung Ecuadors ist weiterer Widerstand vorprogrammiert. Zusammen mit dem Ende des brasilianischen Experiments und dem Beispiel der darbenden Wirtschaft in Argentinien, beides im Vergleich zu Ecuador industrielle Giganten, ist das nicht eben ein gutes Omen für die potentiellen neoliberalen Nachahmer in anderen Ländern des Kontinents. Auf dem Wege der Dollarisierung ist jedenfalls keine lateinamerikanische Wirtschaftsintegration und erst recht keine soziale Gleichheit zu haben.
Gaby Küppers ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift ila und wissenschaftliche Mitarbeiterin der grünen Fraktion im europäischen Parlament.
Guatemalia: Trouble in Paradise
Reisende Rucksäcke
von Heiner Schwarz
Gerade in Ländern der Dritten Welt bedeutet Arbeit im Tourismus häufig Kinderarbeit. Kinder, die Zigaretten und Süßigkeiten verkaufen oder sich als Guides anbieten, gehören weltweit zum »normalen« Bild. Was hier-zu-Lande bestenfalls noch als Aufbesserung des Taschengelds durchgeht, ist in ärmeren Ländern fester Bestandteil des Familieneinkommens. Dass Kinder über ihre Tätigkeit nicht unbedingt glücklich sind, zeigt ein Beispiel aus Guatemala.
Die Hose des elfjährigen David ist schmutzig, hat Löcher an den Knien, und meist läuft er ohne Hemd und barfuß durch die Straßen, den Blick auf die Füße der Passanten gerichtet. Er ist Schuhputzer. Sein Einfallsreichtum ist grenzenlos, seine Talente sind ungezählt. Manchmal klettert er auf einen Baum, um ahnungslose Spaziergänger zu erschrecken, einen Moment später tanzt er im Brunnen des zentralen Parks. So wird er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Touristen und zum Ärgernis für die Polizei. David übernimmt jede Arbeit. Eigentlich putzt er ja Schuhe, doch manchmal sammelt er auch Blechbüchsen oder trägt älteren Damen die Einkaufstasche. Und an einigen Tagen sieht man ihn – auf einem umgekippten Mülleimer stehend – Autodächer waschen.
Warum muss David arbeiten, statt zu spielen? »Wenn meine Familie Geld hätte, würde ich nicht den ganzen Tag über Schuhe putzen«, erklärt er und kratzt sich am Hinterkopf mit Fingern, deren schwarze Schuhcremeflecken in der Sonne glänzen.
Davids wichtigste Kunden sind die Touristen. »Da wo die herkommen, kann man Dollars verdienen, deshalb können sie sich viele Sachen kaufen. Ich muss ihre Schuhe putzen, weil unsere Währung nur der Quetzal ist. Und wenn sie einverstanden sind, dann putze ich, und wenn nicht, dann frage ich jemand anders.«
Die engen Straßen Antiguas sind gepflastert mit Steinen, die den Eindruck erwecken, als ob das Straßenbild seit Jahrhunderten unverändert geblieben sei. Immer wieder trifft man auf Ruinen längst vergangener Epochen – Erinnerungen an koloniale Pracht. Doch auch in Antigua ist die Zeit nicht stehen geblieben. Kein anderer Ort hat sich so gut auf einen Typus des modernen Tourismus eingestellt, der seit einigen Jahren massenhaft auftritt: der Individualtourismus. Die Geldbeutel der vorwiegend jungen Rucksacktouristen aus aller Welt sind eine der Haupteinnahmequellen der Stadt.
Jedes Jahr wird Guatemala von etwa einer halben Million Menschen besucht. Sie sind – nach dem Exportrohstoff Kaffee – der zweitwichtigste Devisenbringer des Landes. Doch nicht nur Hotelbesitzer und Angestellte der zahllosen Restaurants profitieren vom Besucherstrom, auch viele Kinder verdienen an den Ausländern und können so zum kargen Einkommen ihrer Familien beitragen.
Miriam (14) ist das einzige Zimmermädchen in einem Hotel mit vierzig Betten. Dort schrubbt sie Fußböden, ordnet die Zimmer der Touristen und wäscht deren Bettlaken – oft bis zu fünfzehn Stunden am Tag. »Meine Aufgabe ist es, das Haus sauber zu halten, freundlich zu den Gästen zu sein und ihre Zimmer aufzuräumen. Manchmal ist die Arbeit sehr mühsam, weil ich viele Treppen steigen muss.«
Die Hütte von Miriams Familie liegt am Stadtrand, etwa zwanzig Minuten Fußmarsch vom Hotel entfernt. Mit ihren drei Geschwistern teilt sie sich ein Bett, das in demselben Zimmer steht, in dem auch ihre Eltern schlafen.
Sonntags hat Miriam frei. Dann erlaubt ihr die Mutter, ihre Freundinnen auf dem zentralen Platz zu besuchen, wo fast alle Mädchen einen Korb auf dem Kopf tragen, dessen Durchmesser oft nicht viel geringer ist als ihre Körpergröße. Ihre Körbe sind gefüllt mit Handarbeiten und Kunstgegenständen, die sie den Touristen und Touristinnen zum Verkauf anbieten. Die Mädchen sprechen untereinander Kaquchikel, die Mayasprache dieser Region.
Evelyn aus New York ist nicht bereit, umgerechnet 1,10 DM für einen kunstvoll gewebten Haarschmuck zu zahlen. Sie will den Preis auf 80 Pfennig drücken: »Entweder du verkaufst ihn mir für drei Quetzal oder gar nicht«, sagt sie endlich, nachdem sie eine Weile um ein paar Pfennige gefeilscht hat. Enttäuscht wendet sich die neunjährige Angelica von ihr ab: »Dann eben nicht.«
Die Preise, die die Kinder verlangen, betragen einen Bruchteil von dem, was die Touristinnen und Touristen in ihrer Heimat zahlen müssten. Warum versuchen sie trotzdem noch weniger zu geben? »Das ist wie ein Spiel«, erklärt Evelyn. »Die Kinder fangen hoch an und du tief. Am Ende treffen wir uns in der Mitte. Wenn man sich allerdings überlegt, wie viel Zeit es kostet, diese Handarbeiten zu produzieren, dann muss man sagen, dass wir keine fairen Preise bezahlen. Warum ich trotzdem mitspiele? Also, das ist eine gute Frage. Doch: Warum mehr zahlen, wenn du es auch für weniger bekommen kannst. Das ist so die amerikanische Art.«
Klaus aus Schwaben meint: »Also die Kinder, die hier ihre Handarbeiten verkaufen, das ist für sie mehr oder weniger wie ein Zeitvertreib. Das gehört zu ihrem Leben. Die sitzen ja den ganzen Tag über im Park und sprechen mit den Leuten. Das ist normal für sie, die können nichts anderes. Ob sie nun rumspringen, auf dem Spielplatz sind oder hier verkaufen, das ist eigentlich egal.« Was er nicht mitbekommen hat: Nirgendwo in Antigua gibt es einen Kinderspielplatz.
Auch in seinem Urteil über die guatemaltekische Arbeitsmoral ist sich Klaus bemerkenswert sicher: »Die Deutschen arbeiten sehr hart. Das ist mit einem Arbeiter hier überhaupt nicht zu vergleichen. Die arbeiten so gemächlich, dass ein Arbeiter in Deutschland das Dreifache schafft. So geseh´n ist der Verdienst, den die hier haben, relativ hoch.« Offenbar ist er sich nicht bewusst darüber, dass ein Arbeiter in Deutschland etwa zwanzig Mal so viel verdient wie seine guatemaltekischen Kollegen.
Andreas Boueke – Neues Buch des Autors: Kaleidoskop Mittelamerika – Reportagen und Informationen im Horlemann Verlag
Die überschaubare, gepflegte Kolonialstadt Antigua mit über 200 Sprachschulen eignet sich gut als »Einstieg« für einen Mittelamerika-Trip: tagsüber im Park und nachts in den Kneipen lernen sich RucksacktouristInnen kennen, Reisetips werden ausgetauscht, vielleicht reist man ja gemeinsam weiter. Nicht alle sind auf der Durchreise, viele ältere US-Amerikaner besitzen eine Villa in den ruhigeren, sicheren Randzonen und genießen ihren Lebensabend. Und auch die guatemaltekische Oberschicht kommt in teuren Autos hierher, um sich zu entspannen vom hektischen Geschäftsleben in der Hauptstadt Guatemala City, in der sich Dreck, Kriminalität und soziale Unruhe konzentrieren und manchmal auch in die reichen Viertel vordringen…
Guatemalia: Lakonischer Chronist
Portrait des guatemaltekischen Autors Rodrigo Rey Rosa
von Jérôme Cholet
Ein junger Mann aus wohlhabendem Hause wird entführt. Eine Bande Krimineller verlangt von seinem Vater Lösegeld und schneidet der Geisel erst den Zeh ab, dann den ganzen Fuß – um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Schließlich kommt es zur Übergabe des Geldes, die Täter tauchen unter, das Opfer wird befreit und muss fortan durch die Straßen humpeln. Entführungen gehören heute in den meisten Ländern Lateinamerikas zum Alltag. Diese hier ist Thema des Buches »Die verlorene Rache«, dem zweiten Roman des guatemaltekischen Autoren Rodrigo Rey Rosa, der derzeit zum wohl bedeutendsten zeitgenössischen Literaten seines Landes seit Miguel Angel Asturias avanciert. Eine weitere Geschichte: Ein junger Offizier möchte beim Militär aussteigen, sein Freund bezeichnet ihn als Waschlappen. Er lernt eine Studentin kennen, verliebt sich in sie und wird von ihrem Liebhaber erschossen. Nichts Besonderes? Noch eine: Ein Journalist recherchiert Fälle von Kinderhandel, er wird erschossen, eine Freundin spürt ihm nach und wird auch erschossen. Drei Morde, keiner wird aufgeklärt. Der Rest ist Schweigen.
Auch der neueste Roman von Rey Rosa »Die Henker des Friedens« ließe sich auf diese Weise reduzieren. Und wären die Werke des jungen Autoren nicht in so eindringlicher Intensität geschrieben, niemand hätte Notiz von ihnen genommen. Sie wären wohl nie in sieben Sprachen übersetzt worden. Doch es ist der strenge und kalte Stil des Autors, ein Klima zu beschreiben, in dem Sicherheit und Geborgenheit Fremdwörter geworden sind, der selbst bei der Lektüre der Übersetzungen noch unter die Haut geht. Guatemala-Stadt hat unter allen Hauptstädten der Welt die dritthöchste Mordrate. Für das erste Halbjahr 2002 registrierte Amnesty International mehr als 125 Fälle von Einschüchterungen und Angriffen gegen Menschen, die sich für die Menschenrechte und gegen Straflosigkeit einsetzten. Und auch im zweiten Halbjahr hielt dieser Trend an. Unzählige Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges warten weiterhin darauf, aufgearbeitet zu werden. »Zur Zeit geraten die Ermittlungen jedoch immer mehr ins Stocken«, weiß auch Rey Rosa, »und die Bevölkerung ist gespalten. Viele würden die Vergangenheit lieber ruhen lassen.« Seit einigen Jahren erst lebt der heute 42-Jährige wieder in Guatemala. Nachdem mehrere seiner Freunde und Bekannten umgebracht wurden, ging er 1980 ins marokkanische Exil. »Das politische Klima in Guatemala war mir unerträglich«, entschuldigt er sich. Seine Eindrücke aus Marokko hat er unter anderem in dem Roman »Tanger« niedergeschrieben.
Doch zurück nach Guatemala. Auf dem Land hat die schlecht funktionierende Justiz zu einem Zusammenbruch des Rechtsempfindens geführt. Statistiken belegen, dass sich Fälle von Lynchjustiz besonders dort häufen, wo die Armee während des Bürgerkrieges jahrelang die Zivilbevölkerung brutal unterdrückte und damit die Schwelle zur Gewalt einebnete. Dass ein guatemaltekischer Schriftsteller Gewalt, Straflosigkeit und Verbrechen zum Thema macht, verwundert also nicht. Für Rey Rosa scheinen sie obligatorisch: »Ich glaube, dass es eine Tradition der Gewalt gibt, von der man sich hier nur schlecht lösen kann.« Am liebsten sähe er die Entwaffnung der gesamten Bevölkerung, »un desarme general«. Doch ist dies wenig realistisch.
Eine moralisch erneuerte und gerechtere Nachkriegs-Gesellschaft kennen weder die Romane Rey Rosas noch die guatemaltekische Wirklichkeit. Bestes Beispiel dafür ist ein möglicher Wahlsieg des Ex-Diktators Efraín Ríos Montt, der sich heute vor Gericht wegen schlimmster Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Genozid während seiner Regierungszeit in den Jahren 1981/82 verantworten muss. »Seine Kandidatur für die Wahlen im November ist eines der zur Zeit am heftigsten diskutierten Themen«, so Rey Rosa, »meiner Meinung nach dürfte er sich das nicht erlauben. Aber anscheinend gibt es viele, die nicht so denken, insbesondere in der Hauptstadt, und die sind es schließlich, die Capitalinos, die den entscheidenden Ausschlag geben. Auf dem Land hingegen werden viele gar nicht erst zur Wahl gehen.«
In Guatemala wurden Rey Rosas Werke nur wenig gelesen, so berichtet der Autor selbst. Einheimische Kritiker warfen ihm zudem vor, von Dingen zu schreiben, die ihn nichts angingen oder die er nicht kennen würde. Der Autor lacht. »Zum Vatertag werden die Zeitungen wieder voll von Werbeanzeigen für Kleinwaffen sein. Das beste Geschenk für den geliebten Papa. Die neue Vollautomatische.« Woher Rey Rosas Ideen zu seinen Romanen kommen ist eindeutig. Die Wirklichkeit schreibt immer noch die wahnsinnigsten Geschichten, schließt er und kommt zu dem traurigen Schluss, dass »man definitiv noch nicht von Frieden in Guatemala sprechen kann«.
Rodrigo Rey Rosa:
- Die verlorene Rache. Roman Übers.: Erich Hackl, Rotpunkt-Verlag, Zürich 2000, 128 S., geb. € 15,- / 29,-sfr, Taschenbuchausgabe: Piper-Verlag. München 2002 , 125 S., € 7.90/ 14,10 sfr.
- Die Henker des Friedens. Roman, Übers.: s.o., Rotpunktverlag, Zürich 2001, 180 S. geb.,€ 15,- / 29,-sfr
- Tanger Roman, Übersetzung: Arno Gimber, Rotpunktverlag, Zürich 2002, 188 S., € 17,50 / 30,-sfr
Aus: ila264. www.ila-web.de
Guatemalia: Friedhof ohne Kreuze
Zur Situation an der guatemaltekisch-mexicanischen Grenze
von Juan Balboa
Für MigrantInnen ohne Papiere aus Mexico, Mittel- und Südamerika und zunehmend auch aus Afrika und Asien ist es in den letzten Jahren immer schwerer geworden, über die Grenze von Mexico in die USA zu kommen. Seit Beginn des »Programa Guardián« vor neun Jahren unter der Regierung Clinton sind mehr als 3000 Menschen bei dem Versuch umgekommen, über diese Grenze zu gelangen. Seit die US-Regierung mit jener von Guatemala ein Abkommen geschlossen hat mit dem Ziel, MigrantInnen möglichst schon im Vorfeld abzufangen, hat sich auch die Situation an der Grenze zwischen Guatemala und Mexico verschärft. Indem sich Drogenkartelle aus Kolumbien, Guatemala und Mexico ebenfalls an dieser Grenze breitgemacht haben, ist eine explosive Mischung von Drogen- und Menschenhandel und Prostitution entstanden, die täglich Todesopfer fordert. Darüber berichtet der folgende Artikel.
Morgens um drei Uhr erwacht Tecún Umán: Die verwaisten Straßen der kleinen Stadt im Norden Guatemalas, die auch La Tijuanita genannt wird, füllen sich mit Leuten aus El Salvador, Honduras, Guatemala und Panama, die schweigend zum Suchiate-Fluss ziehen, der hier die Grenze zu Mexico bildet. Das Abenteuer, bis in die Vereinigten Staaten zu gelangen, beginnt für sie. José Reynando Rivas, Reny Alexis Blas und Kevin Josué Martínez, drei junge Salvadorianer, die um vier Uhr die Pension in der Segunda Avenida, in der sich die Hotels für die MigrantInnen konzentrieren, verlassen hatten, gingen zur internationalen Brücke und waren drei Stunden später am Rande von Ciudad Hidalgo im mexicanischen Bundesstaat Chiapas, wo sie auf einen Bananen-Laster stiegen, der sie nach Juchitán, Oaxaca, bringen sollte. Sie kamen nie an. Die drei Salvadorianer gehören zu den über 200 000 MittelamerikanerInnen ohne Papiere, die jedes Jahr den Suchiate überqueren und ebenso zu den 3000, die nach Angaben des Nationalen Institutes für Migration (INM) wöchentlich in ihre Herkunftsländer deportiert werden.
Auf der guatemaltekischen Seite streiten sich 200 »polleros« (Schlepper), die in mindestens 50 Banden organisiert sind, um das Geld der ca. 20 000 Personen verschiedener Nationalität, die die Wanderbevölkerung im Departement San Marcos bilden, und bringen täglich 700 von ihnen über den Fluss. Auf der mexicanischen Seite transportieren improvisierte Reisebüros in den 20 Landkreisen der chiapanekischen Regionen Costa, Sierra, Soconusco und Altas de Chiapas wöchentlich über 3000 Menschen aus diesen Regionen in den Norden, wo sie, so wird ihnen versprochen, Arbeit in multinationalen Firmen wie Hitachi, Panasonic, JVC, Pioneer und Sony finden werden. Der Verfall der Kaffeepreise, das Fehlen von produktiven und sozialen Programmen der Regierungen in Chiapas und in der Union und die schwere Wirtschaftskrise, die seit der Naturkatastrophe von 1998 (Hurrikan »Mitch«) in diesem Bundesstaat herrscht, haben zu einer massiven Abwanderung in die USA geführt, wo in den letzten zweieinhalb Jahren wieder verstärkt MittelamerikanerInnen deportiert wurden.
Huixtla, zwischen Sierra Madre und Pazifikküste gelegen, verändert sich langsam. Viele Menschen, die in diesem traditionellen Kaffeestandort in Chiapas bislang Kaffee produziert und gehandelt haben, haben sich dem Reisegeschäft in den Norden Mexicos zugewandt. In zahlreichen Landkreisen der Sierra und des Soconusco sind Kaffeelager und Exporthäuser in Reisebüros und Bushaltestellen verwandelt worden. Für 1500 Pesos (ca. 150 Euro) bieten sie Reisen in den Norden an. Die neuen Reisebüros schießen überall in Chiapas aus dem Boden. In den letzten drei Jahren sind ca. 80 gegründet worden. Sie kümmern sich um die ca. 150 000 Chipanecas und Chipanecos, die sich jährlich auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen auf den Weg in die USA machen.
Die neue chipanekische Migration ist zu einem ernsten Problem für die Regierungen des Staates und der Landkreise und für die Verantwortlichen der Ejidos geworden, die zusehen müssen, wie ihre Bevölkerung wöchentlich weiter schrumpft. Die Bürgermeister von Huixtla und Tapachula und der Gouverneur des Bundesstaates Chiapas räumen ein, dass ihnen diese Entwicklung Sorge bereitet. Sie weisen auf die Folgen der Migration für die landwirtschaftliche Produktion hin und fordern dringend staatliche Hilfsprogramme, um Arbeitsplätze in der Region zu schaffen. Der Staatsminister im Präsidialministerium, Emilio Zebadúa González, findet ebenfalls, dass die Situation außerordentlich schwierig geworden ist: »Unglücklicherweise leiden viele Indígenas, Bäuerinnen und Bauern in Chiapas unter den Folgen des Preisverfalles der landwirtschaftlichen Produkte. Insbesondere der Verfall des internationalen Kaffeepreises hat zu einem gewaltigen Kaufkraftverlust der KaffeeproduzentInnen geführt.« Zebadúa, der für die Innenpolitik zuständig ist, ist davon überzeugt, dass nur Entwicklungsprogramme mit hohem sozialen Gehalt die Grenzen zu schützen und den BewohnerInnen der Region Alternativen zu bieten vermögen.
In den Wüsten der Vereinigten Staaten hat es die ersten toten MigrantInnen aus Chiapas gegeben. Das INM und die Bundesregierung haben bestätigt, dass im ersten Quartal 2002 der Tod von mindestens 23 MigrantInnen aus Chiapas bekannt geworden ist. Mitte Juli 2002 sind die Namen von drei Bauern aus Teopisca in der Region Los Altos bekannt geworden, die am 31. Mai aufgebrochen waren und in der Wüste von Arizona umkamen.
Was für MigrantInnen aus Chiapas erst der Beginn ist, ist für jene aus Mittelamerika seit langem Realität. Nach offiziellen Daten gibt es eine Liste von 25 000 MittelamerikanerInen, die beim Versuch, den amerikanischen Traum zu verwirklichen, verschwunden sind – darunter 10 000 SalvadorianerInnen und 8000 HonduranerInnen.
Auch die Grenze zwischen Mexico und Guatemala ist zu einem Friedhof ohne Kreuze geworden: vom Zug überfahrene SalvadorianerInnen, auf den Straßen zwischen Ciudad Hidalgo und Tapachula erstochene GuatemaltekInnen, von kriminellen Banden wie der „Mara Salvatrucha“ vergewaltigte und ermordete Frauen, gefolterte und mit Macheten erschlagene HonduranerInnen, in Ciudad Hidalgo erschossene IranerInnen… die Tragödie der MigrantInnen an der Südgrenze.
Das guatemaltekische Konsulat in Tapachula registrierte 2001 134 getötete und mindestens 100 verschwundene Landsleute. Die Zahlen des salvadorianischen Konsulates sind ähnlich. Beamte der Bundespolizei führen die Liste der Erpresser von Leuten ohne Papiere an, gefolgt von Polizisten des Bundesstaates Chiapas. Der Staatsanwaltschaft liegen 24 entsprechende Anzeigen vor. Die SalvadorianerInnen Cristóbal Flores Durán, Fidel Morales de Pinera, Alba Areli Morales Valles und Anacleto Flores wurden in Huixtla von Beamten der Bundesanwaltschaft überfallen. Sie raubten den MigrantInnen 300 US-$. Im Landkreis Cintalapa erpressten Beamte derselben Institution vier andere SalvadorianerInnen um 5000 US-$. Erpressungen von MigrantInnen ohne Papiere durch Beamte der staatlichen Sicherheitsorgane sind an der Grenze zu Guatemala an der Tagesordnung. MitarbeiterInnen des dortigen MigrantInnenzentrums versichern, dass MigrantInnen ohne Papiere ausgebeutet, ermordet, verletzt, ausgeraubt, vor allem aber von Sicherheitskräften auf beiden Seiten der Grenze erpresst werden.
Nachts zieht Edy Alexis in Tecún Umán durch Kneipen und Bordelle und verkauft Betrunkenen und Prostituierten Kokain. Edy ist ein Salvadorianer, dem es nach sechs Versuchen gelang in die USA zu kommen, wo er in Los Angeles beim Kokaindealen erwischt, verhaftet und deportiert wurde. Süchtig wie er war ging er nach Tecún Umán und ist dort seither Händler eines der 10 wichtigsten Drogenkartelle, die den Kokain- und Heroinhandel in die USA sowie den Menschenhandel und die Prostitution an der Grenze am Fluss Suchiate kontrollieren. Tecún Umán und Coatepeque im guatemaltekischen Departement San Marcos und die chiapanekischen Landkreise Ciudad Hidalgo, Tapachula und Cacahoatán sind wichtige Operationszentren von zehn der kolumbianischen, mexicanischen und guatemaltekischen Drogenkartelle. Ein Netz von ca. tausend Personen, überwiegend Prostituierte und Leute ohne Papiere und seit drei Jahren auch Kinder, transportieren die Drogen täglich über die Grenze nach Mexico und in die USA.
Mindestens weitere 500 Personen verkaufen den Stoff in Bars, Hotels, auf öffentlichen Plätzen und in Schulen der Region auf beiden Seiten der Grenze. Edy Alexis ist einer von ihnen – und einer der 50 000 MittelamerikanerInnen und MexicanerInnen, die entlang der 900 km langen Grenze zwischen Guatemala und Mexico Drogen konsumieren.
Am 23. Juli 2002 fand die erste große Operation von Sicherheitskräften aus Guatemala, Mexico und den Vereinigten Staaten gegen die Kartelle an der Südgrenze statt. Der chiapanekische Landkreis Arriaga an der Grenze zum Bundesstaat Oaxaca und Tecún Umán sind im Südwesten die beiden wichtigsten Korridore des Kokainhandels. Die mexicanischen Kartelle, vor allem aus Chihuahua, Bajo California, Sinaloa und Jalisco, benutzen diese Korridore, um die Drogen in Lastwagen, Autobussen und mit Kurieren – Leuten ohne Papiere, junge Frauen und Kinder – in den Norden zu schaffen.
In den Landkreisen an der Küste von Chiapas haben viele die Landwirtschaft und die Fischerei aufgegeben, um in die USA abzuwandern oder sich im Drogenhandel zu betätigen. Neben den genannten Korridoren sind die Lagunen und Dünen an dieser Küste und die vorgelagerten Inselchen beliebte Umschlagplätze der Narcos und der Menschenhändler. Vertreter der guatemaltekischen Drogenbekämpfungsbehörde, der Generalstaatsanwaltschaft und der Kriegsmarine von Mexico erklären, dass durch dieses Gebiete am Pazifik die wichtigste Route des Drogenhandels auf mexicanischem Territorium läuft – wichtiger als jene am Golf von Mexico
Aus: ila264. www.ila-web.de
Kolumbien: Erweiterter Werkschutz
In seinem Buch »Die Völkermord-Demokratie« weist der Jesuitenpfarrer Javier Giraldo darauf hin, dass in Kolumbien »jährlich so viele Fälle von politischem Mord und Verschwundenen« registriert werden »wie in Chile in den 17 Jahren Militärdiktatur« zusammengezählt. Trotz formal demokratischer Verhältnisse steht der Terror gegen die kolumbianische Opposition jenem der lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre in nichts nach. Nirgends auf dem Kontinent gibt es heute so viele Morde an GewerkschafterInnen, kritischen JournalistInnen und linken PolitikerInnen wie in Kolumbien.
Erklärt wird diese hohe Todesrate gängigerweise mit den bewaffneten Konflikten, die das Land seit nun 52 Jahren erschüttern. Außer auf die Guerillaorganisationen FARC und ELN, die in zwei Dritteln des kolumbianischen Staatsgebietes präsent sind, verweisen Medien auf die Drogenmafia und rechte Privattruppen als Urheber der Gewalt. Doch bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass der vermeintliche »Vielfrontenkrieg« viel weniger verworren ist, als es zunächst erscheint. Im Kampf gegen Selbstorganisierung und linke Opposition kooperieren in Kolumbien Armee, Politik, Unternehmerverbände und Drogenmafia eng miteinander. Ihr gemeinsames Ziel ist die Zerschlagung einer immer noch überraschend vitalen Opposition und die unbehinderte Aneignung der Bodenschätze in den ländlichen Gebieten. Paramilitarismus und Vertreibungen in Kolumbien haben nicht mehr vorrangig das Ziel, die Guerilla zu bekämpfen, sondern neoliberale Verwertungsbedingungen herzustellen. Denn Kolumbien ist ein für die internationalen Investoren hochinteressantes Land. Es besitzt große Vorkommen an Erdöl, Steinkohle, Gold und Smaragden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum der US-Kongress Ende März 1,4 Milliarden US-Dollar Militärhilfe an Kolumbien bewilligt hat.
von Raul Zelik
Die Ökonomie des Terrors in Kolumbien
Februar 2000. In Caracas verhandelt die ELN-Guerilla mit Gesandten der Pastrana-Regierung über die Demilitarisierung eines Gebietes im nordkolumbianischen Departement Bolívar. Auf einer Fläche von 5000 Quadratkilometern möchte die Rebellen-Organisation die sogenannte »Nationalkonvention« abhalten, eine zehn Monate dauernde Zusammenkunft aller gesellschaftlichen Gruppen, auf der über Veränderungen im Land debattiert werden soll. Von rechts kommt es zu massivem Druck. Paramilitärs zwingen 20.000 Bauern zu Protestmärschen gegen die Nationalkonvention. Nach Aussagen der Associación Campesina del Rio de Cimitarra, einer der letzten Basisorganisationen der Region, gehen die Todesschwadronen von Haustür zu Haustür, kassieren 15 Dollar pro Familie und verlangen mit vorgehaltener Waffe, dass mindestens ein Mann pro Haushalt an den Demonstrationen teilnimmt. In den Folgetagen sperren die paramilitärischen Demonstranten die wichtigsten Straßenverbindungen zur Atlantikküste. Polizei, Marine und Armee leisten dabei logistische Unterstützung. Innenminister Humberto Martínez, der sich offiziell von den Protesten distanziert, verschlechtert seinerseits mit öffentlichen Erklärungen das Klima zwischen ELN und Regierung. 14 Tage später – die Paramilitärs haben ihre Demonstrationen wieder beendet – überfallen bewaffnete Gruppen Dörfer im Umkreis des umstrittenen Gebiets. In weniger als einer Woche werden 100 Menschen massakriert. Der Schwerpunkt der Operationen sind die sogenannten Montes de María, 80 Kilometer südlich der Touristenmetropole Cartagena. Augenzeugen berichten, dass die Marine in einer der betroffenen Ortschaften die Zufahrtsstraßen abgeriegelt habe, um das Vorrücken der Guerilla zu verhindern. Danach hätten die Todesschwadronen auf dem Hauptplatz mehr als 20 Menschen im Alter von 7 bis 75 die Kehle durchgeschnitten und sie verbluten lassen.
Demilitarisierung unerwünscht
In Funk und Fernsehen jedoch ist nur die Armee-Version zu hören, wonach es »bei Gefechten zwischen Guerilla und Paramilitärs um die Vorherrschaft in der Region an die 100 Tote gegeben habe«. Der Paramilitär-Kommandant Carlos Castaño setzt nach. In einem Fernsehinterview, für das er von den Kommentatoren aller führenden Blätter – darunter auch den vermeintlich ›kritischen‹ El Espectador und El Colombiano – gerühmt wird, rechtfertigt er die Aktionen damit, dass es sich bei den Toten um »Guerilleros in Zivil« gehandelt habe. Die Augenzeugen selbst kommen nicht zu Wort. Mit den Verbrechen, die gleichermaßen barbarisch wie kühl kalkuliert ausgeführt werden, werden drei zentrale Botschaften transportiert:
1. Eine Demilitarisierung des Gebietes ist nicht erwünscht.
2. Sie wäre auch nicht sinnvoll, weil nach Abzug der Armee Paramilitärs und Guerilla ihre Auseinandersetzungen verschärfen würden.
3. Falls es doch zu einer Nationalkonvention kommen sollte, wissen alle Teilnehmer, was sie zu erwarten haben, wenn sie den Mund aufmachen: den Tod.
Das Beispiel zeigt, wie sich der Paramilitarismus zu einer umfassenden Strategie entwickelt hat, bei der Repression, Mediendarstellung und politische Mobilisierung ineinander greifen. Terror und Politik miteinander zu kombinieren, ist sicherlich nicht neu, aber die Form, wie dies in Kolumbien geschieht, geht darüber hinaus, was man aus anderen Ländern kennt, in denen so genannte Low-Intensity-Warfare-Konzepte (Kriegführung geringer Intensität, vgl. dazu auch iz3w 238, »Kriege im Frieden«) zur Anwendung kamen. Besonders charakteristisch für die Situation in Kolumbien ist, dass es nur noch zweitrangig um die Bekämpfung der Guerillaorganisationen und ihrer sozialen Basis geht. Immer stärker werden die militärstrategischen Aspekte von unmittelbar ökonomischen verdrängt.
So auch in Bolívar. In der Serranía San Lucas, einem Kordillerenausläufer in der Region, befindet sich eines der größten Goldvorkommen des amerikanischen Kontinents, ein Vorkommen, das bisher von kleinen Schürfern ausgebeutet wurde, seit 1997 jedoch – nicht zufällig auch der Beginn der paramilitärischen Operationen vorort – von transnationalen Unternehmen wie Corona Goldfields beansprucht wird. Dazu kommen geschätzte 120 Millionen DM jährlich aus dem Kokaanbau, dessen Kommerzialisierung direkt von Paramilitärs kontrolliert wird. (Der Drogenhandel ist zur wichtigsten Einnahmequelle der Ultra-Rechten bei der Finanzierung des Kriegs geworden.)
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Demilitarisierung auch weit reichende ökonomische Konsequenzen hätte. Bei einer Räumung des Gebiets müssten die Goldmultis damit rechnen, von Kleinbauernorganisationen, Gewerkschaften und Guerilla zur Zahlung von Mindestlöhnen und Steuern sowie zum Bau von Sozialeinrichtungen gezwungen zu werden. Darüber hinaus hätten die Kokahändler mit Sanktionen seitens der ELN zu rechnen, die den Drogenanbau ablehnt und zu unterbinden versucht. Der Paramilitarismus verfolgt in Bolívar also konkrete ökonomische Ziele. Es geht um den ‘freien’ Zugang zu Ressourcen und die Amortisation der Drogen-Investitionen.
Privatisierter Paramilitarismus
Der Aufbau irregulärer Truppen stand in Kolumbien ebenso wie im restlichen Lateinamerika zunächst in Zusammenhang mit der US-amerikanischen »Nationalen Sicherheitsdoktrin«, die, beseelt vom Antikommunismus, eine allgemeine politische Stabilisierung anstrebte. In militärischer Hinsicht versuchte man diese über die Einbindung der Zivilbevölkerung in den Konflikt zu gewährleisten. Partisanenbewegungen, die ‘dem Westen’ in China, Algerien und Kuba empfindliche Niederlagen zugefügt hatten, wurden mit para-staatlichen Mitteln bekämpft. In Kolumbien führte dies Mitte der 60er Jahre zur Gründung sogenannter »Nationalmilizen«: Verbände, die »zur militärischen Organisierung der zivilen Bevölkerung beitragen sollen, damit diese Kampfoperationen unterstützen kann«. (zit. nach Giraldo 1996, The genocidal democracy, S. 80). Nach der Niederlage 1975 in Vietnam wurden diese Konzepte weiter entwickelt. Es entstanden – um im offiziellen Jargon des Pentagon zu bleiben – »Low Intensity Warfare« Strategien. Die USA greifen mit Ausbildern und ‘Special Operation Forces’ präventiv in Konflikte ein, direkte Interventionen jedoch werden vermieden. So investierte die US-Regierung bei den Kriegen in Zentralamerika, Afghanistan oder Angola zwar viel Geld, verstand es aber gleichzeitig, Verantwortlichkeiten auszulagern. Der Krieg wurde von Einheimischen bzw. Söldnertruppen geführt. Größere Bedeutung erlangte außerdem die Öffentlichkeits- und Geheimdienstarbeit. Man stellte fest, dass eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung erstens ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz und zweitens Informationen über die Strukturen des Gegners benötigt. Zu diesem Zweck gründete man »paramilitärische« Organisationen der Bevölkerung (in Guatemala »Zivilverteidigungen«, in der Türkei »Dorfschützer«), über die die Armee den Konflikt in die Zivilbevölkerung hineintragen konnte.
In Kolumbien erhielt dieses Konzept jedoch noch eine weitere Komponente: Die Privatwirtschaft engagierte sich. Der Paramilitarismus wurde nicht mehr nur als staatliches Instrument der Aufstandsbekämpfung begriffen, sondern auch als eine Art ‘erweiterter Werkschutz’ – auch wenn staatliche Stellen die Privattruppen protegierten und z.T. selbst aufbauten. Beim gemeinhin als Gründungsversammlung des heutigen Paramilitarismus bezeichneten Treffen 1982 in der Garnisonsstadt Puerto Boyacá spiegelte sich diese Interessenlage wieder. »Die Gruppe konstituierte sich unter dem Militärbürgermeister Oscar Echandía« mit Beteiligung »von Vertretern der Texas Petroleum Company, Mitgliedern des Viehzüchterkomitees, Politikern, Armeeangehörigen, Händlern und anderen besonderen Gästen.«1 1983 gesellte sich zu der Allianz eine weitere wichtige Fraktion des Kapitals hinzu: die Drogenmafia des Medellín-Kartells. Carlos Rodríguez Gacha, Schwiegersohn des legendären Pablo Escobar, wurde zu einem der wichtigsten Anführer der Paramilitärs. Das Interesse der Drogenmafia wies zwar einige Besonderheiten auf – das Kartell wollte in der Region u. a. Koka-Laboratorien einrichten –, aber letztlich ging es auch ihr darum, die bestehende Gesellschaftsordnung gegen soziale Proteste zu verteidigen.2
Das konkrete Ziel der einsetzenden Operationen war die Zerschlagung des sozialen Netzes, aus dem sich die Opposition in der Region (zwischen Bogotá und der Erdölmetropole Barrancabermeja) speiste. Hauptgegner war nicht die Guerilla, sondern Erdölgewerkschaften, Bauernverbände und die Kommunistische Partei, die die Ausbeutung der Ölvorkommen und die Ausbreitung der Latifundien beschränkten. Die Strategie erwies sich als ausgesprochen effizient. Innerhalb von vier Jahren war ein Gebiet von 200 mal 100 Kilometern in den Händen von Armee und Todesschwadronen. Mit Massakern, selektiven Morden, Drohungen und Bombardierungen wurde die Sozialstruktur regelrecht umgepflügt. Zehntausende BäuerInnen verließen die Region und wurden durch Armeeangehörige ersetzt, Kleinbauernland verwandelte sich in Großgrundbesitz. Das Konzept war so erfolgreich, dass es auch in anderen Wirtschaftsregionen zur Anwendung kam. So heuerten die Bananen-Unternehmerverbände UNIBAN und AUGURA ausländische Söldner an, um in der Plantagenregion Urabá mit Unterstützung der XVII. Armeebrigade ein umfassendes Paramilitärnetz aufzubauen. Schon 1993 waren die Gewerkschaften auf den Plantagen vollständig aufgelöst. Insgesamt sind nach Statistiken der kirchlichen Untersuchungskomission Justicia y Paz in Kolumbien seit Mitte der 80er jährlich um die 3000 politische Morde verübt worden, dazu kommt eine Dunkelziffer von weiteren 30.000 ‘anderen’ Gewalttaten. Legale oppositionelle Gruppen existieren kaum noch, regierungskritische Menschenrechtsarbeit wird nur noch von einem winzigen Kreis von Personen geleistet. Zwei Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht.
Größte Artenvielfalt
Auf dem ersten landesweiten Treffen von Kriegsflüchtlingen im Februar 2000 in Bogotá wurde offensichtlich, dass sich diese Strategie noch weiter ausweiten wird. In keinem der 35 Redebeiträge wurden Gefechte zwischen Paramilitärs / Armee und Guerilla als wichtigste Fluchtursache genannt. Hingegen berichteten 30 von 35 RednerInnen, dass das Auftauchen der Todesschwadrone in ihren Herkunftsgebieten in unmittelbarem Zusammenhang mit ökonomischen Großprojekten gestanden habe. So wurden mehrere Tausend Embera-Katio-Indígenas 1998/99 vertrieben, weil sich ihre nördlich von Medellín gelegenen Wohnorte auf dem Gelände des Staudammprojektes Urrá befinden. Vertriebene aus Norte de Santander an der Grenze zu Venezuela wiesen auf das Interesse der Multis an den Steinkohlevorkommen in ihrer Region. Die U’wa-Indígenas berichteten, dass sie erst unter Druck gerieten, als die OXY-Company nach Öl zu suchen begann. Und im Chocó (Pazifikküste) schließlich wurden 1998 mehrere Tausend Schwarze Opfer von Vertreibungen, weil in der Gegend eine interozeanische Verkehrsverbindung geplant ist, die für die Errichtung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone von strategischer Bedeutung wäre, und damit die Bodenpreise explodierten.
An diesen Beispielen wird deutlich, dass eine enge Verbindung zwischen neoliberaler Wirtschaftspolitik, wachsenden Investitionen der Transnationalen und der Ausbreitung des Paramilitarismus existiert. Die Todesschwadronen sind gewissermaßen eine Voraussetzung für die »Entgrenzung« des Kapitals, wie auch Berichte der Gewerkschaften unterstreichen. So bereitet das gewerkschaftliche Bildungsinstitut INS für den Herbst ein internationales Meinungstribunal gegen Coca-Cola und Nestlé vor. Dabei sollen v. a. paramilitärische Aktivitäten behandelt werden, die in den Niederlassungen der Unternehmen auf der Tagesordnung stehen und in verschiedenen Fillialen zur Zerschlagung der Gewerkschaften führten. Der Ölarbeiterverband USO wiederum wirft British Petroleum, einem der wichtigsten Ölmultis im Land, vor, mittels eines privaten Sicherheitsdienstes Informationen über die Betriebsgewerkschaften an die kolumbianische Polizei weiter gegeben und ein illegales Sicherheitsnetz in der Nähe ihrer Förderanlagen in Yopal (Casanare) aufgebaut zu haben.3
Ob die Paramilitärs nun dabei auf Anweisung der Konzernzentralen handeln oder nicht, ist kaum zu klären. Fest steht, dass der Paramilitarismus den Unternehmen eine bessere Rendite garantiert: weniger Streiks, niedrigere Löhne, weniger Proteste gegen Großprojekte. Das Auftreten des Paramilitarismus unterscheidet sich sogar je nach wirtschaftlichem Interesse. Schwarzenorganisationen von der Pazifikküste berichten, dass dort, wo Verkehrsverbindungen geplant sind und deshalb Bodenspekulation betrieben wird, auf Vertreibung gesetzt wird, während an den Orten, wo die Gen-Erforschung im Vordergrund steht – der kolumbianische Westen besitzt die größte Artenvielfalt der Welt und ist deswegen zum Untersuchungsobjekt von Gen-Multis geworden –, ›nur‹ selektive Morde verübt werden. Das Know-How der Einheimischen ist für die Erforschung von Flora und Fauna unverzichtbar. Verfolgt würden deshalb nur jene Aktivisten von Schwarzen- und Indígena-Organisationen, die sich der Durchkapitalisierung der Natur widersetzen.4
Ein Sprecher der Sozialen Bewegung der Vertriebenen Antioquias fasste die Angelegenheit auf dem Flüchtlingstreffen denn auch unter dem ökonomischen Aspekt zusammen: »Wir haben hier eine 500jährige Geschichte der Vertreibung. Früher waren wir Opfer von Kirche und Krone, später der Großgrundbesitzer, heute von Drogenhändlern und Multis.« Auch Belen Torres vom Bauernverband ANUC hält diesen Aspekt für zentral. »In Kolumbien kommt es nicht etwa zu Vertreibungen, weil Krieg geführt wird, sondern der Krieg wird geführt, damit es zu Vertreibungen kommt.« Diese Logik ist nicht neu. Was sich jedoch geändert hat, sind Interesse und Ausmaße der Operationen.
Tatsächlich haben sich allein die Paramilitärkommandanten Carlos Castaño und Victor Carranza seit 1990 3 – 3,5 Millionen Hektar fruchtbares Land angeeignet. Der Paramilitarimus ist ein Instrument, um Investitionen zu schützen, aber er ist gleichzeitig auch selbst zum ökonomischen Faktor geworden. Die Agenten des Terrors profitieren von ihren Verbrechen und haben ihre Position innerhalb der Eliten ausgebaut. Mehr noch: Ihnen ist es gelungen, einen Teil der Bevölkerung ökonomisch an sich zu binden, denn auch niedrige und mittlere Schergen der Todesschwadronen können sich bereichern. So mutiert der sich re-regulierende Kapitalismus in Kolumbien zu einem durchmilitarisierten Raub- und Terrorsystem.
Anmerkung
- Carlos Medina Gallego »Autodefensas, paramilitares y narcotráfico en Colombia«. Der Fall ist ausführlich belegt, da u. a. Bürgermeister Echandía selbst umfangreiche Aussagen bei der kolumbianischen Staatsanwaltschaft machte. [back]
- Das Medellín-Kartell wurde 1989 zum Angriffsziel der Regierung, weil es sich zunehmend verselbständigt hatte. Der Drogenhandel blieb dennoch ein Kernstück der paramilitärischen Allianz. So gehörten die heutigen Kommandanten der Todesschwadrone, die Castaño-Brüder Fidel und Carlos, in den 80er Jahren zu den Vertrauten Pablo Escobars. Heute gilt Carlos Castaño in Medellín als Chef des neuen Kartells. 80 % des für die USA bestimmten Kokains wird nach Angaben der DEA aus den nordkolumbianischen Häfen in Urabá verschifft – einer Region, die unter totaler Kontrolle Castaños und seiner Paramilitärs steht. Zwar ist vorstellbar, dass auch er eines Tages vom kolumbianischen Staat ›fallen gelassen‹ wird, aber in den vergangen 15 Jahren konnte er sich sowohl hinsichtlich des Drogenhandels als auch der von ihm durchgeführten Kriegsverbrechen völliger Straffreiheit erf [back]
- Recherchen über den Fall wurden u. a. von EnviroNews Service und einem britisch-kolumbianischen Journalistenteam der Zeitungen El Espectador und The Guardian veröffentlicht. [back]
- Die Information stammt aus eigenen Recherchen, u. a. Interviews mit einem Aktivisten aus Chigorodó, Urabá. (vgl. Zelik / Azzellini 1999, Gespräch mit Juan Perea) [back]
Raul Zelik veröffentlichte zuletzt den Kolumbien-Roman La Negra (Ed. Nautilus, 2000) und das Sachbuch Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung (ISP-Verlag, 1999)
Kolumbien: Ein Auge auf Kolumbien werfen
Internationale Karawane zur Unterstützung der kolumbianischen Gewerkschaften
24 kolumbianische Organisationen riefen im Juni zu einer „Internationalen Karawane für das Leben kolumbianischer Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen“ auf. Darunter waren der größte Gewerkschaftsdachverband CUT und viele Einzelgewerkschaften aus dem Lebensmittelbereich, dem Bergbau, dem Bankensektor und dem Öffentlichen Dienst. Auch Menschenrechtsgruppen und Basisorganisationen unterstützten die Initiative. 56 Personen aus neun Ländern, darunter AktivistInnen aus den USA, Italien, Spanien, Großbritannien, Belgien, Deutschland und der Schweiz, reisten nach Kolumbien, um sich vor Ort über die Lage zu informieren. Sie führten Gespräche mit VertreterInnen von Gewerkschaften, politischen und sozialen Bewegungen, aber auch mit der kolumbianischen Regierung und mit Botschaften in Bogotá. In mehrere Gruppen aufgeteilt reisten sie in Konfliktzonen. Aus Deutschland nahmen Beatrix Sassermann, Betriebsrätin bei Bayer in Wuppertal, Marianne Hürten, NRW-Landtagsabgeordnete, und Christine Klissenbauer von Pax Christi Deutschland an der Karawane teil. Wir befragten Beatrix Sassermann und Christine Klissenbauer zu ihren Erfahrungen in Kolumbien.
Kolumbien ist aktuell das gefährlichste Land für Gewerk schafterInnen. Was heißt das konkret? Welche Eindrücke hattet ihr bei der Reise?
Beatrix Sassermann: Die Lage ist erschreckend. Bei allen Gesprächen wurden uns konkrete Fälle von Verfolgung und Ermordung aktiver GewerkschafterInnen vorgetragen. Wir haben jede Menge Unterlagen mit Daten und Fakten erhalten, die wir gerade aufarbeiten. Bis August sind in diesem Jahr 41 Kolleginnen und Kollegen ermordet worden. Dazu kommen andere Formen der Repression, wie willkürliche Festnahmen, Entführungen, die Bedrohung von Familienangehörigen wie auch die Kriminalisierung von Tarifauseinandersetzungen. Als Beispiel mag die Erdölgewerkschaft USO dienen. Die gesamte Gewerkschaftsleitung wurde von Paramilitärs zum militärischen Ziel erklärt. Die Vertreter der USO werden seit Jahren aber auch von staatlichen Stellen terrorisiert. So stand ihr stellvertretender Vorsitzender Hernando Hernández 14 Monate unter Hausarrest, bis sie diesen mangels Beweisen aufheben mussten. Dabei wurden von so genannten Zeugen, die später ihre Bestochenheit zugaben, Anschuldigungen erfunden, wie Treffen mit der Guerilla in den Bergen, während der Kollege auf Konferenzen in Europa war. Zuletzt wurde der Streik der USO im Mai dieses Jahres für illegal erklärt, 26 führende Gewerkschaftsvertreter wurden entlassen. Die finanzielle Lage der Gewerkschaft ist prekär. (Vgl. ila 276)
Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie auf den verschiedensten Ebenen die gewerkschaftliche Organisation untergraben und zunichte gemacht wird, bis hin zur physischen Vernichtung ihrer RepräsentantInnen. Die Behauptung der Regierung, dass sich die Verhältnisse seit ihrem Amtsantritt verbessert hätten, wurde von allen, mit denen wir sprachen, zurückgewiesen. Es ist richtig, dass die Zahl der Ermordungen von Gewerkschaftern zurückgegangen ist. Die Repression hat sich aber eigentlich nur verlagert, auf Angehörige, MitarbeiterInnen, und ist subtiler und selektiver geworden.
Meist verschwindet die spezifische Verfolgung von GewerkschafterInnen in Kolumbien ja im Nebel des Antiterrorkampfes oder wird so legitimiert. Was sind die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe? Gibt es GewerkschafterInnen bzw. -sektoren, die besonders von Repression betroffen sind?
Es versteht sich von selbst, dass in erster Linie Gewerkschaften betroffen sind, die eine kritische Position zur Regierungspolitik oder zu den transnationalen Konzernen haben. Eine zentrale Auseinandersetzung ist der Kampf gegen die Privatisierung der Erdölindustrie und der öffentlichen Versorgung wie Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung. Ausländische Konzerne stehen Schlange, um endlich das kolumbianische Erdölbusiness zu übernehmen. Große Konflikte gibt es auch in Bereichen, wo transnationale Unternehmen tätig sind, wie in der Blumenindustrie, dem Bergbau und der Lebensmittelbranche. Bei den Blumenarbeiterinnen werden seit Jahren immer wieder Gewerkschaftsgründungen zerschlagen, die Initiatorinnen entlassen oder sie können nur im Verborgenen arbeiten. Bei den Nahrungsmitteln mit Konzernen wie Coca-Cola und Nestlé befindet sich die Gewerkschaft Sinaltrainal im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss. Gewerkschaften, die Einkommen und erträgliche Arbeitsbedingungen fordern, werden als Investitionshemmnis im internationalen Wettbewerb betrachtet, das es zu beseitigen gilt. In vielen Fällen haben diese Gewerkschaften Alternativen zur herrschenden Politik erarbeitet, z.B. zur Lebensmittelsouveränität, zur Energiepolitik, zum Finanzsystem, sie treten für eine Agrarreform ein und kämpfen gegen die Freihandelsabkommen. Damit sind sie Opposition zur ultrarechten, neoliberalen, von den USA gestützten Regierungspolitik. Und da ist es bequem, sie in einen Topf mit anderen Oppositionen wie den Guerillas zu werfen und alle zusammen zu Terroristen zu erklären, dann braucht man für die wahren Ursachen der Gewalt und Armut im Land keine Lösungen zu finden.
Es geht bei den beschriebenen Gewerkschaftsauseinandersetzungen zum einen um die unmittelbare Interessenvertretung bezüglich der Arbeitsplätze wie Löhne und Arbeitsbedingungen, die ein würdiges Leben ermöglichen (sollen), die aber zum anderen zwangsläufig die Fragen der großen Politik berühren. Bei den Privatisierungen gehen Arbeitsplätze und die Befriedigung der Grundbedürfnisse der breiten Bevölkerung verloren, die Belastungen steigen, die Löhne sinken. Die internationalen Konzerne ersetzen ihre festen Belegschaften durch prekär Beschäftigte, die sich nach ihrem Willen nicht mehr in Gewerkschaften organisieren können. Coca-Cola hat z.B. im Juli beim kolumbianischen „Sozialministerium“ beantragt, Satzungsbestimmungen der Gewerkschaft Sinaltrainal zu streichen, die die Organisierung von „prekären“ Arbeitnehmern erlauben.
Eure „Karawane“ hat auch die erdölreiche Region Arauca besucht. Im August wurden dort drei Gewerkschafter von der Armee exekutiert. Was ist vorgefallen und was ist der Hintergrund? Was habt ihr dort erlebt?
Wir Deutsche waren im Rahmen der Karawane nicht in Arauca, sondern hatten uns für Barrancabermeja und Bucaramanga entschieden, da zwei von uns aus dem Chemiebereich kommen und wir gerne die „Erdölhauptstadt“ kennen lernen wollten. Aber ich war vor einem Jahr in der Region Arauca. Nur kurz, aber es reichte, um die unvorstellbare Militarisierung und Spannung wahrzunehmen. Arauca kann man als Labor für Menschenrechtsverletzungen bezeichnen. Amnesty International hat einen ausführlichen Bericht dazu verfasst.1 Das erste, was mich bei der Ankunft in Saravena verblüffte, war, dass die kolumbianischen Soldaten, die uns am Flughafen kontrollierten, als Abzeichen einen Bohrturm der US-amerikanischen Erdölfirma Occidental Petroleum (Oxy) auf der Uniform trugen. Direkt neben dem Flughafen gab es einen US-Militärstützpunkt. Dann dämmerte es mir, in Arauca gibt es Öl und wo Öl ist, scheint es Krieg und US-amerikanische Soldaten zu geben.
Aber es gibt in Arauca auch eine starke soziale Bewegung, die große Risiken auf sich nimmt. Viele AktivistInnen waren schon verhaftet oder umgebracht worden. Gewerkschaftsbüros mit Einschusslöchern standen seit einiger Zeit leer. Seit der Verabschiedung des Antiterrorstatuts Ende Dezember 2003, das aber noch nicht in Kraft getreten war und Anfang September dieses Jahres vom kolumbianischen Verfassungsgericht für nicht verfassungskonform erklärt wurde, haben nichtsdestotrotz willkürliche Festnahmen, Bespitzelungen und Gewalttaten seitens des Militärs zugenommen. Die Grenzen zwischen Paramilitärs und staatlichem Militär sind außerdem fließend. In diesem Kontext werden am 5. August drei Gewerkschaftsführer – einer davon ist ein historischer Bauernführer – vom Militär ermordet. Es handelte sich dabei um Soldaten der
18. Brigade, die von den USA zum Schutz der Erdölanlagen und zur Aufstandsbekämpfung ausgebildet und finanziert wird. Obwohl der offiziellen Version, dass die drei Gewerkschafter schießend im Kampf gefallen seien, sofort von Zeugen widersprochen wurde, hatte der oberste Menschenrechtsbeauftragte und Vizepräsident Kolumbiens nichts Besseres zu tun, als diese Version in der Öffentlichkeit zu stützen. Erst einen Monat später, nachdem es massenhaft in- und ausländische Proteste gehagelt hatte und die Staatsanwaltschaft diese Darstellung für substanzlos erklärt und Haftbefehle für drei Soldaten und einen Spitzel ausgestellt hatte, gab Vizepräsident Santos seinen »Irrtum« zu. Die Wahrheit ist, dass die drei Gewerkschafter, wehrlos im Schlaf überrascht, vor ihren Mördern noch auf die Knie fallen mussten, bevor sie vom Militär exekutiert wurden.
Die deutsche Delegation bestand aus drei Frauen. Wie seht ihr die Situation aus Frauenperspektive? Einerseits richtet sich die Repression in Kolumbien auch direkt gegen engagierte Gewerkschafterinnen, andererseits sind Frauen auch betroffen, wenn ihre Männer dauernd bedroht sind und sie damit rechnen müssen, dass sie umgebracht werden...
Christine Klissenbauer: Beides ist in Kolumbien der Fall. Dem Bericht der Gewerkschaftsbildungs- einrichtung Escuela Nacional Social (ENS) zu den Jahren 2001 bis Dezember 2003 entnehmen wir eine zunehmende Repression gegen Gewerkschaftsfrauen. Im Jahr 2002 wurden 20 Frauen ermordet und 2003 waren es bereits 27 Frauen. Besonders stark nahmen die Todesdrohungen gegen Gewerkschafterinnen zu. Waren es sechs Frauen, die 2002 mit dem Tode bedroht wurden, so steigerte sich die Zahl im Jahr 2003 auf 104. In diesem Jahr wurden acht Gewerkschaftsfrauen verhaftet, zwei Frauen wurden gewaltsam entführt und 42 Frauen aus ihrem Lebensbereich vertrieben. Die Summe der Menschenrechtsverletzungen an Gewerkschafterinnen belief sich 2003 auf 194. In diesem Jahr, so wurde uns berichtet, trifft die Bedrohung vor allem Lehrerinnen, Anwältinnen und Dozentinnen, die gewerkschaftlich organisiert sind.
Die gegen Frauen gerichtete Gewalt hat eine weitere schwerwiegende Bedeutung. In ihrer sozialen Rolle sind Frauen nicht nur für ihr eigenes Leben verantwortlich, sondern für ein ganzes Familiengeflecht. Das Wohl und Wehe ihrer Kinder, die Integrität der Familie hängt weitgehend von den Frauen ab. Somit ist ein Angriff auf sie gleichzeitig gegen ihre Kinder, gegen ihre Familie und deren Schicksal gerichtet. Es kann nachgewiesen werden, dass die Gegner dies bewusst mit einkalkulieren und besonders perfide Formen der Bedrohung und Einschüchterung gegenüber Gewerkschaftsfrauen anwenden.
Wir haben auch Zeugenberichte von Frauen gehört, deren gewerkschaftlich organisierte Männer teilweise vor ihren Augen verschleppt und später ermordet wurden, die zutiefst traumatisch belastet sind und ihre Kinder ebenfalls, vor allem, wenn der Mord an dem Vater vor ihren Augen geschah. Die Last, die den betroffenen Frauen und Müttern aufgebürdet ist, die Alleinsorge für die Kinder und der ungesicherte Unterhalt gehen oft weit über ihre Kräfte.
Der Gewerkschaftsdachverband CUT hat Anstrengungen unternommen, mehr auf ILO-Ebene tätig zu werden. Welche Möglichkeiten gibt es?
B.Sassermann: In der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) wird seitens der Gewerkschaftsvertreter schon seit Jahren versucht, Kolumbien wegen der Menschen- und Gewerkschaftsrechtsverletzungen zu sanktionieren und eine Untersuchungskommission ins Land zu entsenden. Dies ist in der drittelparitätischen Organisation bisher immer an den Stimmen von Regierungsvertretern und Arbeitgebern gescheitert. Warum die Bundesregierung der Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht zustimmen konnte, ist mir unverständlich, da das Unrecht an sich überhaupt nicht bestritten wird. Es gelingt der kolumbianischen Regierung anscheinend immer wieder sich als neutrale Instanz darzustellen, die keine Kontrolle im Land habe. Diese Darstellung ignoriert völlig die Abwesenheit rechtsstaatlicher Prinzipien, die zu Unrecht Inhaftierten, die enorme Straflosigkeit von über 90 Prozent der Verbrechen an Gewerkschaftern und die Beteiligung staatlicher Einrichtungen an den Verbrechen, wie zuletzt in Arauca. Daher müssen die Bemühungen auf der institutionellen Ebene aus meiner Sicht durch konkrete Maßnahmen internationaler Solidarität begleitet werden.
Internationale Solidarität tut not... Was läuft im Bereich internationaler – konkret: deutscher – Gewerkschaftssolidarität mit Kolumbien? Sind die Probleme in Kolumbien für die deutschen KollegInnen weit weg oder gibt es Sensibilität, konkrete Aktionen?
Natürlich sind die Probleme in Kolumbien für die deutschen KollegInnen weit weg, außerdem sind sie noch sehr komplex. Dennoch hat erfreulicherweise seit gut einem Jahr so eine Art Aufbruch in der Solidarität mit kolumbianischen Gewerkschaftern stattgefunden. So hat z.B. die NGG (Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten) im Saarland einen kolumbianischen Gewerkschaftskollegen der Sinaltrainal als Ehrenmitglied aufgenommen, der DGB eine kolumbianische Delegation nach Deutschland eingeladen, Verdi den Boykott von Coca-Cola auf ihrem Gewerkschaftstag beschlossen, auf dem auch eine kolumbianische Gewerkschafterin gesprochen hatte. Auch an der Basis und in Sozialforen gibt es eine Reihe von Aktivitäten.
Aber natürlich gibt es noch viel zu tun und ganz viele Ideen, die zu präsentieren hier den Rahmen sprengen würde. Erwähnen möchte ich nur die angedachte Fortsetzung der Karawane, die Broschüre »Ein Auge auf Kolumbien werfen«, die von Marianne Hürten erstellt wird, und die Rundreise des internationalen Sekretärs der Gewerkschaft Sinaltrainal im Oktober. Die Menschenrechte dürfen nicht wirtschaftlichen oder politischen Interessen geopfert werden. Wichtig ist, dass wir in unseren Ländern dafür sorgen, dass Unrechtsregime nicht unterstützt werden. Die kolumbianische Regierung ist nicht hilflose, unbeteiligte Partei in einem 40 Jahre andauernden Konflikt, sondern ist durch Duldung und Unterlassung mitverantwortlich für unglaubliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die kolumbianischen Kolleginnen und Kollegen schreiben im Aufruf zur Karawane, dass sie das Recht haben an der weltweiten Diskussion über eine mögliche andere Welt teilzunehmen, dass sie aber dafür am Leben sein müssen. Ich glaube, dem ist nur zuzustimmen und nichts mehr hinzuzufügen.
Beatrix Sassermann ist Betriebsrätin bei Bayer in Wuppertal und Mitglied des BaSo-Chemiekreises (Basis Initiative Solidarität) und des Internationalen Solidaritätsnetzwerkes (ISNRSI). Christine Klissenbauer hat als Friedensarbeiterin von Pax Christi Deutschland in der Erdölstadt Barrancabermeja gearbeitet und ist in der Kolumbien-Menschenrechts- und Solidaritätsarbeit engagiert. Die schriftlichen Fragen stellte Bettina Reis.
Aus: ila 279, www.ila-web.de
Kuba: Insel blockiert, Exil saniert
Die US-Kubapolitik als verlängerte Innenpolitik
Ein irrationales Relikt des Kalten Krieges - so analysieren viele die Blockade-Politik der USA gegen das sich ausländischem Kapital längst öffnende Kuba. Betrachtet man diese jedoch als verlängerte Innenpolitik, so zeigt sich, daß es gleichwohl rationale ökonomische Interessen gibt, die die Fortführung der restriktiven Außenhandelspolitik gegen das Castro-Regime erklären können.
von Hans-Jürgen Burchardt
Fidel Castro wird nicht müde, die völkerrechtswidrige US-Blockade gegen Kuba anzuprangern. Der kubanische Staatschef hat mittlerweile einflußreiche Rückendeckung erhalten: nach der OAS, Kanada und dem Vatikan kritisierte letzten November zum fünften Mal die UN-Generalversammlung in einer Resolution diese Reliquie des Kalten Krieges. Angeführt werden die weltweiten Proteste aber zur Zeit von der EU: Die europäischen Staaten stimmten in der UNO nicht nur zum ersten Mal geschlossen für eine Aufhebung der Blockade, sie klagen auch vor der Welthandelsorganisation WTO. Die Kubapolitik wird nicht nur als Ausdruck US-amerikanischer Hegemoniebestrebungen interpretiert, sondern auch als Affront gegen die Handelsliberalisierung kritisiert. Nicht zuletzt, weil die USA dadurch immer stärker eine internationale politische Isolation riskieren, sprechen neuere Erklärungsversuche der US-Kubapolitik von einer emotional geleiteten »Irrationalität«, die in einer »Verletzung des imperialen Stolzes« der USA begründet liegt.
Ohne einer solchen Argumentation jegliche Relevanz abzusprechen, gibt es aber durchaus eine rationale Erklärung für die »Ignoranz« der Vereinigten Staaten. Die jüngste Blockadeverschärfung kann auch mit ökonomischen Gründen erklärt werden - nämlich mit binnenökonomischen. In den USA hat sich traditionell eine Außenwirtschaftspolitik entwickelt, die unilateral geprägt ist, oft sehr unsensibel reagiert und mehr die Funktion einer verlängerten Innenpolitik erfüllt. Das hat folgenden Grund: Einerseits ist das Exportvolumen der »Exportnation USA« von großem Gewicht. Andererseits macht der Außenhandel aber nur einen Anteil von weit unter zehn Prozent am BIP aus. Mit anderen Worten: Der Außenhandel hat zwar weltwirtschaftlich großen Einfluß, ist für die Vereinigten Staaten selber aber nur von untergeordneter Bedeutung. Die These von der verlängerten Innenpolitik trifft auch auf die nordamerikanische Kubapolitik zu. Die Clinton-Administration konnte sich mit ihrer jüngsten Verschärfung der Blockade den gewichtigen innenpolitischen Einfluß der exilkubanischen Gemeinde in Florida sichern. Denn die neuen - nach ihren Initiatoren als Helms-Burton-Bill bekannten - Gesetzesbestimmungen sind bei genauerem Hinsehen ein Wirtschaftsförderprogramm für exilkubanische und aus Kuba vertriebene Industriekreise. Diese bemerkenswerte Interpretation über die wirkliche Funktion der Blockade liefert uns der Exilkubaner Louis F. Desloge III, der sich selbst zum konservativen Teil des Exils zählt und eine Destabilisierung des Castro-Systems durch eine Aufhebung der Blockade erreichen will. Er geht nämlich davon aus, daß der äußere Druck auf Kuba nur die innere Einheit festige. Nach Desloge III folgt die letzte Blockadeverschärfung »einem raffinierten Plan«: Nach dem dritten Absatz jenes Helms-Burton-Gesetzes können die alten Eliten des vorrevolutionären Kuba, die mit der Revolution enteignet wurden, ausländische Unternehmer vor US-Gerichten verklagen, wenn diese in Kuba in Besitz investieren, der vor der Revolution den Exilierten gehörte. So könnte z.B. Bacardí den französischen Spirituosenhersteller Pernod Ricard verklagen, der zur Zeit weltweit die kubanische Rum-Marke Havana Club vertreibt. Die Möglichkeit der Klage kann so als Druckmittel benutzt werden, um außergerichtliche Vergleiche zu erreichen. Denn das Helms-Burton-Gesetz verfügt über ein juristisches Schlupfloch, nach dem die Streitparteien zu einer außergerichtlichen Schlichtung kommen können. Die praktischen Folgen dieser Bestimmung liegen für Desloge III auf der Hand: »Es ist nicht anzunehmen, daß ausländische Unternehmen wie Pernod Ricard oder Unilever profitable Geschäftszweige in Kuba aufgrund einer Klage aufgeben. Wahrscheinlicher ist, daß diese Konzerne kubanische Exilierte, die unter dem Helms-Burton-Gesetz klagen, widerwillig mit Geld abfinden werden.«
Die neue Blockadeverschärfung erlaubt es also den alten Eliten Kubas, von den neuen Unternehmern eine Art Gewinnsteuer zu erheben - um sich so vom wirtschaftlichen Aufschwung auf der Insel eine Scheibe abschneiden zu können. Da nach dem neuen Gesetz nur diejenigen klagen dürfen, die früher ein Eigentum von mindestens 50.000 US-Dollar besaßen, ist auch der Adressat dieser Wirtschaftsfördermaßnahme ganz eindeutig: »Man muß schon sehr reich gewesen sein, um 1959 in Kuba so viel besessen zu haben. Ein kubanischer Schlachter, Bäcker oder Kerzenmacher hat da Pech gehabt. Für ihn ist das Gesetz nicht gemacht.« Unter diesem Blickwinkel kann auch die Politik eines Bill Clinton neu bewertet werden. Der US-Präsident hatte Anfang Januar 1997 zum dritten Mal von seinem Recht Gebrauch gemacht, die volle Anwendung des Helms-Burton-Gesetzes für jeweils sechs Monate zu verzögern. Dabei setzte er immer nur den erwähnten dritten Artikel mit dem Klagerecht für Exilkubaner außer Kraft. Was weltweit als erste Konzession auf den wachsenden Protest gegenüber der US-Kubapolitik interpretiert wurde, folgt einer ganz anderen Logik. Die Aussetzung des Klagerechts verringert das Drohpotential des Exils gegenüber ausländischen Investoren nicht im geringsten, da das Klagerecht nun gesetzmäßig festgeschrieben ist und Clintons alle sechs Monate zu erneuerndes Veto letztendlich jeweils nur aufschiebenden Charakter hat. Nur solange die Blockade in ihrer jetzigen Form weiterexistiert, garantiert sie den einflußreichen Exilkubanern auch Gewinne. Denn es ist höchst zweifelhaft, daß das kubanische Exil nach einem Systemwechsel auf Kuba seine Besitzansprüche gegenüber ausländischen Investoren international durchsetzen könnte. Teile des Exils haben inzwischen aber offensichtlich gelernt, bei ihren Rekolonialisierungsgelüsten auf die Kolonie verzichten zu können.
Hans-Jürgen Burchardt veröffentlichte zuletzt "Kuba. Der lange Abschied von einem Mythos", erschienen im Schmetterling-Verlag.
erschienen in: iz3w 221, Freiburg 1997
Kuba: Kunst und Revolution
Das kubanische Kino im Spannungsfeld der Kulturpolitik
Das kubanische Kino ist ein Kind der Revolution. Es entwickelte sich im Spannungsfeld von Kulturpolitik und filmwirtschaftlichen Bedingungen. Noch heute setzen diese beiden Faktoren den strukturellen und thematischen Rahmen für kubanische Filmproduktionen.
von Volker Kull
Seit Beginn der 90er Jahre erfreut sich das kubanische Kino großer Beliebtheit beim deutschen Publikum. Ausschlaggebend für den Erfolg sind vor allem Werke wie Alicia en el pueblo de Maravillas (Alicia im Dorf der Wunder, 1991) von Daniel D'az-Torres und Fresa chocolate (Erdbeer und Schokolade, 1993) des 1996 verstorbenen Erfolgsregisseurs Tom's Gutirrez-Alea. Zweifelsohne zeichnen sich beide Filme dadurch aus, daß sie dem Publikum anspruchsvolle Unterhaltung bieten. Wie viele kubanische Filmproduktionen verbinden sie erzählerische Substanz und eine herausragende filmische Ästhetik mit einem für Kuba typischen Sinn für Humor. Dieser Humor bewegt sich zwischen einer liebevoll ironischen Perspektive auf die gesellschaftliche Situation Kubas im periodico especial und Zynismus oder Sarkasmus.
Beide Filme stießen bei den politischen Funktionären Kubas auf große Kritik. Die bissige Satire auf die gesellschaftliche Wirklichkeit Kubas Alicia en el pueblo de Maravillas lief gar nur vier Tage in kubanischen Kinos und fiel dann der Zensur zum Opfer. Erst 1995 wurde der Film, vorerst nur für den internationalen Verleih, wieder freigegeben. Wie es mšglich ist, daß in Kuba zwar kritische Filme produziert werden dürfen, dann jedoch nur sporadisch oder überhaupt nicht zur öffentlichen Aufführung kommen, verdeutlicht ein Blick auf die Geschichte der kubanischen Kinematographie vor und nach der kubanischen Revolution 1959.
Das vorrevolutionäre Kino
Die vorrevolutionäre kubanische Kinogeschichte ist gekennzeichnet durch die neokoloniale Hegemonie der USA. Neben französischen und italienischen Produktionen, die in den Anfangsjahren des Films den kubanischen Filmmarkt dominierten, waren es vor allem mexikanische, argentinische und insbesondere US-amerikanische Produktionen, die den kubanischen Filmsektor stark beeinflußten. Obwohl Kuba eines der ersten Länder war, in dem das Kino bereits Ende des letzten Jahrhunderts Fuß faßte, kam es vor der Revolution nie zum Aufbau einer unabhängigen kubanischen Kinokultur. Die US-amerikanischen Produktionsgesellschaften, vornehmlich die Columbia-Pictures, verteidigten bis Ende der 50er Jahre ihre Vormachtstellung und profitierten von den günstigen Produktionsbedingungen in Kuba. Außerdem waren die US-amerikanischen Filme ein wichtiges Instrument, um die kulturelle Hegemonie der USA zu festigen und der kubanischen Bevölkerung den american way of life näher zu bringen. Die kubanische Geschichte, die kulturelle Tradition oder unmittelbare Alltagsthemen kamen, wenn überhaupt, nur als exotische Kulisse zum Ausdruck. Kurz vor der kubanischen Revolution stammten 70 Prozent der in den kubanischen Kinos aufgeführten Filme aus den USA, dagegen nur knapp ein Prozent aus Kuba.
Die einzigen Anstrengungen, sich mit dem Medium Film auch in einer sozialkritischen Art und Weise auseinanderzusetzen, blieben in vorrevolutionärer Zeit auf den Amateurbereich beschränkt. Die Filmemacher ließen sich dabei auf ein gefährliches Unternehmen ein, da die politische Repression zur Zeit des Batista-Regimes in den 50er Jahren sehr groß war.1 Diese für anspruchsvolle und kritische Filmemacher unbefriedigende Situation änderte sich erst mit dem Sieg der kubanischen Revolution 1959. Um die große suggestive Kraft des Mediums Film für die Entwicklung der neuen Gesellschaft wissend, und nicht zuletzt wegen der hohen Analphabetenrate der kubanischen Bevölkerung, begannen die Revolutionäre sofort mit dem Ausbau des Filmsektors. Bereits das zweite Gesetz der Revolutionsregierung bezog sich unmittelbar auf den Kinobereich. Es regelte den Aufbau des kubanischen Instituts für Filmkunst und Filmindustrie (ICAIC) und den Rahmen der kubanischen Filmproduktion. Das wichtigste Ziel war es, Filme zu produzieren, die die eigene Geschichte und die eigenen gesellschaftlichen Probleme zum Thema haben.
Dekolonisierung der Leinwand
In den ersten Sätzen des Gesetzes heißt es: Film ist Kunst... Er muß befreit werden von nutzlosen Zwängen und unnötigem Beiwerk. Hier äußert sich jedoch nicht der Anspruch zu einer Kunst um der Kunst willen. Das Medium Film wurde vielmehr eng verknüpft mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft: Seinen Charakteristika gemäß ist der Film ein Instrument zur Meinungsbildung und zur Herausbildung des individuellen und kollektiven Bewußtseins. Er kann zur Vertiefung des revolutionären Geistes beitragen und die Schöpferkraft erhöhen. (zitiert nach Agromonte, Arturo 1966. Cronolog'a del cine cubano. Ediciones ICAIC: La Habana, S. 115)
Kunst und Revolution sind im kinematographischen Kontext Kubas unmittelbar miteinander verknüpft. Die Filmemacher sahen sich nicht nur der Kunst verpflichtet, sondern sie stellten ihre Filme in den Dienst des Aufbaus der neuen Gesellschaft. Ihr kreatives Potential sollte einen Beitrag zur Überwindung der kulturellen und wirtschaftlichen Unterentwicklung leisten.
Es war wichtig, einen Wandel der Sehgewohnheiten des Publikums, die sogenannte ›Dekolonisation des Filmauges‹ bzw. ›der Filmleinwand‹ herbeizuführen. Die Wahrnehmung der Bevölkerung mußte von den Inhalten und der Ästhetik der vorrevolutionären Filme entwöhnt werden. Außerdem erachteten es die kubanischen Filmschaffenden als wesentlich, in eine Kommunikation mit dem Publikum einzutreten. Hierzu richteten die Verantwortlichen die cine m-viles ein bewegliche Kinos auf LKW, Pferde- bzw. Muliwagen oder sogar Booten befestigt, die die abgelegensten Dörfer erreichen konnten. Vorhandene Kinos wurden vergrößert und neue wurden gebaut. Man gründete die staatliche Cinemateca, die für die Ausstrahlung der Kinofilme und die Publikation der Filmzeitschrift Cine Cubano, dem Sprachrohr des kubanischen Kinos, zuständig war.
Außerdem sollte die Bevölkerung visuell geschult werden. Aus diesem Grund wurde neben der allgemein bekannten Alphabetisierungskampagne die ›audiovisuelle Alphabetisierung‹ angestrebt. Die Cinemateca begann mit der Ausstrahlung einer Sendung im kubanischen Fernsehen, die die Bevölkerung in die Geschichte und Sprache des Films einführen sollte. Noch heute ist diese Sendung eine feste Einrichtung.
Die angestrebte ›Dekolonisierung der Filmleinwand‹ ging einher mit der Suche nach authentischen und innovativen Stilmitteln. Authentizität war dabei gleichbedeutend mit einer Kommunikation der Filmemacher mit der Beölkerung über lebendige Inhalte aus der kubanischen Geschichte und Gegenwart. Die Zuschauer sollten sich selbst, ihre Freuden, ihre Nöte, Ängste und Sorgen, kurz, die gesellschaftliche Wirklichkeit sowie kubanische Geschichte in den Filmen wiedererkennen können. Es sollten Filme produziert werden, die das Publikum mit den Inhalten der Revolution verbinden. Aus dieser Motivation heraus entstanden die Filmgenres des cine testimonio und des cine did'ctico2: Der Film als historisches bzw. gesellschaftliches Zeugnis und der sogenannte erzieherische Film.
Innovation trotz Nachwehen
Die ehemalige Abhängigkeit von den USA fand im kinematographischen Bereich ihren unmittelbaren Ausdruck in den ökonomischen Zwängen und infrastrukturellen Mängeln. Sie veranlaßten die kubanischen Filmschaffenden, den Akzent zunächst auf die Produktion von Dokumentarfilmen zu legen. Spielfilme konnten in den Anfangsjahren aufgrund ihres größeren Kapitalbedarfs kaum produziert werden. Die meisten der kubanischen Regisseure der zweiten Generation, wie zum Beispiel auch Daniel D'az-Torres, sind, bevor sie zum Spielfilm wechselten, für die kubanische Kinowochenschau, den Noticiero ICAIC Latinoamericano, tätig gewesen. Wenn auch die Quantität kubanischer Filmproduktionen zu wünschen übrig ließ, ihre Qualität war rasch unumstritten. Gewissermaßen aus dem Nichts heraus und trotz der unter anderem durch die Wirtschaftsblockade der USA hervorgerufenen großen ökonomischen Probleme wurde eine funktionierende kinematographische Infrastruktur geschaffen. Ihre Filmproduktionen stießen nicht nur in der Bevölkerung auf große Akzeptanz, sondern fanden auch bei europäischen Filmexperten viel Beachtung.
Im Dokumentarfilmbereich war es der heute beinahe in Vergessenheit geratene Santiago Alvarez, der aufgrund seiner unkonventionellen, innovativen Filmsprache in den 60er Jahren mit Filmen wie Hanoi, martes 13 (Hanoi, Dienstag der 13., 1967) über den ersten Angriff der USA auf Vietnam, L.B.J. (1968), ein Porträt der USA, oder 79 Primaveras (79 Frühlinge, 1969), eine Hommage an Ho Chi-Minh, zahlreiche Preise auf internationalen Filmfestivals gewann. Die herausragenden Spielfilme, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, sind Luc'a (1968) von Humberto Solas und Memorias del subdesarollo (1968) von Tom's Gutirrez-Alea. Letzterer wurde im Dezember 1996 von Filmexperten als bester historischer lateinamerikanischer Film ausgezeichnet.
Für die rasche Entwicklung der kubanischen Kinematographie gibt es verschiedene Gründe. Zum einen genossen die Filmschaffenden unter allen Künstlern eine privilegierte Stellung, was darauf zurückzuführen ist, daß sie eine starke Gruppe innerhalb der revolutionären Bewegung in den 50er Jahren waren, aber auch auf den Umstand, daß Alfredo Guevara, der Direktor des ICAIC, ein sehr enger Studienfreund Fidel Castros ist. Beides erlaubte den Filmemachern eine offene und vorurteilsfreie Nutzung aller filmästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Hollywood-Kino spielte dabei eine ebenso große Rolle wie das revolutionäre Kino der Sowjetunion aus den 20er Jahren, der italienische Neorealismus oder die französische Nouvelle Vague. Zum anderen, und dies ist der vielleicht wichtigste Grund, hat das ICAIC es stets vermieden, radikale Positionen zu vertreten. Dadurch schuf es den Filmemachern den nötigen künstlerischen Spielraum, auch kritische Werke zu produzieren. Die kubanische Kulturpolitik bewegte sich immer zwischen zwei extremen Polen: der ausgeprägten individuellen künstlerischen Freiheit und dem unhinterfragten Existenzrecht der kubanischen Revolution. Die Verantwortlichen des ICAIC ließen sich dabei weder von denen vereinnahmen, die sich für die unumschränkte individuelle Freiheit von Künstlern einsetzten, noch von sektiererischen, bürokratischen und dogmatisch sozialistischen Positionen.
Nach der ersten Zensurentscheidung der kubanischen Regierung im Jahr 1961, die Saba Cabreras Film P. M. (Past Morning) betraf, und den anschließenden Palabras a los intelectuelas von Fidel Castro waren die künstlerischen Freiräume der Filmemacher gefährdet. Obwohl die Worte an die Intellektuellen von Fidel Castro insgesamt durch eine idealistische Auffassung kulturpolitischer Einflußnahme gekennzeichnet waren,3 wurden die Stimmen der Anhänger einer dogmatischen Kulturpolitik aus den Reihen der sowjetisch geprägten Kommunistischen Partei immer lauter. Zunächst hielten die kubanischen Filmschaffenden jedoch erfolgreich dagegen. Angesichts der Bedrohung, Filmkunst ausschließlich nach politischen Kriterien zu beurteilen, betonte Alfredo Guevara den grundlegend revolutionären Charakter jedweder Kunst. Er stellte klar, daß das erzieherische Element im kubanischen Kontext zwar sehr wichtig für ein Kunstwerk sei; Zwang auf den Künstler auszuüben, ziehe jedoch unweigerlich den geistigen Tod des Künstlers nach sich (vgl. Guevara, Alfredo 1963. Einige prinzipielle Fragen. In Jahnke, E. und Lichtenstein, M. 1974. Kubanischer Dokumentarfilm. Staatliches Filmarchiv der DDR: Berlin).
Der Film, der die Haltung des ICAIC gegenüber dogmatischen Interpreten künstlerischen Schaffens auf eine sehr ironische und spielerische Art zum Ausdruck bringt, ist La muerte de un burocrata (Tod eines Bürokraten, 1966) von Toms Gutirrez-Alea. Ort der Handlung ist ein Land, das kurz nach einer erfolgreichen Revolution entscheidet, einen sozialistischen Weg einzuschlagen. Erzählt wird die Geschichte eines Toten, der von seiner Familie beerdigt wurde, aufgrund einer dringend benötigten, aber mit ins Grab gelegten Arbeitsurkunde exhumiert werden muß und wegen einer allzu streng ausgelegten Vorschrift nicht wieder bestattet werden darf. Kein Zweifel, daß es sich dabei um die Bürokratie des revolutionären Kubas der 60er Jahre handelte. Der Film war, wie der britische Filmkritiker Michael Chanan schrieb, ›eine Waffe im andauernden ideologischen Kampf nicht nur gegen die Bürokratie, sondern auch gegen den Einfluß der Bürokraten auf die Kunst.‹
Einen Einblick in die Position des ICAIC gegenüber der sozialen Rolle des Künstlers und Intellektuellen innerhalb der Revolution vermittelt auf sehr eindrucksvolle Weise Memorias del subdesarollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung, 1968), ebenfalls von Gutirrez-Alea. Der Film ist die Antwort auf die Worte an die Intellektuellen von Fidel Castro und zugleich eine Konfrontation der kubanischen Kulturschaffenden mit sich selbst. In einer an Godard erinnernden Montage von dokumentarischen Sequenzen, Fernsehnachrichten, Zeitungsausschnitten und Tonbandmaterial zeichnet Gutirrez-Alea das Bild eines revolutionären Antihelden in einem paralysierten Zustand. Der Protagonist Sergio ist ein kubanischer Intellektueller, Mitglied der ehemaligen kubanischen Bourgeoisie, für den die Revolution lediglich eine intellektuelle Herausforderung darstellt. Er fühlt sich einzig als distanzierter Beobachter der Ereignisse der Jahre 1961/62 nach der Schweinebucht und vor der Kubakrise. Das Ende des Films ist offen. Sergio entscheidet sich weder für noch gegen die Revolution. Statt aber ebenso wie seine Familie die Insel zu verlassen, bleibt er in Kuba. Memorias del subdesarollo ist weit weniger erzieherisch, als man vielleicht in einem sozialistisch revolutionären Kontext erwarten würde. Die Stilmittel entsprechen der kinematographischen Innovationsfreudigkeit jener Zeit. Die ausgeformte Montage verleiht dem Film eine aktuelle politische Dimension. Die anderen Stilmittel, wie etwa die direkte Adressierung der Zuschauer, sind der Versuch, mit dem kubanischen Publikum zu kommunizieren. Memorias del subdesarollo steht exemplarisch für die Fähigkeit zur kritischen Betrachtung der kubanischen Realität sowohl von seiten der Filmemacher als auch von seiten der kubanischen Funktionäre.
Kritik unerwünscht
Doch die innovativen Jahre kubanischen Filmschaffens gingen relativ schnell vorüber. Mit der ›revolutionären Offensive‹ für die gran zafra, die für 1970 angestrebte 10-Millionen- Tonnen-Zucker-Ernte, ging eine Verschärfung der kulturpolitischen Richtlinien einher. Angesichts des ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziels fand eine Militarisierung der Gesellschaft statt. Kritische Kunst war unerwünscht. Die 10 Millionen Tonnen wurden jedoch knapp verfehlt. Das Vertrauen in die Politik der Revolution schwand. Die Insel wurde von einer tiefen innenpolitischen Krise erfaßt. Die folgende politische Konsolidierungsphase bis 1975 und der an den ersten Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas anschließende Prozeß der Institutionalisierung der Revolution waren begleitet von einer Paralysierung des künstlerischen Schaffens im allgemeinen und des Filmsektors im besonderen. Das ICAIC verlor seine Unabhängigkeit und wurde Teil des neugestalteten Kulturministeriums. Es erstaunt nicht, daß die kubanischen Filme jener Periode größtenteils durch eine Abkehr von der Experimentierfreudigkeit und von den kritischen Tönen der ersten innovativen Jahre gekennzeichnet waren.
Zwar tauchten immer wieder Filme auf, die auf eine unkonventionelle Weise kritische Schlaglichter auf die kubanische Realität warfen, wie etwa De cierta manera (Auf eine gewisse Art, 1974) von Sara G-mez und Retrato de Teresa (Porträt von Teresa, 1979) von Pastor Vega - beides kritische Betrachtungen der Stellung der Frauen im sozialistischen und zugleich machistischen Kuba - oder Se permuta (Tausche Wohnung, 1982), in dem Juan Carlos Tab'o den Wohnungsmangel in La Habana zu Beginn der 80er Jahre beschreibt. Insgesamt aber war die künstlerische Atmosphäre des Filmemachens beherrscht vom ›extremistischen Flügel‹, d.h. von Vertretern einer dogmatisch-sozialistischen Position. Begünstigt durch konomische Krisen verhinderten sie eine liberale Interpretation filmischen Schaffens. Das ICAIC und die Filmemacher waren gezwungen, ihre künstlerischen Ansprüche zurückzuschrauben. Selbstzensur machte sich breit, gegen die die Filmemacher erst Ende der 80er Jahre aufbegehrten.
Gegen Selbstzensur
Der erste Film, der nach langem auch wieder international Aufsehen erregte, war Alicia en el pueblo de Maravillas von Daniel D'az-Torres aus dem Jahr 1991. Gemeinsam mit Adorables mentiras (Hübsche Lügen) von Gerardo Chijona, der u.a. die Selbstbereicherung der politischen Funktionäre beschreibt, kann er als Reaktion auf die Debatte kubanischer Filmemacher über ihre bis dahin güngige Praxis der verantwortungsbewußten Selbstbeschränkung, ein Euphemismus auf den Begriff der Selbstzensur, gedeutet werden. In dieser Debatte mahnen die Filmschaffenden eine Rückkehr zu den Prinzipien der 60er Jahre an: Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, Experimentierfreudigkeit und Nähe zum Publikum (vgl. Garc'a Riveron et al. 1988. Der Fluch der Selbstzensur. Bohemia 34, 1988). Daß Alicia im Sinne des revolutionären Kinos der 60er Jahre die Kommunikation mit dem kubanischen Publikum wiederaufgenommen hatte, steht außer Frage. Binnen vier Tage strömten Tausende von KubanerInnen in die Kinos. Eine Szene des Films steht exemplarisch für die Wirklichkeitsnähe des Films und den Wiedererkennungswert für die Bevölkerung: Alicia sitzt in einem Lokal und möchte mit ihrem Essen beginnen. Dabei bemerkt sie jedoch ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Das Besteck ist an den Tisch gekettet. Diese Filmszene entspringt aus den Erfahrungen von D'az-Torres als Dokumentarfilmemacher beim Noticiero, wo er mit Kollegen in den 80er Jahren auf der Suche nach Skurrilitäten des kubanischen Alltags war. Dabei stießen sie auf ein Lokal, in dem die Griffe der Tassen abgeschlagen waren. Auf die Frage, warum der Inhaber die Tassen kaputt mache, bevor er die Gäste daraus trinken lasse, erwiderte dieser, daß dies eine reine Vorsichtsmaßnahme gegen den umsichgreifenden Diebstahl sei. Alicia ist also mehr Realsatire als man glaubt, und angesichts der schwierigen ökonomischen Lage politischer als der Regisseur in Interviews zugeben möchte (vgl. hierzu das Interview mit D'az-Torres in iz3w 227).
Ebenso unzweifelhaft wie der Publikumszuspruch war und ist die Ablehnung des Films von seiten der Funktionäre, die eine derart offene Darstellung der gesellschaftlichen Realität zu Beginn des periodo especial nicht zuzulassen bereit waren. Der Film brach eine solch heftige Entrüstung vom Zaun, daßß der damalige Leiter des ICAIC, Julio Garcia Espinosa, von seinem Amt zurücktreten mußte.
Daß sich diese Situation wieder entspannt hat, beweisen Madagascar (1994/95) von Fernando Perz, eine filmische Metapher auf die Balsero-Krise im Sommer 1994, aber auch bereits der nur zwei Jahre nach Alicia entstandene Film Fresa y chocolate (Erdbeer und Schokolade, 1993) von Tom's Gutirrez-Alea. Neben der Problematik der Homosexuellen in Kuba greift dieser Film ein altbekanntes Thema des kubanischen Kinos wieder auf: Die Situation der kubanischen Intellektuellen. Diego, der systemkritische schwule Künstler, bekam schon einige Male aufgrund seiner künstlerischen Aktivitäten Ärger mit den Behörden. Er wurde sogar mit einem Berufsverbot belegt. David, der naive Genosse der Kommunistischen Partei, vermutet deshalb zunächst, daß es Diego an Patriotismus mangelt. In einer ergreifenden Szene aber erklärt ihm Diego, daß er genau wie jeder andere Kubaner auch mit ganzem Herzen an seinem Land hänge. Wenn man sich diese Sequenz vor Augen führt und danach in einem Interview mit Daniel D'az-Torres liest, da§ dieser immer wieder seine Solidarität mit Kuba und der Revolution beteuern mußte, so liegt es nahe, Fresa y chocolate auch als Replik auf Alicia zu lesen. Daß Diego am Ende trotz seiner innigen Verbundenheit mit Kuba die Insel verläßt, ist Sinnbild für die Gefahr, in die sich das kubanische Film- und Kunstschaffen begibt, wenn die Dogmatiker ihren Einfluß auf die kubanische Kulturpolitik beibehalten bzw. sogar erweitern sollten. Nach der letzten Parteitagsrede von Fidel Castro im Februar 1998 jedenfalls sind die Kulturschaffenden in großer Sorge (siehe Escobar, Reynaldo: Der Comandante befahl: Schluß!, taz 4.3.98).
Anmerkung
- In den 50er Jahren gründeten oppositionelle Intellektuelle den Kulturclub Nuestro Tiempo, dessen Ziel es war, der Bevölkerung die kubanische Kultur näher zu bringen. Seine Filmabteilung, das heißt die heute bekannten Filmemacher Julio Garcia Espinosa, Tom's Gutirrez-Alea und Jorge Haydœ, drehte 1956 den gesellschaftskritischen Film El Magano (Der Köhler) Über kubanische Köhler und Holzarbeiter. Sofort nach seinem Erscheinen fiel der Film der Zensur zum Opfer und die Filmemacher wurden verhaftet.
- Das cine did‡ctico steht in Zusammenhang mit der Befreiungspädagogik von Paulo Freire und dessen Begriff der concientizaci-n. In diesem Sinne dient 'Erziehung' der Bewußtwerdung der Bevölkerung über ihre Abhängigkeitssituation und miserablen Lebensumstände.
- Fidel Castros Worte an die Intellektuellen stellten 1961 die erste Grundlegung der kulturpolitischen Richtlinien in Kuba dar. Castro, Fidel 1961. Palabras a los intelectuales. In Revoluci-n, Letras, Arte 1980. Editorial Letras Cubanas: La Habana.
Volker Kull ist Ethnologe und hat über den kubanischen Filmemacher Santiago Alvarez promoviert.
erschienen in: iz3w 228, Freiburg 1998
Kuba: Patria o muerte
Wie Kuba seine jüngst vollstreckten Repressionen rechtfertigt
Im März wurden auf Kuba 75 Oppositionelle verhaftet und drei von ihnen hingerichtet. Was sind aus kubanischer Sicht die Hintergründe für diese Repressionswelle, die nicht nur weltweite Proteste auslöste, sondern auch zu Ratlosigkeit und politischer Desillusionierung insbesondere unter den linken Intellektuellen führte? Wie rechtfertigt das kubanische Regime Haftstrafen von bis zu 28 Jahren?
von Saya Maus
»Die Regierung und das Volk Kubas haben sehr wohl verstanden, dass sie sich auch heute noch einem harten Kampf um ihr Recht auf Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit aussetzen müssen.« Dies sind die einleitenden Worte des Staatssekretärs Felipe Pérez Roque zur offiziellen Stellungnahme1 der im März vollzogenen Verhaftungswelle von 75 kubanischen Oppositionellen und der Hinrichtung von drei Kubanern, die mit der - gescheiterten - Entführung einer Personenfähre versuchten, illegal in die USA zu gelangen. Für Pérez Roque trägt vor allem die Regierung unter George W. Bush zu einer »sprunghaften« Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kuba und USA bei. Die Entsendung des Diplomaten James Cason in die US-amerikanische Interessensvertretung in Havanna im Dezember letzten Jahres erwies sich dabei für Pérez Roque als symbolischer Funken im Pulverfass. Cason trage die Hauptschuld an der notwendigen Repressionswelle im März. Nicht nur aufgrund seiner in einem Interview in Miami offen zugegebenen Kollaboration mit anticastrischen Gruppen in Miami wie etwa mit La Fundación Nacional Cubano Americana2, sondern auch und vor allem wegen seiner persönlichen Machenschaften in Havanna. Auf die Frage, wie er die Opposition stärken wolle, antwortete Cason, indem »ich Information weitergebe, meine moralische und geistige Unterstützung anbiete, damit sie wissen, dass sie nicht alleine sind, dass die Weltöffentlichkeit weiß, was auf Kuba geschieht«.
Söldner und Staatsfeinde
In einer chronologischen Abfolge von Februar bis April diesen Jahres zeichnet Pérez Roque die Provokationen Casons nach, zu denen Treffen mit »Söldnern« und »staatsfeindliche Agitationen« gehören. »Unsere Geduld wurde von Herrn Cason überbeansprucht... Er ist der Hauptschuldige für das, was passiert ist... Daher beschließt man nach diesen ganzen Geschehnissen am 18. März eine Gruppe von Söldnern, die am 24. Dezember, 12. und 14. März an den Versammlungen teilgenommen hatten, zu verhaften.«
Am 19. März erfolgt die erste der drei Flugzeug- bzw. Schiffsentführungen von Kubanern, um illegal in die USA zu gelangen. Die USA ließen am 2. April - nach der dritten Entführung der Personenfähre - verlauten, »dass sie nicht bereit seien, in diesem Fall einzugreifen«. »Also,« so Pérez Roque, »handelten wir und lösten das Problem.« Wie Kuba das tat, nämlich durch Hinrichtung von drei der fünf Entführer, erwähnt Pérez Roque nicht. Vielmehr gibt es ihm Anlass, auf einen weiteren Punkt einzugehen, der beweisen soll, dass die USA bewusst gegen Kuba agiere: auf die Verletzung des Migrationsvertrags zwischen Kuba und den USA.
Der im September 1994 beschlossene Vertrag sieht vor, dass die USA jährlich 20.000 Visa an KubanerInnen ausstellt, die nach Nordamerika emigrieren möchten. Anhand einer Statistik zeigt Pérez Roque auf, dass in den Jahren von 1999 bis 2002 die Vergabe von Visa stetig zurückgegangen sei3. Der Redner setzt diese Zahlen in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den letzten Schiffs- bzw. Flugzeugentführungen und illegalen Einwanderungsversuchen in die USA. Er folgert daraus, dass »die sieben Entführungen innerhalb von sieben Monaten... einem bewussten Plan [gehorchen], um die illegale Ausreise aus Kuba anzufachen, um letztlich den Migrationsvertrag zunichte zu machen...«, und dass »die USA bewusst diejenigen in Verzweiflung bringen wollen, die ausreisen wollen, damit ihnen nichts anderes übrig bleibt, als illegal auszuwandern«.
Pérez Roque dementiert die Aussage Casons, die USA finanziere die Opposition auf Kuba nicht, und verweist etwa auf die offizielle Erklärung der USAID (US Agency for International Development) vom 27. Februar 2003, die besagt, dass man seit dem Jahre 1997 mehr als 20.000 US-Dollar in die Umsetzung des Helms-Burton Gesetzes4 auf Kuba investiert habe. Dazu gehöre jedoch nicht nur ihre finanzielle Unterstützung, sondern auch das Versenden von Propagandamaterial oder beispielsweise 7000 Radios, damit man den »konterrevolutionären« Radiosender »Radio Martí« auf Kuba empfangen könne.
Pérez Roque widerspricht den Aussagen der ausländischen Presse, die Verurteilten hätten keine Möglichkeit zur Wahl eines Anwalt gehabt, es seien geheime, nicht öffentliche Prozesse geführt worden und die Angeklagten hätten sich nicht vor dem Gericht äußern können. Er lässt ein Video zeigen, in welchem ein tags zuvor Verurteilter über die Situation im Gefängnis eine eigene Stellungnahme abgibt: »Ich möchte hier, vor dem Gericht, die korrekte Behandlung zum Ausdruck bringen, die man uns seitens der Staatssicherheit während der Untersuchung entgegengebracht hat, dass sie korrekt war, man uns weder gequält noch schlecht behandelt hat.«
»Wir sind das Volk«
Gegen Ende der mehr als vierstündigen Rede änderte Pérez Roque zusehends seine Vortragsart. Anfangs beschränkte sich sein sprachlicher Duktus darauf, das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit der kubanischen ZuhörerInnen zu betonen, indem er nicht alleine regelmäßig »das kubanische Volk« oder »die Kubaner« einstreute, sondern eine fiktive Ebenbürtigkeit zwischen Redner, also Regierung, und Publikum, also Volk kreiert. Das homogene »Wir-Gefühl« zieht sich wie ein roter Faden durch die Rede. In diesem letzten Teil seiner Rede aber greift er auf rhetorische Stilmittel zurück, die die eindeutige Intention haben, das Publikum aufzurütteln, die Rede auf ihren emotionalen Höhepunkt zu bringen - durch die Benennung eines Gegenübers, das dem Kollektiv im Wege stehe. Brauchte das Regime von Fidel Castro also genau die präsentierten Vorwände - die Entführungen, den »Scharfmacher« Cason, die geheimen Treffen - um sich seiner immer stärker werdenden Opposition zu entledigen? Wieso, stellt sich die nahe liegende Frage, verwies man Cason nicht einfach des Landes, wurden seine politischen Absichten, die kubanische Opposition aufzuwiegeln, doch sehr schnell deutlich? Andererseits: Konnten sich die Verantwortlichen dieser beispiellosen Repressionswelle nicht vorstellen, dass sie auf diese Weise viele ihrer letzten politischen Anhänger außerhalb Kubas verprellen würden?
Anmerkung
- Pressekonferenz am 9. April 2003 vor 82 internationalen Journalisten aus 22 Ländern und der gesamten nationalen Presse, wo die Erklärung »Die Beweise der Konspiration« vorgestellt wurde.
- Pérez Roque erklärte, dass die Mitglieder dieser Institution bereits eine Reihe von terroristischen Attentaten auf Kuba finanziert haben, die den Tod eines Italieners, mehrerer Touristen und kubanischer Arbeiter zur Folge hatten.
- 1999: 11 600, 2000: 10 860, 2001: 8 300, 2002: 7 237 und von Oktober 2002 bis Februar 2003 wurden 505 Visa vergeben.
- Das Helms-Burton Gesetz beinhaltet einen Paragraphen, der besagt, dass Geld von den USA über Drittländer nach Kuba geschleust werden kann, um die Opposition zu stützen.
aya Maus ist Soziologin und lebt in Wiesbaden.
erschienen in: iz3w 270, Freiburg 2003
Mexiko: Türsteher am Transit
Mexiko schottet sich gen Süden ab, um die Migration in die USA zu stoppen
Grenzen sind nicht mehr nur markierte Linien mit Zäunen und Schranken, sondern komplexe Systeme. Die Ostgrenze der Europäischen Union wird durch Kooperationsverträge mit Transitländern wie Polen, der Ukraine oder der Türkei mehrstufig gegen MigrantInnen und Flüchtlinge gesichert. Ein ähnliches Konzept verfolgen die USA an ihren Südgrenzen, die migrationspolitisch gesehen bis Guatemala reichen.
von Philipp Burtzlaff, Inga Rahmsdorf und Kathrin Zeiske
Fast 700 Kilometer Grenze trennen Mexiko von Guatemala. Kein Stacheldraht, keine Mauer und keine Wachposten markieren ihre Linie. Sichtbar wird die südliche Grenze Mexikos nur für MigrantInnen aus Zentral- und Südamerika, die ohne Papiere auf dem Weg al norte - in die USA - sind. Seit das Instituto Nacional de Migración (die mexikanische Migrationsbehörde) im Juli 2001 den Plan Sur erließ, hat die Überwachung und Kontrolle von MigrantInnen in Mexiko stark zugenommen.
Die Migrationsbewegungen in der Region zwischen Mexikos Landenge, dem Isthmus von Tehuantepec, und der Südgrenze sind einfacher zu kontrollieren als an der 3300 Kilometer langen US-mexikanischen Grenze. Im Interesse der USA sollen die MigrantInnen daher gestoppt werden, bevor sie an die mexikanische Nordgrenze gelangen. Neben der Regulierung der Einwanderung geht es den USA - verstärkt nach dem 11. September 2001 - um die innere Sicherheit. Dazu gehört eine strenge Selektion bei der Einreise von »Fremden« und eine verstärkte Abschottungspolitik, die in der Militarisierung der Grenze zwischen den USA und Mexiko, aber eben auch in der Ausweitung des durch die USA überwachten Grenzgebiets nach Süden ihren Ausdruck findet. Die Kooperationsbereitschaft Mexikos ist dabei garantiert, allein schon wegen der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von den USA.
Die Migrationspolitik der USA ist widersprüchlich und politisch umstritten, denn die Wirtschaft der USA ist in hohem Maße abhängig von den billigen Arbeitskräften zentral- und südamerikanischer MigrantInnen. Sie sind in Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungsbereich tätig. Aufgrund ihres illegalisierten Status sind sie gezwungen, ungeschützte und unterbezahlte Arbeitsverhältnisse einzugehen. Dennoch: In den USA verdienen sie selbst als BilliglohnarbeiterInnen in einer Arbeitsstunde mehr als in ihren Herkunftsländern Honduras, Guatemala, El Salvador oder Nicaragua an einem Tag. Gelingt ihnen die Einreise in die USA, schicken viele regelmäßig Geld an ihre Familien. Sie hoffen, nach ihrer Rückkehr mit dem angesparten Geld eine neue Lebensgrundlage in ihrer Heimat aufbauen zu können. Die meisten der MigrantInnen sind Männer. Allerdings steigt die Migration von Frauen und Minderjährigen seit einigen Jahren stark an. Viele Kinder machen sich allein auf den Weg zu ihren Eltern oder Verwandten in die USA.
Sichere Rückführung
Die MigrantInnen nutzen Mexiko zwar auf ihrer Reise nur als Transitland, aber das gesamte mexikanische Staatsgebiet erweist sich als das gefährlichste Hindernis auf dem Weg al norte. Seit Januar 2002 führt Mexiko mit finanzieller Hilfe der USA das Programm La Repatriación Segura (»Sichere Rückführung in die Heimatländer«) durch. Es sieht vor, MigrantInnen, die ohne Papiere im mexikanischen Staatsgebiet aufgegriffen werden, zurück an die Grenzen ihrer Heimatländer zu bringen. An allen wichtigen Verkehrsstraßen in Mexiko befinden sich Kontrollen, die vom Instituto Nacional de Migración durchgeführt und von Militär und Polizei unterstützt werden. Im Jahr 2002 wurden mehr als hunderttausend MigrantInnen im Rahmen dieses Programms aufgegriffen und abgeschoben. Im Zuge der verstärkten Abschiebepolitik sind im Durchschnitt etwa acht bis neun Versuche und immer längere Zeiten nötig, um es tatsächlich bis in die USA zu schaffen.
Für die MigrantInnen gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, die Kontrollen der Migrationsbehörden und eine Abschiebung zu umgehen. Lediglich durch hohe Bestechungsgelder können sie eine Ausweisung verhindern. Viele verkaufen ihren Besitz, nehmen hohe Schulden auf oder leihen sich Geld von Verwandten, die bereits in den USA arbeiten. Dennoch fehlt den meisten die finanzielle Grundlage, um einen Schleuser, den coyote oder pollero, zu bezahlen. Dieser organisiert gegen hohe Summen die Bestechungen und den Transport der Reisenden. Für eine Passage von Guatemala bis in die USA fordert ein coyote zwischen 2000 und 5000 Dollar. Häufig bieten die Schleuser jedoch keine Garantie, verschwinden auf der Reise oder sorgen dafür, dass die MigrantInnen in die Hände des Instituto Nacional de Migración geraten.
Vielen bleibt nur die Reise auf dem Güterzug. Es ist die billigste, aber auch die gefährlichste Art Richtung Norden zu fahren. Zwei bis dreimal in der Woche passiert der Güterzug die Nordgrenze Guatemalas. Entlang der Gleise warten ca. 300 bis 500 Personen, die auf die Waggons aufspringen und sich auf den Dächern festklammern. Er wird el Tren de los muertos (Todeszug) genannt, denn wöchentlich sind Berichte in den lokalen Tageszeitungen zu finden, die von Unfällen berichten. MigrantInnen rutschen beim Aufspringen ab oder fallen während der Fahrt von den Waggondächern und geraten unter die Räder. Viele dieser Unfälle enden tödlich. Eine weitere Gefahr droht den MigrantInnen in Mexiko durch kriminelle Banden der Maras Salvatruchas, bewaffnete Banden, die von ehemaligen Mitgliedern zentralamerikanischer Todesschwadronen gegründet wurden und bekannt sind für ihre Brutalität. Sie nutzen die Wehrlosigkeit der Flüchtlinge aus. So springen sie etwa in Gruppen auf den Güterzug und ziehen von vorne nach hinten über die Dächer der Waggons, um die Reisenden auszurauben und Frauen zu vergewaltigen. Wer sich ihnen widersetzt oder kein Geld bei sich trägt, wird vom fahrenden Zug gestoßen oder erschossen. Polizei und Regierung ignorieren diese Vorfälle weitgehend. Im Gegenteil: In der öffentlichen Meinung entsteht so ein enger Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität, der gerne als Rechtfertigungsgrund für eine strenge und repressive Migrationspolitik herangezogen wird.
Die Regierung des Auswanderungslands Mexiko - etwa ein Zehntel der Bevölkerung lebt und arbeitet in den USA - weist den Vorwurf der Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Südgrenze zurück. Sie rechtfertigt sich mit der staatlichen Organisation Beta Sur, die zum Schutz von MigrantInnen gegründet wurde. Deren Einsatzgebiet erstreckt sich über das gesamte mexikanische Grenzgebiet und sie untersteht der nationalen Migrationsbehörde. Berichte von MigrantInnen und Fälle von sexuellen Übergriffen auf junge Migrantinnen wie im Oktober 2002, als eine 18jährige Honduranerin von Beamten der Beta Sur gefangen gehalten und vergewaltigt wurde, stellen die Glaubwürdigkeit jedoch in Frage.
Kleiner Grenzverkehr
Anders als die TransmigrantInnen genießen guatemaltekische ArbeitsmigrantInnen in Mexiko eine relative Sicherheit. Ihre Einwanderung ist vom mexikanischen Staat geduldet und wird sogar gefördert, um die wirtschaftliche Stabilität in der Region zu gewährleisten. Ein besonderer Aufenthaltsstatus ermöglicht GuatemaltekInnen wie MexikanerInnen, sich 72 Stunden frei im Grenzgebiet des anderen Landes aufzuhalten. Guatemaltekische Mädchen und Frauen nutzen diese so genannten pases locales, um nach Chiapas einzureisen und dort einige Jahre als Hausangestellte zu arbeiten. Aufgrund des äußerst niedrigen Lohnniveaus leisten sich die meisten Ober- und Mittelschicht-Familien der mexikanischen Grenzregion eine guatemaltekische Hausangestellte. Die Mädchen leben häufig isoliert und die Einhaltung ihrer Arbeitsrechte ist abhängig vom guten Willen ihrer ArbeitgeberInnen. Auch wenn die Hausangestellten keine direkten staatlichen Repressionen zu fürchten haben, wird ihnen von ihren ArbeitgeberInnen oft mit Abschiebung gedroht, um ihnen nicht einmal den minimalen Lohn auszahlen zu müssen.
Die Landwirtschaft der mexikanischen Grenzregion beruht auf der Erntehilfe guatemaltekischer ArbeiterInnen, die saisonal auf die Kaffee- und Obstplantagen kommen. Der mexikanische Bundesstaat Chiapas vergibt dafür ca. 50.000 bis 75.000mal im Jahr eine temporäre Arbeitserlaubnis. Die Kaffeeernte dauert von Oktober bis Januar. Häufig kommen ganze Familien für diese Zeit des Jahres auf die mexikanischen Fincas. Alle, auch Kinder, arbeiten wochen- oder monatelang auf den Steilhängen der Plantagen. Die Lebensbedingungen sind miserabel, mehrere Familien schlafen in einem kleinen Raum, oft sind für dreihundert Leute nicht einmal sanitäre Anlagen vorhanden, ganz zu schweigen von einer medizinischen Versorgung. Den ArbeiterInnen wird alle zwei oder vier Wochen der Lohn ausgezahlt. In dieser Zeit werden ihnen aber auch Unterkunft, Verpflegung und Ausgaben angeschrieben, so dass beim Auszahlungstermin kaum noch etwas von ihrem Lohn übrig bleibt. Manche verlassen die Plantagen sogar mit Schulden. In der mexikanischen Öffentlichkeit ist immer wieder der Vorwurf zu hören, dass die GuatemaltekInnen den einheimischen Arbeitskräften die Arbeit wegnähmen. Deshalb seien immer mehr MexikanerInnen gezwungen, in die USA zu migrieren. Hier muss allerdings deutlich unterschieden werden zwischen den beiden Migrationsformen. Während eine Reise in die USA von der Hoffnung erfüllt ist, dort Geld zu sparen und an die Familien zu schicken, dient der Lohn auf den Fincas nur zum Überleben. Der sinkende Kaffeepreis auf dem Weltmarkt und die Konkurrenz durch billigeren Kaffee aus Ostasien führen dazu, dass bereits ein großer Teil der guatemaltekischen Kaffee-Fincas brach liegt.
Dennoch: Mexiko ist eine Art Transitraum geworden, reich genug, um manche (Arbeits-) MigrantInnen aus den ärmeren mittelamerikanischen Staaten anzuziehen, aber selbst so arm, dass die meisten MigrantInnen und auch MexikanerInnen weiter in die USA reisen wollen. In diesem Zusammenhang bekommt die Kategorie »Schwellenland« eine ganz neue Bedeutung - das Land zwischen innen und außen, an der Schwelle zu den USA und gleichzeitig zum Süden. Und dem mexikanischen Staat kommt die Rolle des Türstehers zu.
Philipp Burtzlaff, Inga Rahmsdorf und Kathrin Zeiske nahmen 2002 im Rahmen des ASA Programmes an einem Projekt zum Thema »Außengrenzen von Wirtschaftsblöcken« teil. Während ihres dreimonatigen Aufenthaltes an der Südgrenze Mexikos untersuchten die StudentInnen die Situation von MigrantInnen.
erschienen in: iz3w 273, Freiburg 2003
Mexiko: Survival of the Fittest Alltag an der Grenze zwischen Mexiko und den USA
Alltag an der Grenze zwischen Mexiko und den USA
von Bettina Kleiber und Friederike Habermann
Es ist Freitag 11 Uhr. Zeit für die allwöchentliche Pressekonferenz unter der Stellwand in Tijuana. Sie zeigt die Todesopfer der ›Operation Gatekeeper‹ an. Operation Gatekeeper wurde vor vier Jahren vom Zentrum für Konflikte niedriger Intensität (CLIC), einer Behörde des US-Verteidigungsministeriums, entwickelt und soll für die Perfektionierung der technischen Überwachung und die Verstärkung der Grenzzäune zwischen dem US-Bundesstaat Kalifornien und dem mexikanischen Bundesstaat Baja California sorgen. Auf der Stellwand in Tijuana steht diese Woche die Zahl 340. 340 Tote in vier Jahren. 340 tatsächlich gefundene und dem mexikanischen Konsulat in Los Angeles gemeldete Tote auf dem Grenzgebiet zwischen Tijuana und der zwei Stunden entfernten Stadt Mexicali, dazu 26 Vermißte. Wieviele mögen nicht nur nie gefunden, sondern von niemandem gesucht worden sein in dem unwegsamen, bergigen Wüstengebiet, durch das die Grenze verläuft? Auf einem Foto, das erst vor drei Wochen von der Stellwand gemacht wurde, ist noch die Zahl 322 zu lesen. 18 verdurstete, erfrorene oder gar von der Border Patrol erschossene Menschen, die als Undokumentierte versucht haben, die Grenze zu den USA zu passieren, sind seitdem hinzugekommen.
Inzwischen gehören die toten MigrantInnen, zu deren Gedenken die Stellwand mit den abwaschbaren schwarzen Ziffern an einer der belebtesten Kreuzungen der Stadt aufgestellt wurde, zum Alltag in Tijuana. Um das Interesse der Presse für etwas derart Alltägliches wachzuhalten, müssen sich die sozialen Einrichtungen wie das Casa del Migrante (Männer) oder das Casa Madre Assunta (Frauen und Kleinkinder), die sich um die MigrantInnen kümmern, schon etwas einfallen lassen: So entstand die Idee, anläßlich des mexikanischen Totenfestes entlang des Blechzauns 340 Kreuze mit den Namen der hier verstorbenen MigrantInnen aufzureihen. Einige Kreuze tragen lediglich die Aufschrift: »Nicht identifiziert« und eine grobe Altersschätzung - 30, 25, 20. Doch die meisten weisen Namen auf, das genaue Alter, und die Herkunft der gefundenen Toten: Carmen Cardona Lopez, 23, El Salvador; Epifanio Cardenas Silva, 36, Michoacan; Victor Nicolas Sanchez, 30, Oaxaca,... An jedem der Kreuze ist eine Kerze befestigt. Mit dem Entzünden der Lichter kommen die Helfer aus dem Casa del Migrante allerdings nicht nach, da der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos sie immer wieder ausbläst. Obwohl eine Schnellstraße, brauchen die AutofahrerInnen lange, bis sie die Kreuze passiert haben. Einer hält seinen Jeep, und hilft dabei, zwei, drei Kerzen wieder anzuzünden: Auch sein Bruder ist beim Grenzübertritt ums Leben gekommen. Allerdings weiter östlich - ein Kreuz von ihm wird er hier nicht finden können. Es dauert lange an diesem Morgen bis sämtliche Namen der 340 Toten noch einmal verlesen sind. Als prominenter Köder, um die Presse an diesen symbolischen Friedhof an der Schnellstraße zum Flughafen zu locken, dient der Bischof von Tijuana. Der Kirchenmann mit konservativem Ruf segnet die Kreuze, spricht aber auch ein paar deutliche Worte über die Verantwortung, die sowohl die US-amerikanischen als auch die mexikanischen Behörden für die Toten an der Grenze tragen. »Diese Menschen starben nicht an Wassermangel, nicht aus Hunger und nicht an der Hitze in der Wüste, sondern sie sind die Opfer der Politik, die diese Grenze errichtet.« Gegen diese Politik wendet sich seit Juni diesen Jahres auch eine binationale "Rettungskampagne". Sie konnte aber nicht verhindern, daß allein in den vier Monaten bis Oktober weitere 78 MigrantInnen bei dem Versuch, die Grenze heimlich zu übertreten, starben. Neben der im Rahmen des NAFTA-Abkommens beschlossenen Operation Gatekeeper sind noch weitere Gesetzesänderungen vereinbart worden. So haben die USA mit dem Illegal Immigration Responsibility Act hohe Strafen für den Grenzübertritt mit gefälschten Papieren, für den wiederholten Versuch, die Grenze ohne Papiere zu überqueren und besonders für das "Schleppen" von Menschen festgelegt - für die ›polleros‹ also, ohne deren Hilfe die Gefahr, sich zu verirren, noch größer ist. Obwohl damit die finanziellen, sozialen und menschlichen Kosten und Risiken der Grenzüberschreitung enorm gestiegen sind, hat sich die Zahl der undokumentierten Grenzübertritte nicht verringert. Allerdings sind die MigrantInnen nunmehr gezwungen, weiter östlich am Fuße der Rumorosa - einer schroffen Berglandschaft, welche die Border Patrol fast nur aus der Luft kontrollieren kann - ihr Glück zu versuchen. Nach den Statistiken der Border Patrol ist zwar die Zahl der im Raum San Diego aufgegriffenen heimlichen GrenzgängerInnen von Oktober'97 bis September'98 um 32.251 gesunken, gleichzeitig jedoch die Zahl der Festnahmen im östlich gelegenen Imperial Valley um 80.493 gestiegen. Doch gleich wieviele Bodensensoren, Suchscheinwerfer und Zäune die Border Patrol aufstellt - sie ändern nichts an den für viele MexikanerInnen miserablen Lebensbedingungen. Und die sind es schließlich, die sie ihr Leben riskieren lassen, um auf die andere Seite zu kommen. Während nun auf der einen Seite die Grenzüberschreitung verhindert werden soll, ist auf der anderen jenseits der Grenze in den letzten vier Jahren kein Arbeitgeber von illegalen Migranten rechtlich belangt worden. So macht ein Gedanke die Runde in Tijuana und selbst der Chef der mexikanischen Migrationsbehöde INM spricht ihn inzwischen aus: Nach dem Motto ›Survival of the Fittest‹ werden billige Arbeitskräfte für den US-Markt »selektiert«.
Bettina Kleiber und Friederike Habermann arbeiten als freie Journalistinnen in Mexiko.
erschienen in: iz3w xxx, Freiburg 200x
Mexiko: Im Tal der Globalisierung
Kinderarbeit auf mexicanischen Exportplantagen
Was wissen wir über die politischen und ökonomischen Zusammenhänge von Kinderarbeit? Was bringt Kinder in diese Situation? Was wissen wir darüber, wie die arbeitenden Kinder selbst ihre Situation beurteilen und mit ihr umgehen? Solchen Fragen wurde bisher weder in den Medien noch in der Forschung besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
von Manfred Liebel
Herumgesprochen hat sich bei uns, dass Teppiche aus Indien, Pakistan oder Marokko und manche Billigtextilien aus Fernost von Kinderhänden gefertigt werden. Einigen mag auch bekannt sein, dass die Orangen, die als Saft unser Frühstück versüßen, in Brasilien oder in anderen tropischen Regionen unter heißer Sonne, in großer Eile und für dürftigen Lohn von Kindern gepflückt werden. Manche Kampagne und mancher Zeitungsartikel haben dafür gesorgt, uns die skandalösen Bedingungen vor Augen zu führen, unter denen viele Kinder in den Ländern des Südens solche Produkte herstellen. Wir wissen, dass diese Kinder in großer Armut leben und dass ihnen, um überleben zu können, kaum eine andere Alternative bleibt.
Die Arbeit von Kindern in exportorientierten, für den Weltmarkt produzierenden Betrieben bildet bisher noch einen relativ kleinen Teil der Arbeit von Kindern in den Ländern des Südens. Er wird auf vier bis sechs Prozent geschätzt. Der Großteil der arbeitenden Kinder in diesen Gesellschaften findet sich in landwirtschaftlichen Familienbetrieben, die für den lokalen Markt oder für den Eigenbedarf produzieren, und im Bereich der städtischen informellen Ökonomie. Doch die Arbeit im Exportsektor ist heute von besonderem Interesse, weil sich an ihr studieren lässt, dass entgegen landläufiger Meinung und den Verlautbarungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die heute im Zentrum des Interesses stehenden »schlimmsten Formen der Kinderarbeit« keineswegs auf den Bereich der rückständigen »Schmuddelökonomie« beschränkt sind, sondern inmitten der "modernsten" und angesehensten Bereiche zu Hause sind.
Ein weiterer Grund, der für eine genauere Betrachtung der Kinderarbeit in den Exportbereichen spricht, besteht darin, dass deren Entwicklung mit einer Zerstörung von Produktions- und Lebensweisen einhergeht, in denen die Arbeit von Kindern ganz andere Formen und Bedeutungen hatte und für sie durchaus auch Vorteile mit sich brachte. Allerdings ist mit Blick auf die Erfahrungen und Sichtweisen der arbeitenden Kinder selbst Vorsicht am Platze, die miserablen Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen, vom Kontext ihres bisherigen Lebens getrennt zu betrachten. Wenn Kinder zu Wort kommen - was leider noch immer selten der Fall ist - lässt sich erkennen, dass die Globalisierung nicht nur ihre Ausbeutung befördert, sondern ihnen auch neue Erfahrungen vermittelt und »Werkzeuge« an die Hand gibt, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können.
Seit den 80er Jahren verfolgen die mexicanischen Regierungen eine neoliberale Politik, die auf eine möglichst weitgehende Integration der nationalen Wirtschaft in den Weltmarkt abzielt. Dieser Prozess wurde seit dem am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Freihandelsabkommen (NAFTA) mit den USA und Kanada noch erheblich beschleunigt. Die damit einhergehenden Umstrukturierungen haben die Kluft zwischen Arm und Reich rasch anwachsen lassen und große Teile der meist indigenen Landbevölkerung zur Migration in andere Landesteile oder in die USA gezwungen. Zugleich hat - nach Angaben staatlicher Behörden - die Zahl der Kinder stark zugenommen, die in den Arbeitsmarkt einbezogen wurden: in den Städten vor allem im Bereich der informellen Ökonomie (114 497), dramatischer noch auf dem Land im Bereich des Agrarexportsektors (ca. 900 000).
Unter den wichtigsten Veränderungen, die diese Phase der Integration der mexicanischen Wirtschaft in die globale Ökonomie widerspiegeln, findet sich ein neues Modell ländlicher Entwicklung, das die unternehmerische Exportwirtschaft nicht-traditioneller Produkte privilegiert. Die Expansion dieses Sektors ist der Entwicklung der sehr wettbewerbsorientierten internationalen Märkte geschuldet. Sie geht mit der Kontrolle der produktiven landwirtschaftlichen Ressourcen durch das private Kapital (unter starker Beteiligung transnationaler Unternehmen) einher, ermöglicht durch die neoliberale Politik, die die Deregulierung der landwirtschaftlichen Märkte (von Primärgütern, Boden, Kapital und Arbeitskraft) herbeiführte. Die soziale Polarisierung, die aus diesen Prozessen hervorging, bedroht nicht nur die Entwicklungsperspektiven der Bauernschaft, sondern hat sich auch negativ auf die Situation der LandarbeiterInnen ausgewirkt, indem sie diesen intensive Arbeitsverhältnisse mit Niedrigstlöhnen und dürftiger sozialer Sicherung auferlegt.t
Zwischen 1980 und 1997 hat sich der landwirtschaftliche Export Mexicos verdreifacht. Es handelt sich im Allgemeinen um die exportorientierte Landwirtschaft nicht-traditioneller Produkte (AENT), die hohen Marktwert haben und in den vergangenen Jahrzehnten im Agrarexport des Landes keine Rolle spielten, aber sie schließt auch »traditionell« hergestellte Frischprodukte ein, die nun neuen Standards der Auswahl, Verpackung und Etikettierung (Markenartikel) angepasst werden. In Mexico ist der AENT-Bereich repräsentiert durch Obst, Gemüse und Blumen sowie Kaffee, Tabak und Zucker. Dies war von weitgehenden Restrukturierungen der Produktion, der Arbeitsorganisation, der Vermarktung und des Gebrauchs der Arbeitskraft begleitet und hatte gravierende Auswirkungen auf die Formen landwirtschaftlicher Beschäftigung.
Der Zusammenhang zwischen der Liberalisierung der Märkte und dem Anwachsen der saisonalen Kinderarbeit auf den Exportplantagen Mexicos gilt als erwiesen. Während der weitaus überwiegende Teil der Produkte von der Nachfrage in den USA bestimmt wird, üben dortige Politiker und Regierungsstellen neuerdings erheblichen Druck aus, um die Kinderarbeit zu unterbinden, was in erheblichem Maße den Anteil der beschäftigten Kinder verändern oder zur Folge haben kann, dass diese nur noch illegal arbeiten. Hierdurch wird den Familien erschwert, ihre Reproduktion zu sichern, und die arbeitenden Kinder sind größeren Risiken und brutaleren Ausbeutungspraktiken ausgeliefert. Außerdem beginnen sich die Familien und ihre Kinder dafür zu schämen, dass sie arbeiten. In den letzten 20 Jahren wurden konstant zunächst die Frauen, dann die Kinder beiderlei Geschlechts in die mit der Globalisierung entstehenden neuen Arbeitsverhältnisse einbezogen. Fast neun von zehn Saisonarbeitern reisen mit ihren Familien zu den jeweiligen Arbeitsorten, nicht nur weil sie den Familienzusammenhalt aufrechterhalten wollen, sondern auch weil sie auf die Arbeitskraft der Frauen und der Kinder angewiesen sind.
Die Kinder beginnen in der Regel im Alter von acht oder neun Jahren, manche schon mit vier Jahren, auf den Plantagen zu arbeiten. Von den 900 000 Kindern im Agrarexportsektor sind 374 000 zwischen 6 und 14, 526 000 zwischen 15 und 17 Jahre alt. Sie stellen heute 27 bis 30 Prozent der Arbeitskraft in diesem Bereich. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Kinder auf den Exportplantagen unterscheiden sich erheblich von denen an ihren Ursprungsorten. Wenn die Kinder in ihren Herkunftsgemeinden im Rahmen der bäuerlichen Hauswirtschaft an der produktiven und reproduktiven Familienarbeit beteiligt sind, geschieht dies nicht allein aus einer ökonomischen Notwendigkeit, sondern ist auch Teil des täglichen Lebens und der kulturellen Übertragung von Bräuchen der Gruppe, der ihre Familie angehört. Dagegen dient die Lohnarbeit auf den Plantagen ausschließlich dem Überleben der Familie und ist von der Logik der kommerziellen, d.h. intensiven und rücksichtslosen Verwertung der Arbeitskraft bestimmt.
Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass die im Agrarexportsektor arbeitenden Kinder (niños jornaleros) folgende sozialen Merkmale aufweisen: 42 Prozent sind unterernährt, 40 Prozent zwischen 6 und 14 Jahren können weder lesen noch schreiben, 64 Prozent der Kinder über 12 Jahre haben die Primarschule nicht beendet. Insgesamt ist die Infrastruktur für Bildung und Erholung unzureichend, die Arbeitszeiten der Kinder sind extrem lang, ihre Arbeitsbelastung groß, sie sind gesundheitsgefährdenden Agrochemikalien ausgesetzt und Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz sind mangelhaft. Auf den Plantagen werden die Rechte der Kinder ständig verletzt, sei es, weil die Einhaltung der Arbeitsgesetze kaum überwacht wird, um ausländische Investitionen zu erlangen, sei es, weil Kinder wegen ihrer manuellen Geschicklichkeit für feinere und diffizilere Arbeiten besonders begehrt sind. Trotz dieser Fähigkeiten erhalten sie oft nur den halben Lohn, weil sie Kinder sind.
Unter den Studien, die in den letzten Jahren über Kinderarbeit in den mexicanischen Exportplantagen durchgeführt wurden, verdient eine Untersuchung, über die Francisco Cos-Montiel (2001) berichtet, besondere Aufmerksamkeit, da sie die Erfahrungen und Sichtweisen der arbeitenden Kinder zum Ausdruck bringt. Die Studie basiert auf einer partizipativen Methode, die bisher vor allem im südlichen Asien zur Anwendung kam. Sie besteht hauptsächlich aus Übungen, in denen die Kinder ihre Eindrücke und Gedanken in Form von Zeichnungen und Diagrammen wiedergeben, aus halbstrukturierten Diskussionen, Beobachtungen und grafischen Aufzeichnungen. Die Methode geht davon aus, dass diejenigen am besten die Realität kennen, die sie erleben, und legt deshalb großes Gewicht auf eine offene und sensible Grundhaltung der FeldforscherInnen. Sie ermöglicht den untersuchten Personen, ihre Situation selbst zu analysieren, und erbringt eine große Menge subjektiver Informationen. Bezogen auf die Kinder liegt ein großer Vorteil der Methode darin, dass die Kinder nicht beschränkt sind auf Vorgaben oder geschlossene Fragen. Die Studie wurde im Tal von Culiacán im Bundesstaat Sinaloa durchgeführt. Der Einzug der Globalisierung manifestiert sich hier auf einer großen Tafel am Eingang einer der Wohnsiedlungen der SaisonarbeiterInnen, auf der triumphierend verkündet wird: »Globalización: gota a gota conquista la tierra« (»Globalisierung: Tropfen um Tropfen erobert sie die Erde«).
In dem Tal ist die Globalisierung in allen landwirtschaftlichen Betrieben gegenwärtig: in den intensiven Produktionsprozessen, im Gebrauch neuer Technologien, in den modernen Methoden der Verpackung und Konservierung des Gemüses, im Transport. Während der Untersuchung wurde beobachtet, dass angesichts der hohen Kosten in den Siedlungen und der niedrigen Löhne der SaisonarbeiterInnen zunehmend mehr Haushaltsmitglieder mit ihrer Arbeit zum Familieneinkommen beitragen müssen. Dies ist der Hauptgrund, warum die Arbeitskraft der Kinder in Anspruch genommen wird. Die meisten Kinder ziehen es vor, mit einer Kneifzange, aber ohne Schutzhandschuhe zu arbeiten, wenn sie Tomaten, Chile, Auberginen oder Gurken ernten. Auch benutzen sie Zwirn und Faden mit derselben Geschwindigkeit und Erfahrung wie die Erwachsenen - schließlich müssen sie dieselbe Menge von Eimern füllen. Eine Aufseherin zählt minutiös am Ende des Tages nach. Eines der Produkte, die die Kinder ungern ernten, sind Gurken, weil sie Stacheln haben. Gleichwohl ziehen die Kinder es vor, auf jedweden Schutz zu verzichten, da dieser die Ernte verlangsamen würde. Ein anderer Grund, keinen Schutz zu gebrauchen, besteht darin, dass sie ihn selber kaufen müssten.
Die Frauen und Mädchen haben eine dreifache Arbeitsbelastung, die in auffälligem Kontrast steht zu den modernen Methoden der Produktion und Kommerzialisierung der Exportprodukte. Sie müssen für die häusliche Reproduktion (Hausarbeit und Kinderbeaufsichtigung) sorgen, zum Einkommen beitragen und das Funktionieren der Gemeinschaft gewährleisten, da weder Staat noch Unternehmer für die erforderlichen Dienstleistungen aufkommen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Mädchen mehr Stunden arbeiten, weniger spielen und weniger schlafen als die Jungen. Aus der Sicht der Kinder ist das Leben in der ursprünglichen Gemeinschaft des Dorfes besser als am gegenwärtigen Arbeits- und Lebensort. Allerdings benennen sie auch einige Aspekte, die am gegenwärtigen Ort für sie von Vorteil sind. Die Kinder sehnen sich nach den grünen Landschaften ihres Herkunftsortes, da es in den Siedlungen der SaisonarbeiterInnen kaum Bäume gibt. Außerdem vermissen sie das Hüten der Tiere (Hühner, Schafe, Ziegen, Kühe, Schweine). Sie denken wehmütig an ihre Herkunftsorte zurück, da sie dort »...mehr Platz hatten in Häusern, die sauberer sind, elektrisches Licht haben ... weil sie kühler waren ... weil sie Fenster hatten ... wo wir unsere Betten hatten«.
Am Herkunftsort arbeiteten die Kinder, um ihren Familien zu helfen, aber sie arbeiteten nicht so viele Stunden. Sie hatten mehr Zeit zu spielen, auszuruhen und täglich in die Schule zu gehen, wo sie viele FreundInnen hatten. Es gab weder Ratten noch Fliegen und jede Familie hatte eine Badestelle, die sie nicht mit anderen teilen musste. Einige Kinder erfüllten Aufgaben im Haus, wie Holz sammeln. Die Mädchen spülten ab, machten sauber und manchmal machten sie Tortillas oder wuschen Wäsche. Die meisten Nachteile am neuen Arbeits- und Wohnort ergeben sich hinsichtlich der formalen Bildung. Mit der Migration wird der Schulbesuch unterbrochen und in den Wohnsiedlungen der Plantagen ist die Ausstattung mit Schulen unzureichend. Nur wenige Kinder besuchen die Schule hier regelmäßig, zumal sie dies nur nach einem langen Arbeitstag tun können.
Obwohl einige Kinder mehr wissen, als die erreichte Klassenstufe ausdrückt, wird ihnen der Zugang zur Sekundarschule verweigert, weil sie kein formales Zeugnis haben. Ein anderes Problem ist das Fehlen einer Anerkennung für die nonformale Ausbildung, die diese Kinder am Arbeitsort erhalten. Die Kinder haben bei ihrer Arbeit bestimmte Fertigkeiten entwickelt: Sie verfügen über eine Geschicklichkeit und Produktivität, die sich nicht von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet. Aus diesem Grund müssten die bei der landwirtschaftlichen Arbeit erworbenen Kenntnisse in gleicher Weise anerkannt werden wie die in der Grundschule erworbene Bildung. Schließlich stellte sich auch entgegen landläufiger Meinung heraus, dass viele Kinder, die am Morgen in die Schule gehen könnten, darauf bestehen, arbeiten zu gehen. Ein Kind begründet dies so: »Die Schule ist leer, alle Kinder sind bei der Arbeit, wir gehen lieber arbeiten. Weil wir da mit unseren Freunden zusammen sein können.« Eine Mutter bekundet: »...Mein Sohn steht um 6 Uhr am Morgen auf und möchte, dass wir ihm sein Frühstück ebenso machen wie seinem Papa, und wenn wir ihm sagen, er soll nicht zur Arbeit gehen, ist er sauer, weil er dort seine Freunde treffen will...« Im Unterschied zu den Nachteilen bei der formalen Bildung ergaben sich für die Kinder Vorteile beim Zugang zu Informationen. Die Kinder betrachten es als Vorteil, dass sie andere Teile des Landes, neue Orte und Leute kennen lernten. Außerdem könnten sie nun fernsehen, was in ihrem Dorf nicht möglich war.
Infolge der Migration ergeben sich auch positiv wahrgenommene Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter. Einige Jungen betonen, die häufige Migration von einem zum anderen Ort habe ihnen dabei geholfen, über die Rolle der Frau nachzudenken und zu akzeptieren, dass Frauen mehr arbeiten müssen als Männer. Doch einer tatsächlichen Veränderung in der Arbeitsteilung steht die tief verwurzelte machistische Kultur entgegen, wie aus dem Zeugnis einer Mutter hervorgeht: »Mein Sohn will mir bei den Hausarbeiten helfen, aber ich lasse ihn nicht, damit die anderen Kinder sich nicht über ihn lustig machen und ihn Muttersöhnchen rufen.« Bei den Mädchen scheinen die Veränderungen viel schneller zu verlaufen und sie betonen einhellig, dass sich mit der Migration für sie manche Vorteile ergeben hätten: »Hier haben wir mehr Freunde, weil wir mehr Gelegenheiten haben, verschiedene Leute kennen zu lernen; wir sind mehr mit anderen ›muchachos‹ unseres Alters zusammen und bei der Arbeit lernen wir auch mehr Leute kennen. Hier tragen wir kürzere Röcke, an unseren Herkunftsorten waren sie länger, denn wenn eine von uns einen kurzen Rock anhatte, dachten sie, sie ist eine Prostituierte. Hier können wir uns Kleider kaufen, da wir arbeiten. Dort gibt es für Frauen keine Arbeit. Hier können wir uns mehr vergnügen, weil wir ökonomisch besser dran sind.« Die Mädchen haben das Gefühl, gegenüber den Männern mehr Macht zu erlangen.
Die Mädchen, die mehrmals auf der Plantage gearbeitet haben, sehen für sich positive Veränderungen vor allem, weil sie mehr Autonomie haben und selbst entscheiden können, was sie mit ihrem Arbeitsverdienst machen. Außerdem können sie (wie die Jungen) selbst die Freunde und Verlobten auswählen, mit denen sie ausgehen wollen. Eine andere wichtige Veränderung, die von den Kindern geschätzt wird, betrifft ihren Status in der Familie. Indem sie zu den Familienausgaben beitragen, genießen sie größere Verhandlungsmacht und fühlen sich »mehr geschätzt«, wenngleich dies bei den Jungen eher der Fall ist als bei den Mädchen. Eine weitere Veränderung zeigt sich bei der Kleidung. Unter dem Einfluss des Marktes und mittels des eigenen Einkommens ziehen es die Kinder und Jugendlichen vor, Shorts, Hosen, Röcke, Blusen und T-Shirts zu benutzen. Dies gilt auch für die Väter, weniger aber für die Mütter, die lieber weiter die traditionelle indigene Kleidung tragen.
Im Wandel der Bekleidung manifestiert sich, wie die verschiedenen Generationen der MigrantInnen mit der »neuen sozialen Dynamik« umgehen, die sich mit dem Ortswechsel ergibt. Die indigenen SaisonarbeiterInnen wollen in der Siedlung nicht »die Anderen« sein. Es scheint, dass sie von Saison zu Saison mehr die Identität eines Saisonarbeiters annehmen, indem sie nicht nur andere Kleidung tragen, sondern auch hinsichtlich der Kultur, die sie unter den neuen Umständen entwickelt haben. Bei der Forschung stellte sich heraus, dass dies nicht kulturelle Entwurzelung bedeutet, zumal die Leute weiterhin stolz auf ihre Abstammung sind und viele Traditionen bewahren. Darüber hinaus bleiben die MigrantInnen meist in Kontakt mit ihren Herkunftsgemeinden. Sie besuchen sich, schicken Geld, tauschen Gebrauchsgüter und Informationen aus. Dieser Austausch ist in starkem Maße geprägt von Praktiken gegenseitiger Solidarität, die in der eigenen kommunitären Tradition wurzeln. Die zu beobachtenden Strategien der Anpassung an die Migrationsnischen spiegeln die Wichtigkeit ihrer kulturellen und organisatorischen Ressourcen wider.
Für die Kinder gilt nicht weniger als für die Erwachsenen, dass sie keineswegs passiv den Tendenzen gegenüber stehen, die ihre Arbeitsbeziehungen und Lebensverhältnisse auf den Exportplantagen bestimmen. Am Ende ihrer Studie über die »niños jornaleros« gibt Kim Sánchez Saldaña zu bedenken: »Wenn wir die Dynamiken verstehen wollen, die die Lebensweisen der arbeitenden Kinder und Angehörigen der Migranten-Gemeinschaften bestimmen, ist es erforderlich, die wechselseitige Beziehung zwischen den ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten der Migration und der aktiven Mitwirkung der Kinder und ihrer Familien bei der Entwicklung der verschiedenen Strategien der sozialen Reproduktion zu bedenken.« Ebenso betont Francisco Cos-Montiel am Ende seiner Untersuchung, dass die arbeitenden Jungen und Mädchen eine wichtige Rolle bei der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen spielen können. »Bei der ganzen Untersuchung zeigten sich die Kinder in der Lage, ihre Probleme zu identifizieren, einige ihrer Gründe zu analysieren und nach Lösungen zu suchen. Die Partizipation dieser Kinder bei der Planung von Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensqualität ist zweifellos unverzichtbar.«
erschienen in: ila 262. www.ila-web.de
Mexiko: Im Tempo des Langsamsten
Die neuen Politikformen im Zapatismus
In unserer Reihe zu weltweiten »Sozialen Bewegungen« stellten wir eingangs die Frage, ob »jede Bewegung nur Politik im Wartestand sei - das bloße Verlangen also, selber mitzutun im Staate« (iz3w 240). Die Zapatistas verneinen diese These. Sie, von denen viele sagen, sie hätten die nun schon seit 20 Jahren geübte Kritik an Befreiungsbewegungen in neue Politikformen umgesetzt, lehnen die Staatsmacht ab. Anders als die meisten Befreiungsbewegungen (vgl. etwa die Kontroverse um die PKK in iz3w 242 und 243) nehmen sie auch nicht Bezug auf die Nation, sondern postulieren einen Universalismus, der sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Grenzen zu überschreiten versucht.
Jenseits einer bereits artikulierten Kritik am Zapatismus (u.a. iz3w 222 u. 233) stellt Ana Esther Ceceña im folgenden Beitrag noch einmal den Ansatz der zapatistischen Bewegung sowie die Perspektiven vor, die er u.a. für einen neuen Klassenbegriff eröffnet. In der nächsten iz3w-Ausgabe wird dann die Rezeption des zapatistischen Aufstandes in der Solidaritätsbewegung kritisch analysiert.
von Ana Esther Cecena
Die zapatistische Bewegung, die sich am 1. Januar 1994 im mexikanischen Südosten erhob, wurde von vielen als eine romantische oder voluntaristische Bewegung interpretiert, die getrennt vom zentralen Widerspruch zwischen den Klassen verlaufe. Roger Bartra etwa schreibt: Es handelt sich um vereinfachende Ideen von Leuten, die in einer anderen Epoche als der unsrigen leben. Eine dieser alten Ideen ist die der Autonomie, die sich auf die Möglichkeit bezieht, dass sich Gemeinden und Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil in eigenen Formen regieren, die an die ethnischen Besonderheiten der Bevölkerung angepaßt sind. (in: Fractal, Nr. 8, Mexiko-Stadt 1998). Im Gegensatz dazu wird hier die These vertreten, dass die zapatistische Revolution einen wichtigen historischen Bruch kennzeichnet. Sie wird nicht zu unrecht die »erste Revolution des 21. Jahrhunderts« genannt. Der zapatistische Aufstand stellt eine theoretische und politische Herausforderung dar, nicht nur in Mexiko, sondern weltweit.1 Das erfolgreiche Auftreten einer indigenen bäuerlichen Bewegung - anstatt der sehnlich erhofften Initiative der Arbeiterklasse - hat viele orthodoxe Linke überrascht und provoziert. In der Linken hatten der Positivismus, wie auch die strukturalistischen Interpretationen der kritischen Analysen von Marx, zu einer Überbewertung des Ökonomischen geführt, aus dem sämtliches individuelle und gesellschaftliche Verhalten in allen Lebensbereichen abgeleitet wurde. Die Fabrik stieg dabei zum Paradigma kapitalistischer Entwicklung auf und Klassen wurden »als solche« definiert. Auf diese Weise können jedoch kapitalistische Verhältnisse nicht als historische verstanden werden, die von vielfältigen Bedingungen in ihrem räumlichen und zeitlichen Kontext abhängen. Die Linke war in der Folge nicht in der Lage, die Vielfalt verschiedener sozialer Bewegungen zuzulassen und versuchte erbittert, diese auf strikte Stereotypen des sozialistischen Übergangs und des vorherbestimmten revolutionären Subjekts zu reduzieren und festzulegen.
Klasse und Masse
Die zapatistische Widerständigkeit gegen den Neoliberalismus hebt jedoch die Universalität der Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme genauso hervor wie die Universalität der Proletarisierung und den Widerstand dagegen. Sie begreift die diversifizierten und komplexen Arbeitsprozesse und Ausbeutungsformen als Teil eines sich weltweit ausbreitenden Systems. Dieses System kombiniert Geschichten, Erfahrungen, Kulturen, geographische und klimatische Bedingungen mit den konkreten Produktionsbedingungen und neuen Technologien. Vor diesem Hintergrund rühren für den Zapatismus auch die spezifische Zusammensetzung des Proletariats - verstanden als heterogenes, in Widerspruch zum Kapital stehendes Kollektiv - und die Beschaffenheit der jeweiligen Räume, in denen revolutionäre Alternativen entstehen können, aus dem Zusammenspiel aller Dimensionen gesellschaftlichen Lebens.
Das beinhaltet einen neuen Klassenbegriff: Die Klasse stellt demnach nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Formation dar. Außerdem ist sie von einer Vielzahl von Elementen geprägt, die den Prozess sozialer Reproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft sichern - neben der Produktion materiellen Reichtums auch Wissensformen, Strategien, Unterhaltung, etc.. Daher konstituiert sich die subalterne Klasse auch nicht nur im Gegensatz zu den unterschiedlichen Ausbeutungsbedingungen (Automatisierung, Subkontraktierung, Maquiladoras, informelle Arbeit, intellektuelle Proletarisierung, Heimarbeit, etc.), die als kombinierte Komponenten das globale System prägen. Sie konstituiert sich ebenso in außerökonomischen Herrschaftsverhältnissen, deren Bedeutung in dem Maße zunimmt, wie die direkte ökonomische Herrschaft durch Ausschluss zunehmender Bevölkerungsteile von den Entscheidungsprozessen an Bedeutung verliert. Dies bedeutet umgekehrt aber auch, dass die gegenseitige Anerkennung der Lohnabhängigen und ihre Formierung als Klasse in der Lage sind, Machtnetze und -mechanismen einzureißen.
Die subalterne Klasse befindet sich heute in einem Prozess interner Redefinierung, der Verschiebung von Grenzen und der Gegenüberstellung von Geschichten und Erfahrungen des Lebens und der Arbeit, die es ihr ermöglichen, ein Bewusstsein von sich selbst zu erlangen: als ein heterogenes, sich aber artikulierendes Kollektiv. Die Gewalt und Dimension von Ausbeutung, Herrschaft und Exklusion ist derart groß, dass die Widerstände gegen Ausbeutung gleichzeitig Widerstände gegen das Ganze der Macht sind. Das ist der Moment, in dem gegen Herrschaft in allen ihren Formen gekämpft wird. Auch wenn es für die orthodoxe Linke eine schmerzhafte Geburt wäre, könnte dies ein Ort sein, an dem neue Formen von Politik entstehen.
Die subalterne Klasse existiert nicht im voraus und ist nicht allein aus ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt. Sie bildet sich als "Erfahrung" (E.P. Thompson) im Gegensatz zum Kapital heraus. Dementsprechend kann auch das revolutionäre Subjekt nicht als solches existieren, sondern konstituiert sich in der gegenseitigen interpersonalen und interkollektiven Anerkennung. Diese Kultur der Intersubjektivität entsteht in den alltäglichen Widerständen und der Solidarität gegen Exklusion. Sie ist der Raum der Klassenkonstitution und damit der Möglichkeit, dass eine neue Welt entsteht.
Keine Macht der Organisation
Zentraler Bezugspunkt aller bisherigen revolutionären Bewegungen ist das Problem der Macht: Wer übt Macht aus? Wer ist Opfer? Das Problem der Macht rückte auch in der leninistischen Tradition, die bis heute in den meisten Organisationen der subalternen Klasse vorherrscht, an einen herausragenden Ort. Dabei wurde die kapitalistische Entwicklung, die die industrielle Produktion ins Zentrum stellte, jedoch weniger als Strategie der Aneignung und Monopolisierung verstanden, sondern zum akzeptierten Paradigma von Modernität und Fortschritt. Das autoritäre Konzept einer kapitalförmig organisierten Gesellschaft wurde nicht in Frage gestellt. Die Machtverhältnisse sollten lediglich umgekehrt und gegen die Diktatur der Bourgeoisie die Diktatur des Proletariats gesetzt werden. Dies führte dazu, dass in den Arbeiter-Organisationen die Schemata bürgerlicher Herrschaft reproduziert wurden. Die Revolution reduzierte sich auf ein Ereignis, war kein Prozess. Alle partikularen Forderungen oder jegliche Konfrontation von Ideen wurden zu untergeordneten Bitten, womit sie ihre kreative Kraft verloren und aufhörten, Bewegung zu sein.
Der Kampf um die Machteroberung ist Bestandteil jener Welt, gegen die die Zapatistas kämpfen. Sie beschränken sich nicht auf die Umkehrung der gerade bestehenden Machtverhältnisse, sondern stellen eine Welt in Frage, die auf deren Basis organisiert ist. Was sie die Schaffung einer neuen Welt nennen, setzt ein zivilisatorisches Projekt voraus, das mit den Vorstellungen von einer dominanten Klasse bricht und Herrschaft an sich radikal in Frage stellt. So erfordert der zapatistische Vorschlag einer direkten Demokratie mit seiner Figur des mandar obedeciendo (gehorchend befehlen) die Auflösung der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten sowie einen grundlegenden Bedeutungswandel der Aufgabe des »Regierens«. »Gehorchendes Befehlen« macht eine horizontale Struktur der Entscheidungsfindung durch ein heterogenes Kollektiv denkbar. Es stellt eine Neuerung innerhalb des revolutionären Denkens dar und ist eines der attraktivsten Momente des zapatistischen Diskurses. Die Ablehnung einer »Professionalisierung« der Politik und eines Repräsentativsystems, das den Willen der Repräsentierten ersetzt, teilen in Mexiko große Teile der Gesellschaft. Die Zapatistas verstehen politische Führungsrollen nicht abstrakt, sondern erkennen nur solche an, die sich innerhalb des Prinzips des »gehorchend Befehlens« verorten. Es gibt keine Avantgarde, sondern Interessengemeinschaft (comunidad), es gibt keine Partei, sondern Bewegung, Organisierung ist nicht formal, sondern real. Sie entsteht aus Bedürfnissen und Erfahrungen, aus dem Alltäglichen in seinem Verhältnis zu generellen Weltanschauungen, aus der Utopie, die sich aus der Neubestimmung gesellschaftlicher Werte bildet. Eine »revolutionäre Avantgarde«, die die subalterne Klasse besser versteht als sie sich selbst und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eben diese Klasse zu dirigieren, zu organisieren und zu erziehen, ist innerhalb dieser neuen Konzeption von Politik ein Widersinn. Die Errichtung von Hegemonie (im Sinne Gramscis), wobei Unterschiedlichkeit nicht eliminiert, sondern genutzt wird, stellt den Zapatismus - und alle sozialen Bewegungen - vor verschiedene Herausforderungen: sich zu entwickeln, ohne andere zu zerstören (die Zapatistas sagen: caminar al paso del más lento; im Tempo des Langsamsten gehen); langfristige Strategien auszuarbeiten, die gleichzeitig kollektive Praxis sind; keine Vernachlässigung einer demokratischen Gegenwart im Hinblick auf eine gerechtere Zukunft; die Revolution zu machen und sie nicht nur zu theoretisieren, wobei praktische Kreativität aber durch weitgehende und vor allem aufrichtige und respektvolle Analysen und Reflexionen stimuliert werden sollte.
Im Dickicht globaler Möglichkeiten
Jenseits des proletarischen Internationalismus ist es für die zapatistische Praxis zentral, dass der Kampf gegen den Neoliberalismus nur über weltweites Handeln möglich ist. Er muss von allen Ausgeschlossenen, Diskriminierten und Ausgebeuteten geführt werden, denn Ausbeutung erreicht nicht nur alle Regionen der Welt, sondern auch alle Bereiche des Lebens. Andere Lebensverhältnisse werden unterworfen und an ökonomische Bedürfnisse und Tempi angepasst. Ausgebeutet sind die ArbeiterInnen und ihre Familien, d.h. jene, die aus kapitalistischer Sicht direkt in die produktiven Aktivitäten involviert sind, genauso wie jene, die für den globalen Reproduktionsprozess abkömmlich sind und nicht als produktiv angesehen werden. Menschen sind unter verschiedenen Bedingungen Ausgeschlossene oder Ausgebeutete - immer aber sind sie Ausdruck einer Polarisierung.
Das die Ausgebeuteten von den Zapatisten als »Ausgeschlossene« angesprochen werden, ist nicht zufällig. Während nämlich mehr und mehr Menschen ausgeschlossen werden, sind gleichzeitig die Ausbeutungsbeziehungen durch die diversifizierten Arbeitsverhältnisse immer weniger sichtbar. Die Zapatisten versuchen, solche Machtverhältnisse zu entschleiern und beziehen auch jene Ausgeschlossenen innerhalb von Organisationen ein, die gewerkschaftliche oder Klassenkämpfe führen. Aus dieser Perspektive stellt die zapatistische Stimme den Autoritarismus in seinen vielfältigen Facetten grundlegend in Frage. Ihr Alternativvorschlag geht in Richtung einer partizipativen Demokratie, so wie sie in den indigenen Gemeinden, die das zapatistische Projekt vorantreiben, derzeit wiedergewonnen wird. In den sogenannten autonomen Landkreisen geschieht dies mittels der Schaffung autonomer Räume, um sich zu organisieren und selbst zu regieren. Ihre längerfristige historische Perspektive erlaubt den Gemeinden, andere Formen gesellschaftlicher Organisation zu erahnen, die gekennzeichnet sind durch ein Zusammenspiel einer Kultur der Intersubjektivität mit einer Kultur der Differenz/des Andersseins. Die Gemeinden stärken ihre Praktiken konsensualer Entscheidungen und Beziehungen. Sie lernen, Vielfalt ohne Hierarchien zu begreifen, umfassenden Respekt im Umgang miteinander und ohne eine Avantgarde erste Widerstandsnetze zu weben. Tradition und Realität verbinden sich, um die Utopie einer anderen Modernität zu schaffen, einer »Welt, in die viele Welten passen«.
Die spezifische Kombination der Rebellion von bislang als »anders« Diskriminierten mit der kollektiven Organisierung ohne Vermittlungen und Hierarchien, mit absetzbaren MandatsträgerInnen sowie der Überzeugung, dass die bestehenden Machtstrukturen immer nur das diskriminierende Anderssein reproduzieren, gibt dem zapatistischen Diskurs eine universelle Gültigkeit. Im Gegensatz zur Logik von Wettbewerb und Akkumulation ermöglicht es der Vorschlag, das »Tempo des Langsamsten zu gehen«, das Konsensprinzip zur Basis kollektiver Entscheidungsfindung zu machen. Die Eliminierung des ineffizienten und minderwertigen Anderen, die dem kapitalistischen Wettbewerb eigen ist, wird zur Notwendigkeit des Gegenübers. Diese partizipative Demokratie, die Autoritarismus und Machtverhältnisse zerstört, ist die einzige Möglichkeit, eine universale Interessengemeinschaft aufzubauen, die den neoliberalen Kapitalismus zerstören könnte. Sie eröffnet einen Raum, den der Kapitalismus noch nicht mittels der Legalität des Marktes erobern kann. Hier konstituiert sich ein kollektives Subjekt, das die Negation des objektivierten Individuums darstellt.
Die universale Utopie entwickelt sich aus der Gesamtheit spezifischer Utopien und Widerstände gegen das Subjekt der Herrschaft, das Kapital. Widerstand ist der Weg vom Objekt zum Subjekt. Widerstand ist die Möglichkeit, oder besser: das Dickicht von Möglichkeiten, die aus der Zivilgesellschaft einen Raum der Hoffnung und des Werdens machen - den Raum der Revolution als Erfahrung, der Würde als Lebensform und der Demokratie als generellem Organisationsprinzip. Die Zivilgesellschaft ist schon von sich aus der Ort der Differenz. Sie ist das Laboratorium und der Kern, um eine neue Welt zu schaffen, von der die Zapatistas träumen: Mittels der Respektierung der Differenz und der Möglichkeit aller Unterschiedlichen, mit ihrem Denken, ihrer Kultur, ihrer Erfahrung und ihren verschiedenen Geschlechtern an den kollektiven Entscheidungen teilzunehmen. Darin besteht die radikale Negation der Macht und ihrer Intermediäre. Dies ist das Anzeichen einer »neuen revolutionären Kultur«, die von den Zapatistas und allen anderen »ohne Gesicht« geformt wird.
Anmerkung
- Zapatismus nenne ich eine Strömung politischen Denkens und Handelns, die sich um die EZLN herum formiert. Marcos sagte einmal, dass »es den Zapatismus nicht gibt«, womit er meint, dass er lediglich als Prozess besteht. Zapatismus ist daher weder Partei noch Institution, sondern eine widerständige und kämpfende Bewegung, die sich permanent entwickelt (hier liegt auch das Verständnis des Mottos »fragend gehen wir«; preguntando caminamos).
- Der gekürzte und bearbeitete Text ist in ganzer Länge erschienen in: U. Brand/A.E. Ceceña: Reflexionen einer Rebellion. »Chiapas« und ein anderes Politikverständnis. Westfälisches Dampfboot, Münster 1999. 327 S., 39,80 DM. Übersetzung aus dem Spanischen: Ulrich Brand.
Ana Esther Ceceña ist Professorin für Wirtschaftswissenschaft an der Universidad Nacional Autónoma de México.
erschienen in: iz3w 245, Freiburg 2001
Nicaragua: Die Hilfe nach dem Sturm
Demokratie-Injektion in Nicaragua
Im Oktober 1998 stürzte der Orkan Mitch in Mittelamerika Hunderttausende ins Elend. Eine große Welle internationaler Aufmerksamkeit und Hilfeleistungen folgte. Im Falle Nicaraguas waren sich Nothilfe-Organisationen, Solidaritätsbewegung und staatliche Entwicklungspolitik einig, dass die Hilfe an den offiziellen Stellen des Landes vorbei direkt den Betroffenen zugeführt werden sollte. Was jedoch als neutrale Position auf Seiten der Opfer gerechtfertigt erscheint, ist gleichzeitig eine Parteinahme gegen die nicaraguanische Regierung.
von Christian Neven-du Mont
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Nicaragua das zweitärmste Land der westlichen Hemisphäre, an Negativrekorden nur noch übertroffen von Haiti. Die internationale Entwicklungshilfe an das Land und der Drogenhandel übertreffen mit ihrem Finanzvolumen jeweils deutlich seine legalen Exporte. Nur noch 18% der Bevölkerung können sich den Grundwarenkorb leisten, in den staatlichen Schulen sitzen viele Kinder auf dem Boden, weil ihre Eltern die zwei Dollar Monatsmiete nicht aufbringen können, die für die Benutzung einer Schulbank verlangt werden. Jeder Zweite im arbeitsfähigen Alter ist arbeitslos.
Am oberen Ende der sozialen Leiter bereichern sich oligarchische Cliquen. Staatspräsident Arnoldo Alemán hat nach eigenen - höchst unvollständigen - Angaben sein Privatvermögen von 1990, als er das Amt des Bürgermeisters von Managua antrat, bis 1996, als er Präsident wurde, von 26.000 auf eine Million Dollar vermehrt und weigert sich seitdem erfolgreich, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen. Die Konzentration des Eigentums in wenigen Händen macht auch die Erfolge der Agrarreform zunichte und beraubt viele Bauern ihrer Lebensgrundlage.
Da die politische Macht ihnen derart günstige Akkumulationsbedingungen bietet, ist es wenig verwunderlich, dass Alemán und seine Gefolgsleute in der Liberal-Konstitutionalistischen Partei ihre Herrschaft verewigen wollen. Weil die Verfassung eine Wiederwahl des Präsidenten verbietet, soll nach ihren Vorstellungen bei den nächsten Wahlen im Jahr 2002 statt eines Präsidenten und der Nationalversammlung nun eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt werden, um mittels einer neuen Verfassung die Hindernisse zu beseitigen. Methodische Anleihen bei Menem, Chavez und Fujimori sind unverkennbar, allerdings verfügt Alemán nicht über eine Massenbasis wie diese drei. Auch ein populistisches Mäntelchen will dem dicken Herrn nicht passen - zu sehr erinnert sein Vorgehen an die Somoza-Diktatur, die den Staatsapparat in den Dienst einer kleinen Clique stellte und sich nicht einmal im Umgang mit anderen Fraktionen der Oligarchie an bürgerliche Spielregeln hielt.
Auf der institutionellen Ebene gibt es faktisch keine Opposition mehr, da der tonangebende Flügel der FSLN unter Daniel Ortega mit Alemán einen »Pakt« geschlossen hat, der dem FSLN-Establishment das politische Überleben als eine Art Juniorpartner der Regierungspartei sichert. Beiderseits wird das Ergebnis beschönigend als »Zweiparteiensystem« bezeichnet, doch an einen Machtwechsel denkt niemand, auch wenn Ortega seine Basis zum Stillhalten bewegen will und argumentiert, dass der Pakt seine Wahlchancen verbessere. Die Errungenschaften der 80er Jahre würden zurückkehren, wenn der Präsident erst einmal wieder Sandinist sei. Diese Fortschritte erscheinen heutigen NormalverbraucherInnen im Rückblick als paradiesisch: relative soziale Sicherheit, Rechtssicherheit, ein halbwegs funktionierendes Gesundheits- und Erziehungswesen, Wohnen im eigenen Häuschen bzw. auf eigenem Land, abends ohne Angst vor Überfällen auf die Straße gehen zu können, einem prügelnden Ehemann mit der Polizei drohen können...
In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Pakt um eine Art Besitzstandsgarantie für sandinistische Parlamentarier, dafür müssen sie auf Opposition verzichten und Verfassungsänderungen zustimmen. Der oligarchische und antidemokratische Charakter der »Verfassungsreformen«, denen bis auf vier alle einstigen Revolutionäre auf den Abgeordnetenbänken der FSLN zugestimmt haben, wird auch in der Einschränkung des passiven Wahlrechts deutlich: Bisher im Voraus an Kandidaten gezahlte Zuschüsse für Wahlkampfkosten gibt es jetzt nur im Nachhinein. Nur wer seine Wahlkampfkosten vorstrecken kann, oder eine Partei hat, die das für ihn tut, hat noch eine Chance. Freie Bürger(innen)listen dürfen nicht mehr kandidieren. Ehemalige Präsidenten und Vizepräsidenten werden nach ihrer Amtszeit automatisch zu Dauerabgeordneten und genießen so weiter juristische Immunität. Ein Bonbon für Alemán und für Ortega, der bis zum St. Nimmerleinstag vor einer gerichtlichen Klärung der Vergewaltigungsvorwürfe seiner Stieftochter sicher ist.
Eric Hobsbawm sagte, dass die einzige bleibende Errungenschaft der Französischen Revolution das metrische System sei. Die einzige bleibende Errungenschaft der Sandinistischen Revolution scheint zu sein, dass sich durch den Übergang ehemaliger Staatsbetriebe und großer Teile des Parteivermögens in Privatbesitz die traditionelle Oligarchie um eine sandinistische Fraktion erweitert hat, die ihre Pfründe um so erbitterter verteidigt, je mehr die Masse ihrer einstigen GenossInnen im allgemeinen Elend versinkt.
Opposition gibt es vor allem außerhalb des Parlaments. Die Mehrheit der Massenmedien kritisiert den Pakt und Alemáns autokratische Tendenzen scharf. Das gilt auch für viele Sandinisten wie etwa den sandinistischen Sender Radio Ya, der Ortega und seine Parlamentsfraktion zuletzt als »Schweine«, »Verräter« und »Prostituierte« bezeichnete und daraufhin auf Antrag der Parteiführung mittels Gerichtsbeschluss und Polizeieinsatz auf Linie gebracht wurde. Ein breites Bündnis von Ex-Sandinisten und bürgerlichen PolitikerInnen bis hin zu Violeta Chamorro versucht, das diskriminierende Parteiengesetz zu unterlaufen - um der Einheit willen allerdings weitgehend programmfrei.
Auch die öffentliche Meinung ist eindeutig oppositionell, aber es fehlt ihr an Durchschlagskraft, weil sich nur eine Minderheit der Bevölkerung den Luxus erlauben kann, an dieser Auseinandersetzung teilzunehmen. Zudem lassen sich auch Teile der Linken vom Caudillismo beeinflussen, der Vorstellung, dass starke Männer die Geschichte machen. Und nicht zuletzt geraten die Regierungen der sogenannten »internationalen Gebergemeinschaft« und die Bretton-Woods-Institutionen in Konflikt mit Alemán, da sie ihre Ziele, Märkte zu öffnen und günstige Investitions- und Akkumulationsbedingungen zu schaffen, durch dessen Willkür und die Auflösung staatlicher Strukturen gefährdet sehen.
»Hör auf meinen Rat, "sei gegen den Staat« (R. Schamoni)
Der Orkan Mitch zeigte, dass die Regierung weder fähig noch willens war, die Bevölkerung zu schützen. Das größte Unglück, die Schlammlawine am Vulkan Casita, war lange vorhersehbar gewesen - die Regierung tat nichts, lediglich die sandinistische Bürgermeisterin der nahen Kleinstadt Posoltega versuchte, die Bevölkerung evakuieren zu lassen, nachdem Alemán ihre Forderung nach Katastrophenschutz als »verrückt« bezeichnet hatte und von der Zentralregierung keine Hilfe zu erwarten war. Kaum war die Katastrophe vorüber, versuchte die Regierung, die eintreffende Katastrophenhilfe zu monopolisieren, erklärte sich als allein zuständig für den Wiederaufbau und weigerte sich, auch nur einige der ca. 2.000 Nichtregierungsorganisationen (NRO) im Land einzubeziehen. Wie alle autonomen Regungen aus dem Bereich, der heute als Zivilgesellschaft bezeichnet wird, sind der Regierung die NRO ein Greuel, weil sie sie nicht kontrollieren kann.
Nachdem Alemán seine Staatskarosse nirgendwo mehr verlassen konnte, ohne von aufgebrachten Menschenmengen mit dem reichlich vorhandenen Schlamm beworfen zu werden, wurde ihm klar, dass es vielleicht nicht ratsam sei, die Verantwortung für den schleppenden Wiederaufbau allein tragen zu wollen. Um die NRO zu umgehen, beauftragte er nun die katholischen Bischöfe mit der Verwaltung der Hilfsgelder. Diese wiederum betrieben im wahrsten Sinn des Wortes Kirchturmpolitik und versorgten lieber Freunde und Verwandte, als mit evangelischen und nicht-religiösen Organisationen zusammenzuarbeiten.
Vor diesem Hintergrund bildete sich spontan ein Verband von 350 NRO, die Zivile Koordination für Nothilfe und Wiederaufbau (CCER), um die Hilfe landesweit zu koordinieren und der politischen Einseitigkeit der Regierung etwas entgegenzusetzen. Da die NRO wichtige Partner der Entwicklungshilfe-Geber sind und diesen gut in ihr Konzept von Transparenz, Dezentralisierung und Stärkung der »Zivilgesellschaft« passen, werden sie von ihnen protegiert und durften an der Geberkonferenz zur Koordinierung der Mitch-Hilfe in Stockholm 1999 teilnehmen. Als Oppositionsersatz und Kontrollorgan für das Finanzgebaren der Regierung taugen sie jedoch nur mit großen Einschränkungen, da ihre Interessen zu unterschiedlich sind und ihre Kapazitäten Grenzen haben. Manchmal hat Alemán nicht ganz Unrecht in seiner Häme: »In Nicaragua ist es einfach, eine NRO aufzumachen. Vier Hungerleider tun sich zusammen, bilden eine NRO und erklären sich zu Repräsentanten der Zivilgesellschaft.« Auf der anderen Seite bedient sich die Regierung der NRO nach außen als demokratisches Aushängeschild, während sie innenpolitisch vielen Schikanen ausgesetzt sind. Etwa einem Drittel wird der Status als juristische Person verweigert. Mittlerweile ist der nicaraguanische Staatsapparat selbst dabei, »NRO« zu gründen, um über diese an die Nothilfetöpfe zu gelangen.
Ein Jahr nach Mitch ergab eine Umfrage der CCER unter Hilfsempfängern, dass 40% von ihnen Unterstützung von internationalen Organisationen erhalten hatten, 31% von nicaraguanischen NRO, 10% von einer der Kirchen, weitere 10% vom Roten Kreuz und nur 8% von der Regierung. 40% der Geschädigten lebten aber immer noch in Notunterkünften oder unter Plastikplanen. So muss auch die Bedeutung des Umfangs humanitärer Hilfe relativiert werden: Von den versprochenen 2,6 Mrd.$ sind anderthalb Jahre nach Mitch nach Angaben des Präsidenten der Zentralbank nur 25%, nach Angaben des Außenministeriums gar nur 17% in Nicaragua eingetroffen. Das wären dann höchstens 0,6 Mrd.$ - gerade eben der Betrag, um den in demselben Zeitraum die Auslandsschuld des Landes anstieg. Ähnlich sieht es in Honduras aus, wo im gleichen Zeitraum die Außenschuld um 450 Mio.$ auf 4,3 Mrd.$ wuchs.
Geber sind Gläubiger
Die Forderungen der Geber- und Gläubigerkonferenzen weisen gewisse Ähnlichkeiten mit denen der nicaraguanischen Opposition auf - ein Vertreter der deutschen Botschaft verstieg sich sogar zu der Einschätzung, dass »wir heute alle an einem Strang ziehen«. Gefordert werden etwa nachhaltige Ressourcennutzung, Entwicklung der Infrastruktur, Beteiligung der Zivilgesellschaft, Dezentralisierung (Entwicklung der Kommunen) oder Good Governance (damit sind korrekte Rechnungsführung gegenüber den Geldgebern, Rechtssicherheit für Investoren und Normalbürger und Gewaltenteilung gemeint). Soziale Forderungen (»Armutsreduktion«) werden von den Gläubigerstaaten zwar erhoben, ihre Einhaltung aber kaum überprüft. Ganz anders bei der Durchsetzung von Strukuranpassungsmaßnahmen: Hier bekommt Nicaraugua das gesamte Gewicht seiner Auslandsabhängigkeit und der Auslandsschuld von 6,7 Mrd.$ zu spüren. Mit buchhalterischen Kriterien werden rigoros messbare Erfolge eingefordert und penibel kontrolliert. Dass die Privatisierung von Staatsbetrieben und Banken, die Streichung von Subventionen und öffentlichen Dienstleistungen, Teilprivatisierung und Verteuerung des Erziehungs- und Gesundheitswesens, Privatisierung des Rentensystems usw. aber keine neuen Arbeitsplätze schaffen, sondern viele Menschen noch schneller in Notsituationen bringen, dürfte einleuchten.
Besonders hat sich die »Internationale Gemeinschaft«, sprich: die Industriestaaten und unter ihnen auch die Bundesregierung, für die Privatisierung des lukrativsten Staatsunternehmens Telcor (Post- und Fernmeldewesen) stark gemacht. Dort hat jetzt MasTec das Sagen, der Konzern des mittlerweile verstorbenen "zukünftigen Präsidenten Kubas" Jorge Más Canosa, Anführer des Hardlinerflügels der Exilkubaner in Miami. Die Exilkubaner haben als verlängerter Arm der US-Außenpolitik Alemán in den Sattel gehoben, indem sie seinen Wahlkampf finanzierten. Ein kleiner Somoza an der Karibikküste sollte ihnen gegen Fidel Castro helfen. Der Kalte Krieg ist in dieser Weltgegend noch nicht vorbei. Und ob sie wollen oder nicht, sind die Organisationen der Solidaritätsbewegung wie der Not- und Katastrophenhilfe darin verflochten.
Christian Neven-du Mont ist Mitarbeiter im iz3w.
erschienen in: iz3w 248, Freiburg 2000
Panama: Stühle-Rücken am Canale Grande
Panamas Weg in die formelle Unabhängigkeit
Ende diesen Jahres wird eine der letzten kolonialen Besitztümer der USA in die Souveränität entlassen: Zumindest formal gehört der Panamakanal dann zu Panama. Doch die hegemoniale Vormachtstellung und vertragliche Verpflichtungen werden den USA auch weiterhin die Nutzung des Schifffahrtsweges sichern. Panama erwartet zwar Mehreinnahmen durch den Kanal, doch es kommen auch erhebliche Kosten auf das mittelamerikanische Land zu, denn die US-Militärs hinterlassen in der Kanalzone ökologisch riskantes Material.
von Holger Henke
Mit dem Land Panama wird meist sofort der gleichnamige Kanal verbunden. Dieser bestimmt seit seiner Vollendung im Jahre 1914 das wirtschaftliche, soziale und politische Leben des mittelamerikanischen Landes. Die Auseinandersetzungen um die sogenannten Kanalverträge sind ein schwieriges Kapitel in den Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika. Durch den Kanalvertrag von 1903 hatten sich die USA zeitlich unbegrenzte Nutzungs- und Hoheitsrechte über den Kanal und eine 10 Meilen breite Kanalzone gesichert. Mit der Durchsetzung des sogenannten Carter-Torrijos Vertrags von 1979 - benannt nach den damaligen Staatsoberhäuptern - geht jetzt zumindest formal-juristisch eine fast hundertjährige Periode zu Ende, in der Panama über einen Teil seines Territoriums nicht bestimmen konnte. Der Vertrag war das Ergebnis längerer, heftig geführter Verhandlungen. Er sieht vor, dass die USA am 31. Dezember 1999 ihre Militärbasen in der Kanalzone räumen und die Souveränitätsrechte an Panama übertragen, auch wenn die USA im nächsten Jahrtausend die Verteidigung des Kanals weiter mitgarantieren werden.
Souveränität unter US-Hegemonie
Der Staat Panama ist selbst ein Ergebnis der Großmachtpolitik der Vereinigten Staaten, die beabsichtigten, die von den Franzosen unter dem Suezkanal-Ingenieur Ferdinand de Lesseps im Jahre 1879 begonnene, später jedoch wieder abgebrochene Konstruktion des Kanals zu Ende zu führen. Der Bau eines Kanals in Mittelamerika war das wichtigste Projekt amerikanischer Großmachtinteressen um die Jahrhundertwende. Pläne für eine Verbindung zwischen den beiden Ozeanen reichen zwar bis in die spanische Kolonialzeit zurück. Doch erst als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Aufstieg der USA von einer regionalen Macht zu einer nach Ost und West expandierenden Weltmacht begann, wurde die Vision einer interozeanischen Verbindung zum geopolitischen Leitmotiv. Der Machtpolitiker Theodore Roosevelt wusste um die strategische Bedeutung einer direkten Seeverbindung unter amerikanischer Kontrolle zwischen der amerikanischen Ost- und der Westküste, und U.S.-Präsident Rutherford B. Hayes hatte bereits am 8. März 1880 absolut unzweideutig festgestellt: »Die Politik dieses Landes ist ein Kanal unter amerikanischer Kontrolle.« Eine Reihe von militärischen Interventionen zum »Schutz amerikanischer Interessen und Eigentums« gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der damals noch zu Kolumbien gehörenden Provinz Panama bereitete den Weg für dieses Vorhaben. Als die kolumbianische Regierung und das kolumbianische Parlament angesichts öffentlichen Widerstands gegen den Hay-Herrán-Vertrag, der die Übergabe des Kanalgebiets an die Amerikaner regeln sollte, die Ratifizierung verzögerten, platzte Roosevelt der Kragen: »Über Kolumbien so zu sprechen, als sei es eine verantwortungsbewusste Macht, mit der wir so verhandeln müssten wie mit Holland, Belgien oder Dänemark, ist einfach absurd. Es handelt sich vielmehr um Banditen wie die Sizilianer oder Kalabresen...« Kurzerhand unterstützten die USA den Aufstand einer kleinen Sezessionsbewegung in der kolumbianischen Provinz Panama und segneten das Ergebnis bereits wenige Tage später, am 6. November 1903, ab. Zum Dank für die von den USA erhaltene Unabhängigkeit bot der (französische) Botschafter des neuen Landes Panama, Philippe Bunau-Varilla, den USA an, aus dem eben erst unabhängig gewordenen Land ein Protektorat der USA zu machen. In dem nach ihm und dem US-Außenminister benannten Hay-Bunau-Varilla Vertrag von 1903 verpflichteten sich die USA, Panamas Unabhängigkeit zu garantieren. Als Gegenleistung dafür bekamen sie Kontrolle und Hoheitsrechte über den Kanal und eine zehn Meilen breite Kanalzone auf unbegrenzte Zeit zugesprochen.
Der Bau und die amerikanische Kontrolle über den Panamakanal haben bewirkt, dass das Land eine umfassende strukturelle Abhängigkeit zu den USA entwickelte. Bereits im Zweiten Weltkrieg, vor allem aber im Kalten Krieg, wurde der Kanal zum militärisch-strategischen Objekt, zur sogenannten Achillesferse der USA. Zwar kostete die Präsenz in der Kanalzone von 1904-1970 knapp fünf Milliarden Dollar, andererseits sparten die USA für die Zeit von 1914-1970 schätzungsweise 11 Milliarden, weil für die stationierten Militärs keine Benutzungsgebühren für den Stützpunkt anfielen. Für Panama selbst brachte der Kanal nur sehr geringe direkte Einnahmen. Vertraglich festgelegt war lediglich eine jährliche Pachtgebühr von 250.000 Dollar. Diese wurde 1935 auf 430.000, 1955 auf 1,93 Millionen und 1976 auf 2,32 Millionen US-Dollar angehoben. Doch dies war keine finanzielle Basis für die wirtschaftliche Entwicklung Panamas. Die Abhängigkeit vom Kanalgeschäft einerseits und von den USA andererseits hatte im Gegenteil zur Folge, dass sich die Wirtschaft Panamas im 20. Jahrhundert wenig differenziert entwickelte. Die wichtigsten Wirtschaftssektoren waren die Landwirtschaft, das Bankenwesen, der öffentliche Dienst, der Handel und die verarbeitende Industrie, allesamt stark konjunkturanfällige Geschäftszweige. So war und bleibt die soziale Struktur Panamas durch die für die meisten Länder der Dritten Welt typischen extremen wirtschaftlichen Ungleichgewichte und sozialen Disparitäten geprägt. Auch die politische Stabilität stellte sich weniger über demokratische Legitimation als vielmehr militärisch her. Von Omar Torrijos Herrera bis zur diktatorischen Herrschaft des - anfangs vom CIA unterstützen und 1989 durch die Invasion der Amerikaner abgesetzten - Generals Manuel Noriega wurde die politische Macht in Panama regelmäßig zwischen den Militärs bzw. der Nationalgarde und den zumeist Sonderinteressen vertretenden Politikern verteilt. Und immer wachten die USA darüber, dass ihre Kanalinteressen geschützt waren. Im Laufe der Jahre wuchs die Kritik an der Abhängigkeit des Landes. Der internationale Druck auf die USA stieg, die Souveränitätsrechte wieder an Panama zurückzugeben. Im Jahre 1960 führte dies zunächst zu einer Anerkennung der Souveränität Panamas über die Kanalzone und drei Jahre später - auf Grund öffentlicher Unruhen und Versuche, die panamaische Flagge in der Kanalzone zu hissen - zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Panama und den USA. Wenig später kam es dann zu dem erwähnten Carter-Torrijos Vertrag.
Oh wie schön ist Panama?
Für die Weltmacht USA bedeutet die bevorstehende Rückgabe nun keinesfalls einen materiellen oder symbolischen Verlust. Ihre Hegemonialstellung im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich schließt praktisch aus, dass der Zugang zum Kanal für die USA und den Westen durch Panama behindert wird. Die wirtschaftliche Abhängigkeit, die sich im Rahmen der Globalisierung verschärft, stellt auch in Zukunft sicher, dass der Kanal für die ›vitalen‹ Interessen der USA geöffnet bleibt. So hatte man bereits zur Zeit des Vertragsabschlusses wirtschaftliche und finanzielle Hilfe der USA in Höhe von 345 Millionen Dollar vereinbart. Die gegenwärtige neoliberale Wirtschaftspolitik Panamas trägt nach Einschätzungen von Roberto Méndez, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Panama, wenig zu einer Lösung der Probleme des Landes bei. Sie habe vielmehr zu »massiven Entlassungen, zu derselben oder noch schlechterer Qualität von Produkten und Dienstleistungen und höheren Preisen« geführt.1 Auch in politischer Hinsicht ist Souveränität heute weniger relevant als noch vor 20 Jahren. Anders als zur Zeit der militärischen Rücknahme des Suezkanals durch Ägypten ist die Souveränität über den Panamakanal heute mit dem politischen Management komplexer Interdependenzen verbunden und hat nichts mehr mit einer unabhängigen nationalen Kursbestimmung zu tun. Entsprechend der neuen Globalisierungslogik gilt, dass heute die meisten Entscheidungen über den Kanal von Reaktionen anderer Nationen und Benutzer des Kanals abhängen. So verpflichtete sich Panama vertraglich, seine Passiergebühren »gerecht, vernünftig, unparteiisch und in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Internationalen Rechts« festzulegen. Es ist daher auch nicht überraschend, dass die Gesellschaft, die den Kanal betreibt, eine Nichtprofitorganisation ist. Letzte Zweifel am Risiko der Kanalrückgabe dürften durch den Präzedenzfall der 89er Invasion ausgeräumt worden sein, mit der die USA der diktatorischen Herrschaft General Noriegas ein Ende bereiteten. Hier wurde ein Exempel statuiert, wenn auch - im Sinne des internationalen Rechts - mit fragwürdigen Mitteln.
Gefährliches Erbe
Mit der Rückgabe des Kanals sind jedoch noch lange nicht alle Streitpunkte zwischen den USA und Panama aus dem Wege geräumt. In vielerlei Hinsicht beginnen für Panama die Schwierigkeiten jetzt erst richtig. Ähnlich wie die Sowjetarmee im ehemaligen Ostblock hinterlässt auch die US-Armee ein ganzes Arsenal ökologisch und anderweitig gefährlicher Restbestände in der Kanalzone: Bomben, scharfe Granaten und chemische Waffen, deren Beseitigung Millionen Dollar kosten wird. Obwohl die USA vertraglich zur Beseitigung verpflichtet sind, sieht es nach Angabe von Robert Pastor, Lateinamerikaspezialist und früherer Mitarbeiter von Präsident Carter, so aus, als ob »die gegenwärtige Regierung sich leise in die Nacht davonzustehlen versucht.«2 Panama wird von den »Beseitigungsmaßnahmen« ausgeschlossen und auch nicht darüber informiert, an welchen Stellen vergrabene chemische Waffen vermutet werden. Eine Militärstudie von 1997 fand im Grundwasser eine Menge der krebserregenden Chemikalie TCE, die die in den USA festgelegten Höchstwerte um ein zwanzigfaches übersteigt. Dennoch planen die amerikanischen Militärs nur einen geringen Bruchteil (524 Morgen) der von ihnen verseuchten Fläche von insgesamt über 18.000 Morgen zu reinigen. Im Oktober 1998 gaben sie Panama 30 Tage Zeit, diesen Plan zu kommentieren. Panama insistierte natürlich auf einer kompletten Säuberung des Areals. Sowohl das Pentagon als auch der amerikanische Kongress dürften sich jedoch weiterhin weigern, einer umfangreichen Säuberung der Militärbasis zuzustimmen. Dass die Regierung Panamas nicht energischer auf einer Beseitigung des amerikanischen Militärmülls besteht, kann als ein Indikator für das Ausmaß der informellen Kontrolle der Amerikaner betrachtet werden.Anmerkung
- Méndez, Roberto N., "Neoliberalism and Demagogy." in Panamá Update 25, December 1998, S.5. [back]
- Lindsay-Poland, John, "Sneaking Off into the Night." in Panamá Update 25, December 1998, S.1. [back]
Holger Henke ist Research Fellow des Caribbean Research Center der City University of New York (Medgar Evers College). Er hat an der University of the West Indies (Kingston, Jamaika), am Hunter College und Iona College unterrichtet. Kontakt: hhenke@ix.netcom.com
erschienen in: iz3w 242, Freiburg 2000
Peru: Wer soll das bezahlen?
25 Jahre Schuldenprobleme - das Beispiel Peru
In Peru führten die Verschuldung des Landes und die damit einhergehende Integration in den Weltmarkt zur massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen. Den Preis für die Kredite aus Ländern des Nordens trägt damit die Bevölkerung. Die Situation Perus ist dabei keineswegs außergewöhnlich, sondern in vielen Punkten vergleichbar mit der Situation anderer verschuldeter Länder des Südens.
von Bernhard Jimi Merk
Die Auslandsschulden Perus haben sich seit 1970 verachtfacht und liegen heute bei etwa 30 Milliarden US-Dollar. Bereits Mitte der 70er Jahre hatte das Land Zahlungsschwierigkeiten. Seit dieser Zeit sind die Politik, die wirtschaftliche Entwicklung in Peru und der Lebensstandard der PeruanerInnen in erheblichem Maße geprägt von der Erwirtschaftung des Schuldendienstes, der Abhängigkeit von neuen Krediten und der Unterwerfung unter die Strukturanpassungs-Auflagen des IWF.
Der Weg in die Überschuldung begann Ende der 60er Jahre mit den kreditfinanzierten Reformen der Militärregierung Velasco Alvarado. Durch Agrar-, Erziehungs- und Industriereformen sollte das Land modernisiert werden, diese Politik fand weltweit Beachtung und Unterstützung. Die reichliche Entschädigung für die Großgrundbesitzer und der Ausbau des Bildungswesens aber kosteten Geld, das der peruanische Staat nicht zur Verfügung hatte.
Seit dieser Zeit ist Peru Schwerpunktland deutscher Entwicklungshilfe. Ganz im Sinne des damaligen Verständnisses von Entwicklung wurden mit Krediten z.B. Groß-Projekte wie der Tinajones-Staudamm (Kosten: 125 statt der geplanten 50 Millionen Euro) und der Jequetepeque-Staudamm finanziert - gegen die Proteste der Bevölkerung und der Peru-Gruppen in der Bundesrepublik. Ergebnis dieser finanziellen Hilfen war, dass Peru bis Anfang der 90er Jahre in Deutschland vor allem Schulden bei der Bundesregierung hatte: von diesen Verbindlichkeiten in Höhe von 366 Millionen Euro stammten 351 aus Entwicklungshilfe-Krediten. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, dass auch »weiche« Kredite zu günstigen Bedingungen ein erheblicher Beitrag zur Verschuldung sein können.
Viele Auslandskredite wurden allerdings nicht für Entwicklungsprojekte verwandt. Mit einem Drittel der Kredite finanzierte die Militärregierung die Ausstattung der Armee. Waffen und Kredite stammten z.T. aus denselben Ländern. Es ist davon auszugehen, dass dies den Gläubiger-Regierungen und -Banken nicht verborgen blieb. Außerdem wurden Kredite für Regierungsprojekte oftmals nach (wirtschafts)politischem Wohlverhalten gewährt. Beispiele dafür sind die peruanischen Präsidenten Alan Garcia (1985-1990) und Alberto Fujimori (1990-2000). Garcia verkündete immer wieder, Peru sei nicht zur Zahlung der Schulden um den Preis der Verarmung der eigenen Bevölkerung bereit, er werde die Zahlung des Schuldendienstes auf niedrigerem Niveau begrenzen. Zur Strafe für diese (verbale) Unbotmäßigkeit wurde er vom Zufluss neuer Kredite weitgehend abgeschnitten, obwohl er diese Ankündigungen nicht in die Tat umsetzte und sich sein Zahlungsverhalten kaum von dem seines Vorgängers unterschied. Sein Nachfolger Fujimori wurde dagegen für seine Kooperationsbereitschaft mit dem IWF und den Gläubigern sowie für seine Bemühungen um eine bedingungslose Reintegration des Landes in den Weltmarkt mit Krediten belohnt. Überflüssig zu erwähnen, dass seine diktatorische und korrupte Amtsführung für die Gläubiger kein Problem war. Auch das BMZ hatte nach 1992 die Zahlungen wegen des »Selbstputsches« Fujimoris (er hatte das Parlament ausgeschaltet und mit den Militärs weiterregiert, um dann Neuwahlen in Aussicht zu stellen und 1995 anzusetzen) nur vorübergehend ausgesetzt. Erst kurz vor Ende seiner Regierungszeit wurden die Entwicklungshilfemittel wegen Menschenrechtsverletzungen und Wahlfälschungen gekürzt.
Die Kredite haben überwiegend nicht zur Verbesserung der Lebenssituation der verarmten Bevölkerungsmehrheit beigetragen. Viele Gelder für Großprojekte sind in Form von Aufträgen direkt wieder in die Gläubigerländer zurückgeflossen - ein durchaus beabsichtigter Effekt von (Entwicklungshilfe-)Krediten. Wer soll für diese Schulden bezahlen?
Probleme durch IWF-Auflagen
Peru ist bereits seit Mitte der 70er Jahre auf IWF-»Beistand« angewiesen. Die strukturellen Ursachen für die hohe Schuldenbelastung und die schlechte wirtschaftliche Situation haben sich seither nicht verändert. Dennoch wurden Peru weiterhin private und öffentliche Kredite gewährt, nicht zuletzt zur Begleichung fälliger Zahlungen. Das Land musste in den letzten 25 Jahren wiederholt seine Zahlungsunfähigkeit erklären, die Gründe dafür sind z.T. identisch mit den Ursachen der Überschuldung: Die mit den ausländischen Krediten finanzierten Projekte erwirtschafteten oftmals keine entsprechenden Gewinne und vor allem keine Devisen. Gleichzeitig verfielen die Weltmarkt-Preise für die wichtigsten Exportgüter Perus, weitere Mittel gingen durch Kapitalflucht und legalen Kapitalexport einheimischer und ausländischer Firmen verloren.
Um in dieser Situation wieder an IWF- und andere Kredite zu kommen und mit den Gläubigern über vorübergehende Zahlungserleichterungen verhandeln zu können, musste sich Peru einem vom IWF verordneten Strukturanpassungsprogramm unterziehen. Wichtige Elemente sind die Kürzung staatlicher Ausgaben, das Einfrieren von Löhnen und Gehältern, die Freigabe bisher staatlich festgelegter Preise, stärkere Weltmarkt-Integration, freier Kapitalverkehr und die Abwertung der Währung. Ziel ist die Wiederherstellung der Fähigkeit, pünktlich und vollständig den Schuldendienst zu leisten, und die verstärkte Integration des Landes in den Welt(finanz)markt. Perus Erfahrung mit diesen Auflagen zeigt, dass sie die strukturellen Probleme des Landes weiter verschärfen.
So hat Peru bereits Anfang der 80er Jahre mit staatlicher Unterstützung die Mangelware Milch in die Nachbarländer exportiert. Für die Produktion von Fischmehl, das als billiges Kraftfutter für Hühner-, Schweine- und Fischzucht nach Europa exportiert wird, werden Perus Küsten leergefischt und auch Speisefische mitverarbeitet. Die Halbierung der Weltmarktpreise für Kaffee innerhalb der letzten drei Jahre macht nicht nur den Kaffee-Bauern zu schaffen, sondern auch dem Staat einen Strich durch seine Deviseneinnahme-Rechnung. Jüngst hat die Regierung Toledo den devisenbringenden Bergbau zum Schwerpunkt der peruanischen Wirtschaft erklärt. So wird die Rolle des Landes als Lieferant billiger Rohstoffe stabilisiert.
Auch die Verhandlungen mit den Gläubiger-Regierungen im »Pariser Club« über Umschuldungen schaffen nur eine vorübergehende Atempause. Sie sind von den Interessen der Gläubiger bestimmt, die wenig Bereitschaft zum Verzicht auf Forderungen haben. Das Entgegenkommen gegenüber dem Schuldnerland besteht in der Stundung von Zahlungsverpflichtungen und neuen Krediten. Die aufgeschobenen Rückzahlungen treffen das Schuldnerland nach Ende der »Schonfrist«, ohne dass sich an seiner Situation Wesentliches geändert hat. Die Mitverantwortung von Regierung und Oberschicht der Schuldner-Länder für die Verschuldung steht außer Zweifel. Sie lässt sich aber nicht als Argument gegen die Entschuldung verwenden. Den Preis für die Schulden zahlen nämlich vor allem diejenigen, die nichts mit der Entscheidung über die Kredite zu tun und keinen Nutzen von ihnen hatten.
So führten der Zwang zum Schuldendienst sowie die Auflagen des IWF gleichermaßen dazu, dass in Peru die staatlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit gekürzt wurden. Im Jahr 1981 wurden 48,8 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung für Erziehung und Gesundheit ausgegeben, 1990 nur noch ein Viertel soviel: 12,4 Dollar. Der Schulbesuch in Peru ist offiziell kostenlos - aber die Schulen verlangen heute Gebühren, um sich notwendige Ausstattung kaufen zu können. Auch für die Behandlung im staatlichen Gesundheitsposten und für Medikamente muss bezahlt werden. Bis Anfang der 80er Jahre sorgte der peruanische Staat durch Subventionen und festgelegte Preise für Grundversorgungsgüter dafür, dass sie für alle erschwinglich blieben. Sparzwang und verordnete wirtschaftliche Liberalisierung haben diese Einrichtungen beseitigt. Die massiven Preissteigerungen haben teilweise über Nacht zur drastischen Verschlechterung der Versorgung mit Lebensmitteln geführt.
Die Feststellung, dass die Schuldenbelastung Perus und anderer Länder des Südens nicht akzeptabel ist, ist politisch zu treffen. Eine rein statistisch-zahlenmäßige Festlegung von Tragfähigkeitsgrenzen ist jedenfalls nicht sinnvoll. Denn die Forderung, die Höhe der Schuldentilgung solle sich an sozialen Mindeststandards orientieren, beinhaltet auch die Festlegung des Ausgaben-Niveaus für ein ausreichendes Gesundheits- und Bildungssystem. Doch wer soll einen ›objektiven‹ Standard dafür bestimmen?
Unbedingt, aber nicht bedingungslos
Die Menschen in Peru und anderen Ländern des Südens brauchen die Entschuldung. Sie muss gegenüber den Gläubigern verlangt werden, denn deren wirtschaftliche, politische und moralische Mitverantwortung steht außer Frage. Die peruanischen NGOs und Bewegungen, die sich für eine Entschuldung ihres Landes einsetzen, haben bisher die Schulden Perus dennoch nicht als illegitim im Sinne der Odious Debts-Doktrin bezeichnet (siehe S. 25). Sie sehen aber - im Gegensatz zum bisherigen Umgang mit dem Schuldenproblem - die Gläubiger in der Verantwortung und die Zahlung des Schuldendienstes als unvereinbar mit den Lebensinteressen der PeruanerInnen.
Peruanische NGOs wenden sich allerdings auch dagegen, dass die durch einen Schuldenabbau frei werdenden Mittel bedingungslos der Regierung zur Verfügung gestellt werden. Denn die peruanischen Regierungen sind Teil des Schuldenproblems, ihre Ausgaben-Politik hat die wirtschaftliche und soziale Dauerkrise des Landes mitverursacht. Die Forderung nach zivilgesellschaftlicher Kontrolle der Verwendung dieser Mittel durch legitimierte Vertreter von NGOs und sozialen Bewegungen wird daher von den Partnern der peruanischen Entschuldungsbewegung in Deutschland - dem Ländernetzwerk Peru der deutschen Entschuldungsbewegung - unterstützt.
Bernhard Jimi Merk ist Mitarbeiter der Informationsstelle Peru in Freiburg und Ko-Herausgeber von: Zum Beispiel Verschuldung, Lamuv Verlag, Göttingen 2002.
erschienen in: iz3w 270, Freiburg 2003
Trinidad: Chutney und das andere Trinidad
von Gert Eisenbürger
Als 1838 die Sklaverei in Trinidad abgeschafft wurde, wollte die Kolonialmacht das System der Plantagenwirtschaft weiterführen. Da die bisherigen SklavInnen verständlicherweise keinerlei Bereitschaft zeigten, weiter auf den Plantagen zu arbeiten, begannen die Briten, in Indien so genannte KontraktarbeiterInnen anzuwerben. Bevorzugt dort, wo aufgrund von Missernten oder Dürrekatastrophen Hunger herrschte, traten die Werber auf und versprachen den Leuten fruchtbares Land in Trinidad, Guyana oder einer anderen ihrer karibischen Kolonien. Für die Bezahlung der Überfahrt mussten sie sich vertraglich verpflichten, zunächst fünf oder acht Jahre auf einer Plantage zu arbeiten. Die KontraktarbeiterInnen waren für die Dauer des Vertrages faktisch SklavInnen, ohne Erlaubnis durften sie die Plantagen nicht einmal verlassen. Bis 1917 kamen so etwa 150 000 InderInnen nach Trinidad. Heute sind ein gutes Drittel der 1,1 Millionen TrinidaderInnen indischer Abstammung.
Die »East Indians«, wie sie auf den West Indies, den englischsprachigen Inseln, genannt werden, lebten nach Ablauf des Kontrakts überwiegend als Kleinbauern und -bäuerinnen auf dem Land. Oft waren ganze Sippen oder Großfamilien aus bestimmten Regionen Nordindiens nach Trinidad gekommen. Anders als bei den gewaltsam verschleppten AfrikanerInnen bestanden auch weiterhin Verbindungen und familiäre Beziehungen in die alte Heimat. So pflegten die InderInnen in Trinidad weiterhin den traditionellen Lebensstil, ihre Kultur und Religion. Dies galt auch für die Musik. Bei den Festen und religiösen Zeremonien (in Trinidad leben überwiegend Hindus) wurde indische Musik auf traditionellen Instrumenten, vor allem Harmonium, dholak (zweifellige Trommeln, die von beiden Seiten geschlagen werden) und dhantal (klingende Metallrohre) gespielt. Mit dem Ölboom, den erweiterten Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt und dem Ausbau des Bildungswesens zogen viele InderInnen nach Port of Spain und in die kleineren Städte. Dort entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten - auch unter dem Einfluss der über Videotheken allgegenwärtigen Filme aus Indien - eine indische Popmusik.
Die Sprache der Songs war weiterhin Hindi, obwohl die meisten InderInnen in Trinidad sie nicht mehr verstehen und längst auch untereinander Englisch sprechen. Die Instrumentierung erweiterte sich, die MusikerInnen begannen etwa E-Bass und Keyboards einzusetzen. Der entststehende neue Musikstil wurde Chutney genannt. Mit der langsamen Überwindung der ethnischen Schranken in der Gesellschaft Trinidads begannen sich auch die MusikerInnen beider Bevölkerungsgruppen füreinander zu interessieren. Ein Resultat davon ist Chutney Soca. Der neue afroindische Stil, in dessen Texten Hindi und Englisch benutzt werden, hat seit Mitte der neunziger Jahre Einzug in den carnival gehalten, 1996 wurde in den Wettbewerben neben dem Calypso- und Soca-Monarch auch erstmals ein Chutney Soca Monarch gewählt.
Chutney und Chutney Soca sind in Deutschland kaum auf Tonträgern erhältlich. Lediglich der Sampler "Trinidad Hot Times" (Tropical Music) enthält einige Stücke.
erschienen in: ila 276, S. 6. www.ila-web.de
Venezuela: Untypische Demokratie
In Venezuela geht die Regierung Chávez in die Offensive
Grenzen sind nicht mehr nur markierte Linien mit Zäunen und Schranken, sondern komplexe Systeme. Die Ostgrenze der Europäischen Union wird durch Kooperationsverträge mit Transitländern wie Polen, der Ukraine oder der Türkei mehrstufig gegen MigrantInnen und Flüchtlinge gesichert. Ein ähnliches Konzept verfolgen die USA an ihren Südgrenzen, die migrationspolitisch gesehen bis Guatemala reichen.
von Simón Ramírez Voltaire
Nachdem die Putschgefahr in Venezuela vorläufig gebannt ist, vollzieht sich eine Revolution. So stellen es zumindest die vielen begeisterten Chávez-Anhänger dar. Für bloßen Populismus halten dagegen viele Oppositionelle der Oberschicht die volksnahe Rhetorik des Präsidenten. Die seit Anfang des Jahres verstärkt vorangetriebenen sozialen Projekte der Regierung seien nichts als Massenklientelismus.
Die einzelnen Elemente der Politik Chávez' sind nicht neu. Sie reichen von gewöhnlichen kapitalistischen Prinzipien über Projekte aus dem Katalog von NGOs bis hin zur Einführung sozialistischer Strukturen.
Das Regierungsprogramm wirkt wie ein Gemischtwarenladen: nicht kohärent und meist streng an den Bedürfnissen der unterschiedlichen Kunden orientiert. Bemerkenswert an der aktuellen Entwicklung sind aber vor allem zwei Aspekte: Erstens die Umsetzung der bereits 1999 eingeführten Möglichkeit, Amtsträger abzuwählen. Zweitens die aktuelle Projektoffensive der Regierung, mit der die dringendsten Probleme der unteren Schichten bekämpft werden sollen. Nachdem der nationale Wahlrat endlich das Prozedere für Referenden festgelegt hatte, ist Anfang Oktober das Abstimmungsverfahren über den Verbleib von Hugo Chávez im Präsidentenamt eingeleitet worden. Die Opposition muss nun 2,4 Millionen Unterschriften sammeln, damit die Abstimmung Ende März 2004 tatsächlich durchgeführt werden kann. Im Gegenzug haben Regierungsanhänger 46 Abberufungsverfahren gegen oppositionelle Träger staatlicher Ämter auf unteren Ebenen, in der Mehrheit Abgeordnete und Gouverneure, beantragt.
Das mandato revocatorio, zu deutsch etwa: Widerrufsmandat, ist das demokratietheoretische und staatsphilosophische Herz der 1999 in Kraft getretenen Verfassung Venezuelas. In ihr ist die »partizipative Demokratie« als neuer rechtlicher Rahmen festgelegt. Sie sei, so der Vizepräsident José Vicente Rangel, die weltweit am weitesten entwickelte Form der Demokratie und soll als ein Alternativmodell zur repräsentativen Demokratie verstanden werden. Die darin enthaltene Kritik am repräsentativen Parlamentarismus ist der Linken altbekannt. In den Konzepten der direkten Demokratie oder des Rätesystems gilt das »imperative Mandat« als das wichtigste Element, um die Institutionen der Gesellschaft auf allen Ebenen demokratisch und transparent zu gestalten. Ein Amtsträger ist demnach nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern an das Mandat seiner (Ur-)Wähler gebunden. Er soll jederzeit abwählbar sein. Freilich bleiben auch in Venezuela - trotz Widerrufsmandat und weiterer plebiszitärer und basisdemokratischer Elemente - die Form des Staates und die Eigentumsverhältnisse im Prinzip unangetastet. Der Recall, wie er in der politologischen Fachterminologie heißt, ist denn auch in einigen schweizerischen Kantonen und deutschen Kommunen sowie in manchen Staaten der USA möglich. Jüngstes Beispiel ist die Abwahl des kalifornischen Gouverneurs Gray Davis und dessen Ersatz durch Arnold Schwarzenegger.
Wirklich neu an der venezolanischen Verfassung ist, dass sie die Abberufung nicht nur für Amtsträger auf den unteren Ebenen, sondern für alle gewählten Ämter, vom Dorfvorsteher bis zum Präsidenten, nach der Hälfte der Amtszeit ermöglicht. Dabei erscheint es paradox, dass ausgerechnet die Chávez-Gegner - in der Mehrzahl um ihre Privilegien fürchtende Ober- und Mittelschichtler - gerade durch die von ihnen bekämpfte Verfassung die Möglichkeit erhalten, den Präsidenten abzuwählen. Auch die Integration indigener Gruppen in den Staatsapparat ist ein echter Fortschritt. Traditionelle Eigentumsformen und eigenständige soziale Organisationsformen werden in der Verfassung anerkannt. Der Staat garantiert die Repräsentation der Indigenen im Parlament durch drei von ihnen entsandte Abgeordnete.
Der zweite Aspekt sind die Sonderprogramme der Regierung. Sie zielen auf die offensichtlichen Missstände im Land, nicht zuletzt, um die lädierte Glaubwürdigkeit der Regierung wieder herzustellen. Dabei lassen sich die Maßnahmen durchaus sehen: Die Kampagne »Misión Robinsón« zur Alphabetisierung von 1,5 Millionen Menschen, der Plan »Barrio Adentro« (etwa: hinein ins Viertel), der mit Hilfe von über 700 größtenteils kubanischen Ärzten kostenlose medizinische Grundversorgung für die ärmsten Bezirke von Caracas, Libertador und Sucre leisten soll, gehören neben den »Mercales«, einem System von Geschäften, die staatlich subventionierte Lebensmittel bis zu 60 Prozent billiger als üblich verkaufen, zu den für die Armen direkt spürbaren Maßnahmen. Kein Wunder, dass das Ansehen der Regierung in den Barrios groß ist und sich überall Nachbarschaftskomitees gründen, die einerseits die Logistik für die Projekte stellen, andererseits ein stabiles Netz regierungsloyaler Basisgruppen bilden. Das ist ein weiteres Ergebnis der durch Chávez angestoßenen Politik und der durch die Verfassung ermöglichten Partizipation: Die Menschen der unteren Schichten sind zu sozialen Akteuren geworden. Für die Opposition, die sich im Wesentlichen in den großen kommerziellen Zeitungen wie El Nacional, Tal Cual oder El Universal artikuliert, stellen die Maßnahmen in erster Linie Instrumente der politischen Kontrolle dar und sind Belege für die fortschreitende »Kubanisierung« des Landes. Die kubanischen Ärzte, international anerkannt für ihre integrale und auf arme Verhältnisse abgestimmte Ausbildung, seien Agenten des »Castrokommunismus«, welche die Nähe zu den Patienten ausnutzten, um ihnen Ideologie einzuflößen. Solche Kampagnen zeigen aber eher die Probleme der Opposition auf. Denn nach dem gescheiterten Putsch von Ultrarechten im April 2002 und der desaströsen Sabotage der Erdölindustrie im Dezember 2002 und Januar 2003 wirkt sie zerstritten und demotiviert. Chávez' Regierung hingegen ist erstmals seit Dezember 2001, als sie unter Dauerbeschuss geriet, wieder in der Offensive.
Es ist übertrieben, die jetzigen Aktivitäten von Chávez als Revolution zu bezeichnen. Im lateinamerikanischen Vergleich aber erscheinen das soziale Engagement des venezolanischen Staates und die Massenpolitisierung der Bevölkerung, die diesen Prozess trägt, als geradezu bahnbrechend.
Simón Ramírez Voltaire besuchte Venezuela im September 2003.
erschienen in: iz3w 273, Freiburg 2003
Venezuela: Die Befreierinnen befreien sich selbst
Frauenpolitik in Venezuela zwischen Fortschritt und nationaler Mobilisierung
Der venezolanische Präsident Hugo Chávez ist wegen seines Populismus höchst umstritten. Doch eines muss man ihm lassen: Unter seiner Ägide finden bemerkenswerte soziale Reformen statt. So stärkt die staatliche Frauenpolitik beispielsweise die Rechte von (Haus-)Frauen und ermöglicht unbürokratisch Kredite an Kleinunternehmerinnen. Doch die Förderung von Frauen dient auch problematischen Zielen wie der Bevölkerungskontrolle.
von Stefanie Kron
»Frauen kann man nicht kommandieren.« Minutenlang ertönt tosender Beifall von den vollbesetzten Rängen des Nationaltheaters »Tereza Careno« in Caracas. Hugo Chávez hält inne, geht einen Schritt vom Rednerpult zurück und genießt die Wirkung des ersten Satzes seiner Rede zur Eröffnung des Weltfrauenforums zur Solidarität mit Venezuela. Mehr als 1.500 Vertreterinnen von venezolanischen und internationalen Frauenorganisationen waren im September 2003 zum Auftakt des Kongresses angereist. Gewidmet war er Manuela Saenz, die in Venezuela unter dem Namen La Manuelita als Lebensgefährtin des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simon Bolivar bekannt ist. »La Manuelita griff vor Simon Bolivar zu den Waffen, um den Kampf für die Unabhängigkeit unseres Landes zu führen«, fährt Chavez fort. »Sie ist die Befreierin des Befreiers. Deswegen sagen wir in Venezuela heute: Neben jedem großen Mann steht eine große Frau!« Blumen fliegen auf die Bühne, Transparente werden hochgehalten, und die Jubelchöre aus dem Publikum wollen auch während der folgenden drei Stunden nicht enden. So lange dauert die Ansprache des venezolanischen Staatschefs, länger als die aller Rednerinnen vor ihm zusammen. Man mag im Auftritt des Präsidenten als glamouröser Popstar der Klassenkampfrhetorik die Instrumentalisierung von Frauen für ein pro-chavistisches Spektakel der nationalen Einheit sehen, das Assoziationen mit Kuba weckt. Tatsächlich gehören die venezolanische Frauenbewegung, die mehrheitlich aus Intellektuellen der Mittelschicht besteht, aber auch die in Basis- und Stadtteilgruppen organisierten Frauen der marginalisierten Bevölkerung - der so genannten clases populares - zu den überzeugtesten Chávez-Anhängerinnen. Das liegt ohne Zweifel daran, wie der Präsident die Frauen seiner bolivarischen Republik anruft. Immer wieder verweist er auf die besonderen Verdienste von Frauen am Herd, in den Stadtteilen und auf der Straße während der beiden großen Krisen seiner Amtszeit: dem Putsch vom April 2002 und dem so genannten Streik der Unternehmer beim Jahreswechsel 2002/03.
Revolutionäre Verfassung
Zu politischen Krisenzeiten hatten die venezolanischen Frauen in den nationalistischen und nationalrevolutionären Diskursen schon immer ihren Platz als Rückgrat der Nation. Doch Chávez ist bei der venezolanischen Frauenbewegung und den Frauen der clases populares auch aus einem anderen Grund beliebt: Wegen der staatlichen Frauenpolitik. Sie soll weit über Quotenregelungen hinausgehen und mit dem Ziel der »internen, nachhaltigen Entwicklung« in der angestrebten Staatsform der »partizipativen Demokratie« verankert werden. In den Augen vieler hat Chavez dafür mit der neuen Verfassung vom Dezember 1999 den Rahmen geschaffen. Zur Umsetzung der staatlichen Frauenpolitik wurden das »Nationale Fraueninstitut« (INAMUJER) und die eng mit ihm kooperierende »Nationale Bank für die Entwicklung der Frau« (BANMUJER) gegründet.
Nach dem Wahlsieg von Chávez im Dezember 1998 schlossen sich fast fünfzig, höchst unterschiedliche Frauenorganisationen zur Koordination der Frauen-NGOs zusammen, darunter das Zentrum für Frauenforschung der Zentraluniversität von Caracas, die Einheit der schwarzen Frauen Venezuelas, die Zirkel organisierter Frauen aus den Armenvierteln (Barrios) und unabhängige Gewerkschafterinnen. Die Koordination erarbeitete einen Forderungskatalog und drängte mit Erfolg darauf, an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligt zu werden. Maria León, die Direktorin des INAM, sieht den größten Erfolg der venezolanischen Frauenbewegung darin, dass »hundert Prozent unserer Forderungen in die neue Verfassung aufgenommen wurden.« Auch die Gründung des INAMUJER und der BANMUJER wurden in der neuen Magna Charta festgelegt. Deren Herzstück stellt für die Frauenbewegung der Artikel 88 dar, in dem der Staat die unbezahlte Hausarbeit als "ökonomische Aktivität" anerkennt, die »Mehrwert, gesellschaftlichen Reichtum und sozialen Wohlstand« schaffe. Mit dem Satz »Hausfrauen haben ein Recht auf soziale Absicherung« schließt der knapp gehaltene Absatz. Damit ist er in gewisser Hinsicht revolutionär: Er stellt nicht nur einen Frontalangriff auf die geschlechtliche Arbeitsteilung der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft dar, in der die Frauen und die ihnen zugeschriebenen Tätigkeiten in der Familie, im Haushalt und auf kommunitärer Ebene dem Bereich des Privaten zugeordnet und damit unterbewertet wurden, wenn sie nicht gar als quasi natürliche Ressource galten. Der Artikel 88 entschleiert auch neoliberale Diskurse, die die Einbindung von Frauen in die klassischen Bereiche des Öffentlichen propagieren, sprich in den Arbeitsmarkt, in den Marktkreislauf sowie in den Institutionen der politischen Entscheidungsmacht. Die reproduktiven oder fürsorgenden Tätigkeiten werden dabei allerdings ausgeblendet, auch wenn sie nach wie vor im Verantwortungsbereich von Frauen liegen.
Institutionalisierter Pluralismus...
Maria León, die seit vierzig Jahren der kommunistischen Partei Venezuelas angehört und aus einem der Barrios kommt, die sich an den Bergen rund um das Zentrum von Caracas hochziehen, sieht im Artikel 88 die Grundlage für ein fortschrittliches Sozialversicherungsgesetz: »In der neuen Verfassung werden die Hausfrauen nicht nur als Arbeiterinnen anerkannt, sondern sie haben auch das Recht auf eine Rente erhalten, ebenso wie die Fabrikarbeiterin ein Recht auf eine Rente hat.« So stehe im Zentrum der Arbeit des INAMUJER, dass dieses Recht im derzeit diskutierten Entwurf für ein neues Sozialversicherungsgesetz umgesetzt wird. INAMUJER, das im Jahre 2000 seine Arbeit aufnahm, ist eine Regierungsinstanz und verfügt über einen Etat von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Ziel sei, dass alle Politiken und Programme der Regierung einen Gender-Fokus enthalten, erklärt Maria León. Die Arbeitsschwerpunkte des Institutes entsprechen denen des so genannten »Nationalen Planes für soziale und ökonomische Entwicklung«. Dieser soll eine Konkretisierung dessen darstellen, was mit dem Begriff der »internen nachhaltigen Entwicklung« in der Verfassung als Staatsziel verankert ist. Vor allem in den Bereichen Basisgesundheit, Alphabetisierung und einer von Importen unabhängigen Lebensmittelversorgung wird die Umsetzung des Planes seit dem Frühjahr 2003 forciert. Mit der Wiederbelebung der Landwirtschaft sowie der Förderung von Produktionsgenossenschaften und Kleinstunternehmen soll einer Schwachstelle der Chávez-Regierung begegnet werden: das Land importiert nach wie vor 70 Prozent aller Lebensmittel, und die Importeure gehören mehrheitlich der Opposition an. So ist die aktuelle Projektoffensive vor allem als Reaktion der Regierung auf die Versorgungskrise zu sehen, die der anti-chavistische Unternehmerstreik ausgelöst hatte, um die Regierung zu destabilisieren. Dessen Folgen trugen vor allem die Bewohner der Barrios.
Während das ad hoc Basisgesundheitsprogramm Barrio Adentro und Misión Robinson, ein Alphabetisierungskonzept im Schnellverfahren, ohne Geschlechterfokus am INAMUJER vorbei gestartet wurde, ist das Institut erfolgreich, was die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten für Frauen sowie die Vereinheitlichung der organisierten Frauen betrifft. Diese Vereinheitlichung ist Programm und richtet sich vor allem an die Frauen der clases populares, der stärksten Basis von Chavez. So sollen in jedem Stadtteil, in jeder Gemeinde und in jedem Bundesstaat Ableger des nationalen Fraueninstitutes gegründet oder bereits bestehende lokale und regionale Fraueneinrichtungen in INAMUJRERES umgewandet werden. Über 10.000 so genannte Treffpunkte für Frauen hat das Team von Maria León landesweit bereits aufgebaut. »Das sind Basisorganisationen, in denen der Staat mit der zivilen Gesellschaft, in diesem Fall mit den Frauen, zusammen trifft«, erzählt León und nennt eine Zahl von 100.000 Frauen als Basis des Institutes. »Das INAMUJER ist zu einem Instrument der Mehrheit der Frauen in diesem Land geworden.«
... oder Chávistische Kontrollinstanz?
Was die Direktorin des INAMUJER als Demokratisierung ihres Institutes bezeichnet, »um sicher zu stellen, dass die Rechte der Frauen auch auf lokaler Ebene umgesetzt werden«, kann jedoch auch zum Instrument der Kontrolle und Durchführung staatlicher bevölkerungspolitischer Programme werden. Die Regierung hat beispielsweise einen so genannten territorialen Bereich ihrer Politik definiert, der »eine ausgewogene Verteilung der Bevölkerung über das gesamte venezolanische Territorium« zum Ziel hat. Man will der unkontrollierten »Übervölkerung« der Städte begegnen und gleichzeitig die landwirtschaftliche Produktion wieder ankurbeln, die seit dem Ölboom in den 70er Jahren weitgehend brach liegt. Das INAMUJER unterstützt also im Grunde eine Umsiedlungskampagne, indem sie über ihre lokalen Institute und Treffpunkte Frauen versucht zu motivieren, aus den Armenvierteln der Städte aufs Land zu ziehen. Dafür gibt es als Anreize eine besondere Rente für Kleinbäuerinnen und Landarbeiterinnen sowie eine bevorzugte Kleinkreditvergabe der nationalen Frauenbank für ›produktive Projekte‹ von Frauen auf dem Land. Die eng mit dem INAMUJER kooperierende »Nationale Bank zur Entwicklung der Frau« (BANMUJER) wurde im März 2001 von Chávez offiziell eröffnet. Sie ist die erste halbstaatliche Einrichtung dieser Art auf der Welt und Teil des neuen weit verzweigten venezolanischen Kleinkreditwesens, das sich vor allem an Frauen richtet, um sie in den internen Marktkreislauf einzubinden. BANMUJER wird von ihrer Präsidentin, der Volkswirtschaftlerin Nora Castañeda, als Hauptinstrument zur Bekämpfung der Frauenarmut in Venezuela bezeichnet, die bei etwa 60 Prozent liegt. Die Kleinkredite zwischen 300 und 500 Euro pro Person richten sich vor allem an Frauen in extremer Armut. Gefördert werden seit Ende des Unternehmerstreikes in Übereinstimmung mit den Regierungszielen vor allem landwirtschaftliche und andere ›produktive‹ Projekte auf dem Land. Bis Ende letzten Jahres genehmigte BANMUJER 27.000 Kleinkredite für Kooperativen und Kleinstunternehmen mit maximal neun Mitarbeiterinnen. Es müssen keine Bürgschaften hinterlegt werden, sondern die Kreditnehmerinnen bürgen gegenseitig mit ihrem Wort. 15.000 Kleinkredite wurden bereits ausgezahlt und etwa 10 Millionen Euro dafür bereitgestellt.
Nora Castañeda hält die Frauenbank schon jetzt für einen großen Erfolg. Nicht nur, weil die Rückzahlungsmoral sehr gut sei, sondern vor allem, weil sie die Schaffung von Selbstbeschäftigung (autoempleo), das allgemeine Empowerment der Frauen sowie eine soziale und solidarische Ökonomie fördere. »Autoempleo bedeutet, dass du dir mit einer kleinen Gruppe selbst deine Arbeit schaffst, solidarisch arbeitest, aber auch, dass du dich selbst um deine Gesundheit und eine verantwortliche Familienplanung kümmerst«, erklärt Castañeda. »Deshalb bieten wir nicht nur Kleinkredite, sondern auch Workshops zur Projektentwicklung sowie zu reproduktiver und mentaler Gesundheit an, denn viele Frauen denken, sie hätten kein Recht auf Erholung. Sie thematisieren in der Familie nicht die Belastungen ihres dreifachen Arbeitstages im Haus, in der Gemeinde und in ihrem Projekt.« Damit trage die Frauenbank zur Entwicklung der eigenverantwortlich handelnden und partizipierenden Bürgerinnen bei, wie es die Verfassung vorsehe.
Zwar hat das Kleinkreditwesen in vielen Ländern des Südens eine beispiellose Karriere als Instrument neoliberaler Wirtschaftspolitik und Armutsverwaltung durch die Frauen durchlaufen (siehe Kasten). Dennoch kann man dessen venezolanische Variante nicht umstandslos als neoliberal bezeichnen. Denn zum einen sind die Zinsen der BANMUJER mit zwölf Prozent so niedrig, dass sie ohne staatliche Subventionen nicht einmal die Kosten der Bank decken können. Zum anderen folgt die Frauenbank mit dem Konzept des autoempleo und ihrer Kreditvergabepolitik dem in der Verfassung festgelegten Paradigma der internen, nachhaltigen Entwicklung. Der entscheidende Unterschied zu Ländern, die ihre staatlichen sozialen Sicherungssysteme abgebaut oder nie aufgebaut hatten, besteht in der Anbindung des Kleinkreditwesen an eine staatliche Politik, die die unbezahlte Fürsorgearbeit von Frauen als ökonomische Aktivität und damit ihr Recht auf soziale Absicherung anerkennt. Der mit dem Kleinkreditwesen verbundene neoliberale Empowerment-Diskurs, der sich zwar rühmt, Frauen eine »Chance« als Unternehmerinnen zu geben, dabei aber die Fürsorgearbeit von Frauen unsichtbar macht, wird im Falle Venezuelas durchbrochen.
Von kommunistischen Prinzipien ist die venezolanische Wirtschafts- und Sozialpolitik jedoch weit entfernt. "Unsere Produkte sollen wettbewerbsfähig sein, aber die Produzenten solidarisch", sagt Nora Castaneda und fügt hinzu: »Wir glauben an einen starken Staat und einen starken Markt, der vom Staat reguliert wird.« Die Vision der bolivarischen Republik Venezuela ist deshalb kein Sozialismus nach kubanischem Muster, wie es die venezolanische Opposition gerne kolportiert. Chávez' Wirtschaftspolitik kommt vielmehr dem nahe, was der philippinische Globalisierungskritiker Walden Bello in seinem Buch »Deglobalization: Ideas for a New World Economy« (2001) als »Deglobalisierung« definiert. Bello versteht darunter nicht den Rückzug aus der Weltökonomie, sondern die Umorientierung der Ökonomien von der Produktion für den Export zu einer Produktion für den lokalen Markt.
Bei der Umsetzung dieser Vision sind das nationale Fraueninstitut und die Frauenbank zugleich ideologische Dienstleisterinnen und Ideologiekritikerinnen. Nora Castañeda bringt das so auf den Punkt: »Wir kommen aus der Frauenbewegung und haben eine Gender-Vision. Das soll aber nicht heißen, dass der Staat als ganzes auch eine hat. Um diese Situation zu verändern, arbeiten wir an der Konstruktion der neuen und an der Dekonstruktion der alten Republik. Das ist nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein ideologischer Prozess.«
Stefanie Kron promoviert über Migration, Geschlecht und Entwicklungspolitik in Guatemala.
erschienen in: iz3w 274, Freiburg 2004
Venezuela: Kleinkredite - ein fortschrittliches Instrument der Armutsbekämpfung?
von Stefanie Kron
Das Kleinkreditwesen wurde in den 1980er Jahren von Mohamed Yunus in Bangladesh mit der Gründung des ersten Kreditinstitutes für Arme, der Grameen-Bank, ins Leben gerufen. In den 90er Jahren avancierte der Kleinkredit zum neoliberalen Allheilmittel im Kampf gegen die Armut auf der Welt. Zuerst USAID, dann auch die Weltbank, der IWF und internationale Entwicklungsagenturen begannen, Kleinkredit-NGOs finanziell auszustatten wie kaum ein entwicklungspolitisches Projekt zuvor.
Das mit den Kleinkrediten de facto durchgesetzte Recht der Armen auf Verschuldung wurde jedoch vor allem auch ideologisch durchgesetzt. So erklärte Yunus anlässlich des internationalen Kleinkreditgipfels, der 1997 in Washington stattfand: "Wir feiern hier die Befreiung des Kredites aus der Sklaverei der Bürgschaft. Auf diesem Gipfel sagen wir der Finanzapartheid auf Wiedersehen, erklären den Kredit zum Menschenrecht und setzen einen Prozess in Gang, der die Armut ins Museum schickt." 2001 wurde gar von den Vereinten Nationen zum Jahr des Kleinkredites ernannt. Und das Wall-Street-Journal jubelte Ende des gleichen Jahres: »Grameen beweist, dass der Kapitalismus ebenso für die Armen funktionieren kann, wie für die Reichen!« Heute gibt es in über 60 Ländern der Welt Kleinkreditsysteme nach dem Muster der Grameen-Bank.
Feministische Ökonomiekritikerinnen wie die Mexikanerin Ximena Bedregal haben das Kleinkreditwesen, das sich in allen Ländern und in all seinen Formen vorrangig an Frauen richtet, in den letzten Jahren scharf kritisiert. Bedregal argumentiert in einem Beitrag mit dem Titel »Kleinkredite: globale Politik, um die armen Frauen auf dem Weltmarkt zu vereinen« (in: Triple Jornada, Nr. 34, 4. Juni 2001), dass die Ideologie des Kleinkreditwesens letztlich eine Individualisierung der Schulden bedeute. Die sozialen ›Schulden‹, die viele Länder des Südens aufgrund der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der 70er und 80er Jahre bei großen Teilen ihrer Bevölkerungen angehäuft haben, um den monetären Schuldenkrisen zu begegnen, werden über den Kleinkredit in eine individuelle Verschuldung umgewandelt. Wo keine staatlichen sozialen Sicherungssysteme mehr existieren, vermittelt das Mikrofinanzierungswesen: Wenn du es mit einem Kleinkredit nicht schaffst, bist du für Scheitern und Armut selbst verantwortlich. Dass die Banken und Mikrofinanzierungseinrichtungen mit dem Kleinkreditwesen den Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen der Armen erhalten haben und teilweise Zinsen nehmen, die über den marktüblichen liegen, wird selbst von Frauenorganisationen kaum mehr thematisiert. Seit der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 werden das Empowerment und die ökonomischen Rechte von Frauen quasi mit dem Recht auf einen Kredit gleichgesetzt. Bedregal macht jedoch darauf aufmerksam, dass im Kontext neoliberaler Wirtschaftspolitik das Kleinkreditwesen die Frauen nicht nur zu Verwalterinnen der Armut, sondern auch zu (Welt-)Marktsubjekten zurichtet. Denn weil der Kleinkredit zurück gezahlt werden muss, ist die Finanzierung eines Projektes zur Selbstversorgung nicht möglich. Die Frauen sind gezwungen, Projekte zu initiieren, deren Produkte oder Dienstleistungen in den Marktkreislauf eingebracht werden können. Am Beispiel der Grameen Bank weist Bedregal zudem nach, dass es vor allem Frauen sind, die Kredite für den Ausbau der kommunitären sozialen Infrastruktur aufnehmen - und sich damit zugunsten der Allgemeinheit individuell verschulden.
Der Fall der Grameen-Bank zeigt aber auch, dass der Mikrokredit zum neoliberalen Kontroll- und Disziplinierungsinstrument werden kann. So lässt Yunus mit Hilfe lokaler PromotorInnen und NGOs nicht nur die Schulden eintreiben, sondern über die Vergabe eines Kleinkredites sind auch Bedingungen zur Teilnahme an Kursen über Hygiene, gesunde Ernährung, Familienplanung und sparsames Haushalten geknüpft. Bedregal bezeichnet diese Praxis als zynisch. Sie fragt: »Was würden die Mitglieder dieser NGOs sagen, wenn die Vergabe eines Kredites für ein Auto daran geknüpft wäre, das Rauchen aufzugeben, regelmäßig die Zähne zu putzen oder Kondome zu benutzen?«
erschienen in: iz3w 274, Freiburg 2004
Venezuela: Von unten und von oben
Drei neue Bücher zu Venezuela
von Günter Pohl
Eines der zentralen Themen der drei nahezu gleichzeitig im Frühjahr erschienenen Bücher über den bolivarianischen Prozess in Venezuela ist der Putsch gegen die Regierung von Präsident Hugo Chávez im April 2002. Dass es vorher kaum eine (deutsche) Sicht auf den Prozess - außerhalb von Venezuela, und so auch von den Autoren, häufiger "Revolution" als dort selbst genannt - gab, gibt nicht nur Aufschluss über die Verfasstheit der hiesigen Linken, sondern auch über das Artikulationsproblem der venezolanischen Regierung in einem Land, dessen Medien fest in der Hand der rechten Opposition sind. Mit dem Putsch, d. h. viel mehr mit seinem Scheitern, rückte das Land in das internationale Blickfeld. Die in den Büchern vorgenommene Annäherung an das Thema Venezuela entspricht weitgehend der politischen Herkunft der Herausgeberin Sahra Wagenknecht sowie der Autoren André Scheer und Raul Zelik.
Raul Zelik, dem die Freude am Schreiben anzumerken ist, orientiert sich bei seiner Beschreibung an den Basisbewegungen, die die Regierung Chávez tragen. Nicht von ungefähr wählt er die Reportage als Transportmittel seiner Gedanken. Erfreulich ist dabei, dass er die LeserInnen an seinem eigenen Erkenntnisprozess gegenüber dem Modell des neuen Venezuela und der dabei zentralen Figur Hugo Chávez teilhaben lässt. Raul Zelik, dessen Buch von einer Architektur-Bildreportage über Caracas ergänzt wird, nimmt sich Zeit mit der Bewertung dessen, was er selbst anfangs nicht versteht und was er der Leserschaft auf eine ebenso Widersprüche produzierende wie sie zuweilen kurz darauf auflösende, zuweilen als Frage stehen bleibende Art näher bringen will. Dagegen ist schade, dass er eigene (immerhin selbstkritisch zugestandene) bisherige Versäumnisse wie z.B. die unterschiedlich vorzunehmende Einordnung des Nationalismus in abhängig gehaltenen und in imperialistischen Ländern gleich allen »Linken in Deutschland« mit ankreidet. Raul Zelik gerät oft selbst in den Mittelpunkt des Geschehens und auch »tue Gutes und rede darüber« empfindet er offenbar nicht als Ironie, sondern als Mission. Die Leserin/der Leser wird immer wieder mit Zeliks Guerillaerfahrung, seinem KLM-Vielfliegerbonus oder dem Umfang seiner Literaturkenntnisse konfrontiert, was etwas die Lesefreude schmälert, nicht aber den Erkenntnisgewinn. Den Prozess von unten erklärt zu haben und jenes »Das hat uns Chávez beigebracht« einmal auf Seite 55 erwähnt, aber dennoch in immer neuen Facetten durchgängig neu erklärt zu haben, ist das Verdienst dieses sehr lesenswerten Buches.
Was von Sahra Wagenknechts »Aló Presidente« gar nicht zu sagen ist. Dieses Buch ist eine Aneinanderkettung von Interviews und Reportagen, die bereits größtenteils in den letzten Monaten in diversen Zeitungen und Zeitschriften zu lesen waren. Guten Beiträgen wie von Dario Azzelini oder Marta Harnecker stehen äußerst fragwürdige wie die von Ralph T. Niemeyer gegenüber, für den beispielsweise der Plan Colombia nichts anderes als ein »Codewort für die Stationierung von US-Soldaten in Arauca« ist. Journalistische Freiheit lässt den Autor auch kolportieren, an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze seien etwa 20 000 US-Soldaten stationiert: Hier müssen kolumbianische Guerilla und venezolanische Regierung versäumt haben, die Weltöffentlichkeit zu informieren. Auch der Text von Sahra Wagenknecht »Sieben Tage in Caracas« verrät wenig über Caracas, aber viel über Eindrücke bei erstmaligem Lateinamerikakontakt, was für sich genommen nicht uninteressant ist - aber zu einem VHS-Diavortrag und nicht in ein Buch gehört, das den (auch nicht richtigen) Anspruch hat, das »erste über das neue Venezuela« zu sein. Erheblich besser gelungen ist ihr der Text zur venezolanischen Erdölpolitik. Sahra Wagenknechts Kenntnisse der politischen Ökonomie sind unbestritten: Sie sollte sich diesen Themen widmen statt nach politischem Tourismus Bücher zu verfassen. Zudem wäre für die Endredaktion jemand mit ausreichenden Spanischkenntnissen zu bevorzugen gewesen - die Fehlerquote bei den spanischen Wörtern ist sehr hoch.
André Scheer hat zwar erst jetzt ein Buch über den »Kampf um Venezuela« herausgegeben, ist aber einer von einer Hand voll Menschen in Deutschland, die den bolivarianischen Prozess schon seit 1999 solidarisch unterstützt und zahlreiche Artikel zum Thema verfasst haben. Sein umfangreiches Wissen listet er nüchtern auf, ohne den Anspruch auf literarische Besonderheiten zu legen. Wo Raul Zelik den Prozess »von unten« erklärt, tut es André Scheer "von oben", indem er nicht nur Personen, sondern auch Parteien, Gewerkschaften und andere politische Organisationen als Akteure anerkennt. Mehr als in den anderen Büchern wird auf die Rolle Bolívars eingegangen. André Scheer und Raul Zelik haben zwei sehr unterschiedliche Bücher geschrieben, die sich aber geradezu ideal ergänzen.
Die Frage, ob es sich in Venezuela um Reform oder Revolution handelt, bewegt alle drei Bücher. Ob bei Raul Zelik Gramsci oder bei Sahra Wagenknecht und André Scheer Marx Kronzeuge ist: Venezuelas Vizepräsident José Vicente Rangel fasst es in "Kampf um Venezuela" so zusammen: »Wir haben den Reichen nicht ihr Häuschen genommen, aber die Macht, sich Regierungen anzueignen!«
Litratur
- Made in Venezuela - Notizen zur »Bolivarianischen Revolution« Raul Zelik/Sabine Bitter/Helmut Weber, EUR 13,00
- Aló Presidente - Hugo Chávez und Venezuelas Zukunft, Sahra Wagenknecht, EUR 12,90
- Kampf um Venezuela - Hugo Chávez und die bolivarianische Revolution, André Scheer, EUR 12,90