FernWeh: Über die Hälfte aller Fotos werden auf Reisen gemacht. Was anderswo zu sehen ist, scheint eher ein Foto wert, als der ganz normale Alltag. Was ist der klassische Urlaubsblick auf Menschen?
Marily Stroux: Es gibt verschiedene Urlaubsblicke: Der eine ist der ICH-WAR-DA-Blick, also wenn die Leute sich in einer fremden Landschaft gegenseitig fotografieren – ein bisschen als Beweis, dass sie da waren. Ich hab’ mal vier Fotoalben einer älteren Dame angeschaut. Auf allen Bildern standen sie und ihre Handtasche. Nur der Hintergrund war immer unterschiedlich. Im letzten Fotoalbum war sie alt und offensichtlich im Altersheim, ließ sich aber weiterhin mit ICH-WAR-DA-Fotos festhalten.
Der andere touristische Blick ist der auf Architektur, Kirchen, Denkmäler und alles was die Daheimgebliebenen später beeindrucken wird. Dabei wirken Einheimische und Vorbeigehende störend. Auch die TouristInnen sind seltsam rücksichtsvoll miteinander, damit sie den anderen nicht im Bild stehen.
Die meisten TouristInnen sind scheu, Menschen und insbesondere Einheimische zu fotografieren. Aber einige haben diese Scheu nicht. Und da fängt oft der Rassismus an, in der Art wie sie fotografieren: Gehst du zu den Menschen hin, stellst einen Kontakt her, redest mit ihnen und fragst dann, ob du ein Foto machen kannst – oder siehst du die Menschen nur als lebendigen Punkt, der gut in deine Kulisse passt, damit dein Foto ‘lebendiger’ wird!
FW: Das Ablichten der Menschen als lebendige Punkte, ist das bereits rassistisch? Welche Fotos sind überhaupt rassistisch?
MS: Die Haltung eines Menschen drückt sich in den von ihnen gemachten Fotos aus. Es gibt viele Arten von Fotos, die ich nicht schätze, wie die geklauten Momente mit Teleobjektiv von ganz weit weg oder von ganz nah. Die Bilder, wo du merkst, dass der fotografierte Mensch zum Objekt gemacht wird. Wenn du einen Menschen von weit weg mit dem Teleobjektiv fotografierst, dann ist dieser Mensch ohne sein Wissen auf dem Bild zum Anfassen nah. Für die, die sich mit Fotografie auskennen, ist die vorgetäuschte Nähe und Intimität sichtbar, für sensible BetrachterInnen ist sie spürbar. Wenn man aus einem halben Meter Entfernung das Gesicht seines Gegenübers mit einem Teleobjektiv fotografiert, dann hat man ein Bild gemacht, als ob man die Fotografierte berühren würde.
Gerade für Reisende sind aber Fotos nicht nur Mittel zum Zwecke der Dokumentation, sondern auch Produkte ästhetischen Empfindens.
Wenn Fotomotive aus ästhetischen Gründen gesucht werden, so werden Menschen für eben diesen Zweck funktionalisiert. Ob nun Werbung dahinter steht oder einfach nur Ästhetik, ob damit Geld gemacht wird oder nicht, das ist egal – die Haltung beim Fotografieren ist die Gleiche.
FW: Haben die Fotografierten nicht auch noch nach der Kontaktaufnahme Objektcharakter? Schließlich dient ein solcher Kontakt oft nur dem Bild...
MS: Ja, das stimmt. Selbst wenn ich im Gespräch mit den Leuten bin, die ich fotografiere, und ich ein Verständnis von ihrer Situation entwickelt habe, ist danach auf dem Bild hauptsächlich mein Blick auf diese Situation und die Menschen zu sehen. Aus diesem Dilemma heraus habe ich vor sechs Jahren die Idee mit den Tafelfotos entwickelt. Tafelfotos sind Bilder von Menschen, die auf eine kleine Kreidetafel ihre eigenen Gedanken oder eine Antwort auf eine Frage, die ich gestellt habe, aufschreiben und sich dann mit ihrer Antwort fotografieren lassen. Dadurch werden sie aktiv, sie geben eine Nachricht an die BetrachterIn und werden nicht mehr als Objekt betrachtet.
FW: Was ist ein gutes Foto?
MS: Ein Bild, das zum Nachdenken anregt, das Assoziationen im Kopf der BetrachterInnen hervorruft oder irritiert. Für mich ist ein Foto gut, wenn es mich berührt, für einen anderen, wenn es technisch perfekt ist. Ich fotografiere, weil ich das, was ich sehe und dabei empfinde, auch für andere sichtbar machen möchte. Für mich muss ein Bild, auch wenn es für eine große Öffentlichkeit gedacht ist, nicht großformatig sein. Bilder in Kleinformat haben für mich etwas Geheimnisvolleres und Persönlicheres. Mich interessieren sie viel mehr. Aber grundsätzlich ist für mich der Inhalt viel wichtiger als das Format oder der Kontext.
FW: Du hast gerade die Tafelfotos erwähnt. Welche Möglichkeiten gibt es noch in deinem Sinne, ‘gute Bilder’ zu machen?
MS: Eine Möglichkeit ist, gemeinsam mit den Fotografierten eine Fotoidee zu entwerfen und umzusetzen. Die Postkarten mit Jackson, einem Flüchtling in Hamburg, sind ein Beispiel. Die Idee zu den Postkarten haben Jackson und ich entwickelt. Er aus seiner Sehnsucht, ein Porträt von ihm mit Hamburg-Hintergrund zu haben, am liebsten als Poster. Das Bild als Beweis, dass er da war und als Erinnerung für später und für seine Freunde zu Hause. Jackson ist als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Er wollte den ICH-WAR-DA-Blick als Flüchtling. Allerdings steckt hinter diesem Blick eine ganz andere Geschichte als bei den klassischen Urlaubsfotos. Schließlich geht es nicht darum, den Ort mitnehmen und eigentlich wieder weg und woanders hin zu wollen, sondern es geht ganz existentiell darum, überhaupt zu sein, also das Recht auf die eigene Existenz an einen tatsächlichen Ort zu knüpfen – nicht länger im Nicht-Ort unsichtbar zu bleiben. Als ich dabei war, das Foto zu machen, wurde er festgenommen und musste monatelang im Abschiebeknast sitzen. Dann habe ich eine ganze Reihe von Postkarten gemacht mit Texten, die er mir auf Video erzählt hatte.
FW: Auf diesen Fotos wird die Interaktion zwischen Dir und den Fotografierten ganz gezielt offengelegt, um der rassistischen Wahrnehmung zu begegnen. Geht das auch auf Reisen?
MS: Wenn ich ein Bild von jemandem sehe, der böse schaut, interpretiere ich es so wie ich es verstehen kann. Die eigene Geschichte macht den besonderen Blick jedes Einzelnen aus, beim Betrachten ebenso wie beim Fotografieren. Du hast mehrere Leute, die das gleiche fotografieren, und auf den Bildern siehst du unterschiedliche Sachen. Der eigene Blick sind die Gedanken, die sich der fotografierende Mensch macht, seine Erfahrungen, seine Haltungen – und das bestimmt den Blick.
Rassismus zu dokumentieren sollte überall möglich sein, doch ein Hindernis auf Reisen ist, dass du meistens in einem fremden Land bist, wo du die kulturelle Bedeutung nicht richtig erkennen kannst, weil du sie aus deinem Verständnis interpretierst. Und weil man weniger Zeit hat als zu Hause, weniger Ruhe zum Nachdenken. Da können Missverständnisse viel besser wirken. Wenn man sich die Situation, in der man auf Reisen fotografiert, später selber als Außenstehende anschauen könnte, dann würde einem in den meisten Fällen das Foto nicht mehr gefallen: Das Foto selbst stimmt vielleicht, aber die Situation stimmt irgendwie nicht. Es ist ein Unterschied, ob du mit einem deutschen Pass und einem Rückflugticket in der Ferne das Fremde suchst und dich dabei erholst oder ob du in deinem Alltag offen für Menschen mit anderen Geschichten als deiner eigenen bist. Ich finde es wichtiger, da wo man lebt, genauer zu gucken, weil zu Hause die Möglichkeiten sich aktiv für Veränderungen einzusetzen, viel größer sind.
FW: Sind denn die auf Reisen Fotografierten immer nur passiv, nur einheimische Abgelichtete?
MS: Langsam fangen die Einheimischen an, zurückzuschlagen, wie zum Beispiel sehr schön in dem Film »Cannibal Tours« von Denis O`Rourke zu sehen ist. Hier lassen sich die Einheimischen für die fotographischen Bedürfnisse der TouristInnen nackt mit Totenköpfen ablichten. Die Leute haben für sich entschieden, wenn die TouristInnen das brauchen, dann machen wir es mit – aber nur gegen Geld. Aber viele sind dabei verbittert – und das zeigen sie auch auf den Fotos.
Ganz ähnlich verhält sich ein alter Mann auf der Akropolis in Tsoliasuniform. Eigentlich sind das immer große schicke Typen, die diese traditionelle Militäruniform tragen – der alte Mann fällt da ziemlich aus der Reihe. Als die Urlauber ihn fotografieren wollen, beschimpft er sie, dreht er sich weg und schreit: »Erst zahlen!« Erst wenn er das Geld in die Hand hat, stellt er sich schnell hin, ganz kurz nur, damit kein Mensch ihn währenddessen umsonst fotografiert. Das ist seine einzige Möglichkeit, aus der reinen Objektposition selber herauszukommen und etwas davon zu haben. Aber mürrisch ist er dabei schon, und das zeigt er auch.
FW: Wie ist es, wenn die TouristInnen von sich aus Geld geben, ohne danach gefragt zu werden?
MS: Je ärmer die Leute – beispielsweise in Griechenland –, desto bedeutsamer wird für sie Gastfreundschaft, desto undenkbarer und beleidigender ist es, Geld für etwas zu bekommen, das sie anbieten. Urlauber hingegen sind es gewohnt, dass fast alles durch Geld geregelt wird. Die TouristInnen kompensieren durch das Geben von Geld ein Wegnehmen von etwas, wollen irgendwie ein offensichtlich nicht vorhandenes Gleichgewicht herstellen. Aber gemessen am professionellen Fotobusiness – sprich, wenn Leute ihren Unterhalt als Model verdienen – müssten sie eine ganz andere Summe bezahlen.
FW: Urlauber verstehen sich also auf Reisen und beim Besuch anderer Länder ohnehin als Gebende und nicht als Nehmende?
MS: Sicher, und da gibt es Parallelen zur Haltung von deutschen Diplomaten: Kürzlich wurde in Athen der Botschafter der BRD von Opfern der Nazidiktatur mit Entschädigungsforderungen konfrontiert. Er antwortete, dass die deutschen TouristInnen in den vielen Jahrzehnten, die sie in Griechenland Urlaub machen, die Wiedergutmachung doch bereits geleistet hätten.
Fotografie ist zu einem festen Bestandteil technisierter Kulturen geworden, zu einem so selbstverständlichen Segment unserer Gesellschaft, dass wir sie als solche oft gar nicht mehr wahrnehmen. Dabei haben die Bilder den Blick auf die Welt radikal verändert. Eine – immer noch – steigende Bilderflut aus Werbe-, Nachrichten- und Privatfotos bestimmen unsere Sicht auf die Gegebenheiten dieses Universums.
Die Durchdringung unserer Welt mit dieser visuellen Macht verdeutlicht, dass fotografische Bilder nicht einfache Abbilder der Realität sind. Sie dürfen nicht mit dieser verwechselt werden. Technisch gesehen reduziert ein Foto die vier Dimensionen der Wirklichkeit – Höhe, Breite, Tiefe, Zeit – auf die zwei Dimensionen des Fotopapiers. Verloren gehen dabei bestimmte Sinneseindrücke wie Laute, Gerüche oder Oberflächenstruktur. Zudem ist jedes Foto eine Momentaufnahme, d.h. ein Augenblick wird festgehalten. Dies ist für die menschliche Wahrnehmung, welche immer im Fluss ist und niemals anhält, eine ungewöhnliche, auch anziehende Situation. Nicht nur die Zeit wird beim Foto beschnitten, sondern auch das, was ein Fotografierender in einer ganz bestimmten Situation sehen kann: er wählt einen kleinen Ausschnitt aus dem, was möglich wäre. Die abgelichtete Realität wird so vom Fotografen hergestellt, abhängig vom Standort desselben und von dem, was weggelassen wird.
Romantische Landschaftsaufnahmen entstehen beispielsweise häufig durch das Weglassen zivilisationsträchtiger Störungen, durch eine gekonnte Ausschnittsauswahl oder dadurch, dass unpassende Bildelemente durch Unschärfe kaschiert werden. Ein Foto ist auch von der Person des Fotografierenden und seinen praktischen Handlungen und psychischen Einstellungen abhängig. Spezielle Bedingungen, wie der Nutzungskontext der Bilder oder (wechselnde) Moden, beeinflussen eine fotografierende Person – sei es bewusst oder unbewusst.
Die touristische Aneignung von Fremdkulturellem verläuft hauptsächlich über ritualisierten Symbolkonsum. Universelle Formen von touristischem Symbolkonsum sind etwa das Sonnenbaden am Strand als Inbegriff eines erholsamen Urlaubs, das Essen und Trinken oder der Erwerb von Ansichtskarten und Souvenirs. Zentraler Faktor des ritualisierten Symbolkonsums von Touristen ist die Aneignung des Gesehenen durch Fotografie und Film. Folgende statistische Daten unterstützen die These von der zentralen Bedeutung der Fotografie innerhalb des touristischen Erlebens: Vier von fünf Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland verfügen über einen Fotoapparat. Nach Auskunft des Vorsitzenden des Fotoindustrie-Verbands, Wolfgang König, entstehen 50 Prozent aller Bilder im Urlaub.
Das naheliegendste Motiv auf Reisen zu fotografieren, ist das Festhalten der Urlaubszeit über den erlebten Zeitraum hinaus. Beim Betrachten von Fotografien wird der Produzent der Bilder an die Entstehung der Aufnahme erinnert. Er assoziiert einen Teil seiner Lebensgeschichte. Die Erinnerungsstücke, die den Urlaub betreffen – dies können neben Fotos auch Souvenirs wie Fahr-, Post- und Eintrittskarten sein – werden sorgfältig aufbewahrt. In der Regel werden sie als Zeichen eines herausragenden Ereignisses in die Bildersammlung von Familienfesten und anderen Lebenshöhepunkten eingereiht. Beim Betrachten werden die Situationen wieder durchlebt. In diesem Sinne stellt Christoph Hennig fest: Das »Foto schafft die Gegenwärtigkeit des Abwesenden. Es ist daher geeignet, die außergewöhnliche Erfahrung des Urlaubs zu fixieren und nach Hause zu transportieren. Die Erfahrung der Reise verlängert sich mit seiner Hilfe in den Alltag hinein und hellt ihn auf.« Während die sonnengebräunte Haut als äußeres Zeichen eines erholsamen, beneidenswerten Urlaubes nach einiger Zeit verblasst, sind Fotos, die eine Reise beweisen, von Dauer und können jederzeit präsentiert werden. Die Urlaubsbilder stellen subjektive Ausschnitte der Realität dar, sind also keineswegs eine Chronik des Erlebten. Misslungene Bilder werden aussortiert, was bleibt sind schöne Erinnerungen, eine »Idealisierung der Vergangenheit« (Thurner).
Das Festhalten am Fotoapparat vermittelt Sicherheit. Inmitten der Unsicherheit, die die Fremde bedeutet, besitzt der Reisende ein Objekt aus seiner bekannten Welt, an welchem er sich festhalten kann. In einer gefährlichen Situation verschafft sich der Tourist mittels seines Fotoapparates ein stabilisierendes Element. Die als bedrohlich empfundene Fremde kann gemildert werden, denn wenn der Tourist die Linse seiner Kamera vorschiebt, braucht er sie nicht direkt mit seinen Augen anzuschauen.
Bildmotive können nur aus einer bestimmten Entfernung heraus abgelichtet werden. So kann Bedrohliches, sei es eine unbekannte exotische Landschaft, wilde Tiere oder unbekannte Menschen, auf Distanz gehalten werden. Ein Sicherheitsabstand bleibt gewahrt – allerdings einseitig für den Reisenden. Die abgelichteten Motive kann der Tourist mit Hilfe des Zooms ganz nah heranholen, ohne dass er sich dabei in eine mögliche Gefahr begibt. Er, der in der Distanz bleibt, zieht die Bildmotive zu sich, ohne auf den oder die Fremde zugehen zu müssen.
Die beschriebene Ambivalenz – einseitiges und verdecktes Aufgeben der Distanz – führt beim Aufnehmenden zu einem unbestimmten »Angst-Lust-Gefühl«. Der Tourist ist Dank entsprechender Technik in der Lage, Bildmotive abzulichten, was ein Eindringen in eine Privatsphäre anderer Menschen bedeutet. Davon scheint er ausgiebig Gebrauch zu machen. In meiner Studie wurde deutlich, dass rund die Hälfte der fotografierenden Keniaurlauber einheimische Menschen ablichten, die nicht immer um Erlaubnis gefragt werden. Ist nun eine unbemerkte Aufnahme gelungen, stellt sich ein Triumpfgefühl ein. Man hat verbotene Einblicke gewonnen, vielleicht innerhalb von intimen oder tabuisierten Szenen. Die Einblicke sind festgehalten und werden zum persönlichen Eigentum. Man bemächtigt sich der einheimischen Menschen, Tiere und Landschaften, indem sie auf die Weise abgelichtet werden, die den eigenen Wünschen und Vorstellungen entspricht.
Fotografie ist ein aggressiver Akt, auch wenn er verdeckt geschieht. Dies verdeutlichen bereits die sprachlichen Synonyme, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Fotografierens verwendet werden. Man »schießt« Fotos, fertigt »Schnappschüsse« an, betreibt eine »Fotojagd«... Zuhause werden die »Jagdtrophäen« nicht mehr an die Wand gehängt, sondern mittels Diaprojektor an diese projiziert. Der Prestigegewinn bleibt der gleiche. Jäger fragen das Wild, welches sie »abschießen«, nicht um Erlaubnis. Ähnlich verhält es sich bei den fotografierenden Touristen. Sie nehmen sich die Freiheit abzulichten, was ihnen vor die Linse kommt, ganz bewusst in Kauf nehmend, die Persönlichkeit anderer Menschen zu verletzen. Besonders deutlich wird dieses Verhalten, wenn die Urlauber selbst zu Wort kommen – etwa bei Ellen Krüger, die sieben Amateurfilmer und -fotografen zu ihrem Fotografierverhalten während touristischer Reisen interviewte. Im Folgenden lasse ich deshalb die Touristen, so oft wie möglich, selbst zu Wort kommen, sie beschreiben und kommentieren ihre eigenen Handlungsweisen.
»Was mich immer wieder fasziniert ... sind Gesichter. Da bin ich schamlos. Ich frag’ da nicht lang, ich fotografier’ die Leute. Meistens hab’ ich Glück, ich bin noch nie vertrimmt worden«, berichtet ein von Ellen Krüger interviewter Urlauber. Ein anderer befragter Tourist lichtete, obgleich er sich bewusst war, eine unerlaubte Handlung zu begehen, Frauen auf einem Markt in Israel ab. Obwohl er anschließend vor einer aufgebrachten Menschenmenge flüchten musste, fotografierte er nachfolgend strenggläubige Juden an der Klagemauer. »Ich hab’ dann also später drauf geachtet, dass mich möglichst niemand sieht. Aber ich hab’ dann fotografiert, weil ich geradezu fasziniert war von diesen Motiven, die sich da geboten haben.« Die »Motive«, die abzulichten ihre persönlichen Interessen symbolisieren, stellen die Fotografen über die Persönlichkeitsrechte anderer Menschen. Rassistische Strukturen in diesem Verhalten kommen dann zum Ausdruck, wenn lediglich außereuropäische Völker unerlaubt fotografiert werden. »Also, hier in Europa frag’ ich dann doch meistens schon mal anstandshalber.« Eindeutig kann hier eine Differenz im Verhalten konstatiert werden: Aufgrund seiner ökonomischen Potenz ist der Tourist nicht nur in der Lage, ärmere Länder zu bereisen, sondern ebenfalls die einheimische Bevölkerung – in diesem Fall fotografisch – auszubeuten. Europäer werden bezüglich einer fotografischen Aufnahme um Erlaubnis gebeten, Nicht-Europäer keineswegs. Damit findet, im Sinne Albert Memmis, eine Wertung statt, die auf den Privilegien des Europäers beruht – und dessen Vorrechte stabilisiert – die nicht-europäischen Bevölkerung ist lediglich Motiv.
In vielen Fällen nutzen die Reisenden das ökonomische Ungleichgewicht, um zum Ziel ihrer Wünsche zu kommen. Ein deutscher Tourist, der in Kenia seinen Urlaub verbringt, erzählte mir von drei kleinen Kindern in Nairobi. »Die spielten da. Einer aus unserem Bus wollte sie fotografieren. Da kriegten die Angst, machten die Hände vor’s Gesicht und versteckten sich. Unser Bekannter zeigte einen Schilling und da kamen sie langsam wieder und ließen sich fotografieren.« Anstatt die Furcht der Kinder vor dem Ablichten zu thematisieren – die unter der muslimischen Bevölkerung in Ostafrika weit verbreitet ist, befürchten diese doch man würde ihnen beim Fotografieren ein Stück ihrer Persönlichkeit oder Seele nehmen – rechtfertigt der Tourist im Folgenden das Verhalten innerhalb der Reisegruppe mit negativen Charaktereigenschaften der Kinder. »Die sind schon ziemlich gewitzt und auf Geld aus.« Die Urlauber sind kaum an den realen Lebensbedingungen der bereisten Bevölkerung interessiert. Vielmehr werden offensichtliche Tatsachen verdrängt – hier die materielle Not der Kinder, die aufgrund finanzieller Sorgen ihre Angst überwinden müssen – um eigene Wünsche zu befriedigen.
Urlauber lichten in exotischer Fremde bevorzugt Kinder ab, da diese noch nicht bedrohlich fremd wirken wie die Erwachsenen. Beim Fotografieren von Kindern hält sich das schlechte Gewissen meist zurück, weil man ihnen noch weniger einen Subjekt-Status zugesteht als den fremden Erwachsenen. Viele Touristen jedoch verspüren ein Unrechtsgefühl beim Ablichten von erwachsenen Menschen. »Ich hab’ immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Leute fotografiere. Aber da ist dann die Neugierde, die ist dann manchmal intensiver (lacht)« (Krüger). Das Lachen der Befragten zeigt eine gewisse Unsicherheit in der Einschätzung des eigenen Verhaltens. Stärker noch reflektiert ein anderer befragter Urlauber sein schlechtes Gewissen beim Fotografieren von Menschen. »Da ist eine Spannung, die ich in mir spüre, weil es ja eigentlich ... man tritt in die private Sphäre ein. Es gibt ja auch ein Recht auf das eigene Bild. Ich stelle ein Bild her, was diese Menschen nie sehen und das ist, da tritt man schon in Rechte anderer Menschen ein.«
Ähnlich verhält es sich mit dem schlechten Gewissen eines weiteren Befragten: »... ich meine, was nehmen, wann nehmen wir Mitteleuropäer fremde Menschen auf? Weil wir sie irgendwo exotisch empfinden. Das ist ja meistens dann das Motiv. Und das hat natürlich auch immer so unterschwellig so’n bisschen einen, ja so’n Zooeffekt, und da hab’ ich schon ‘n bisschen immer ‘n schlechtes Gewissen, muss ich ganz offen sagen. Also, ich mag das nicht so sehr gerne.« Mit diesem Zitat öffnet sich erneut eine Tür zum Rassismus. Mit dem »Zooeffekt« verweist der Tourist ungewollt auf die Tradition der Völkerschauen, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Großbritannien als Mutterland vieler Kolonien, sondern ebenfalls über mehrere Jahrzehnte in Mitteleuropa üblich waren und in welchen nicht nur Tiere in zoologischen Gärten ausgestellt wurden, sondern ebenfalls Menschen aus fremden Ländern. Damals war es gebräuchlich, diese Menschen unter anthropologischen Gesichtspunkten zu vermessen – auch zu fotografieren – und in eigens dafür entwickelten »Rasseskalen« einzuordnen. Heute geschieht die Einordnung von Merkmalen zur Bestimmung der ‘Rassezugehörigkeit’ nicht mehr, dennoch ist, wie die Äußerung zeigt, immer noch eine heimliche geistige Unterscheidung in verschiedene Sorten Menschen vorhanden.
Fotografien sind immer geprägt durch die Vorstellungen, Wunschbilder und Images, die die Gesellschaft durch verschiedene Medien transportiert. Vor einer Reise steht stets die Fiktion. Während einer Reise hat dann das Wiedererkennen eine zentrale Bedeutung, selten geht es darum, etwas vollständig Neues zu entdecken. Fiktionale Welten werden sinnlich erlebt, ohne dass Dinge zugelassen werden, die der eigenen Erfahrung widersprechen. Eine bestimmte Auswahl von Motiven innerhalb der Reisefotografie bestätigt dies. Urlauber filmen und fotografieren überwiegend »allgemein definierte Sehenswürdigkeiten; ästhetisiertes Elend und natürliche Armut oder exotische bzw. romantische Traum- und Sehnsuchtsmotive (Sonnenuntergang), die durch Eliminierung von zivilisatorischen Störfaktoren zustande kommen« (Schneider). So transportieren Fotos von Kindern – mehr noch als von Erwachsenen – oft das Bild der ‘glücklichen Wilden’, die in ihrer unschuldigen und anspruchslosen Armut uns zivilisationsverdorbene Europäer anklagen: Ihr habt euch so weit vom Paradies entfernt. Auf der anderen Seite entbindet uns der ‘glückliche Wilde’ von jedweder Verantwortung, da er zwar arm, aber glücklich ist, benötigt er weder unsere Solidarität noch unsere Unterstützung.
Neben der Idealisierung von Armut als Glücklichsein transportiert das Bild des ‘glücklichen Wilden’ aber auch eine gewisse Abwertung der Fremde. Indem die Fotografierten als rückständig eingestuft werden, erfahren die Reisenden eine Erhöhung: gesellschaftliche Normen, die eigene Kultur und Lebensweise werden bestätigt. Die Ausnutzung der Fremde, die nur der Projektion eigener Wahrnehmungsmuster dient und eine Aneignung von Fremdem verhindert, trägt neokolonialistische Züge, die indigene Kultur wird hier wie dort persönlichen Interessen unterworfen.
Indem die Fotomotive der Touristen nicht die Realität des bereisten Landes widerspiegeln, sondern nur ganz bestimmte und spezielle Situationen einer Reise einfangen, findet eine Auswahl statt, und diese geschieht in gewisser Weise, d.h. nur glückliche Momente werden festgehalten. Eine so gelenkte Inszenierung der Fremde ist in der Lage, prestigeträchtige Neidgefühle bei Freunden und Verwandten hervorzurufen. Eigene Betrachtungen färben die Reisen von Jahr zu Jahr schöner, so dass deren Prestigewert nicht nur bleibt, sondern sich vermehrt.
Was geschieht nun, wenn Urlauber über den Akt des Fotografierens ins Gespräch mit den Bereisten kommen? Ist dann eine Kommunikation zu beobachten, die beiden Seiten Vorteile bringt? Es gibt nur wenige authentische Aussagen. Eine weitere Interviewpartnerin Ellen Krügers erzählt von Kontaktaufnahmen mit einheimischen Menschen, die aufgrund des Fotografierens entstehen. »Und ich red’ auch mit den Leuten, gerne sogar. Dann freuen sie sich. Und dann kommt so’n bisschen Kontakt dazu und dann hat das Bild auch wieder n’ bisschen mehr Aussagekraft.« Sie kommuniziert nicht mit den Einheimischen, um etwas über die bereisten Menschen und ihr Land zu erfahren, sondern um ihre Fotos zu verbessern. Eindeutig rangieren die Einheimischen auch in ihren Gedanken als pittoreske Fotoobjekte, nicht als gleichberechtigte Partner, an deren Gedanken und Lebenssituation ein Interesse besteht.
In vielen Fällen unterbindet die Handlung des Ablichtens geradezu eine Kommunikation und reißt unüberbrückbare Gräben auf. So betrachtet, haben sich die Aussagen, die die Bilder von Reisenden enthalten, in den vergangenen hundert Jahren nicht grundlegend verändert. Vielleicht, und das ist real und im übertragenen Sinne bildlich gemeint, vielleicht sind sie unschärfer geworden.
Schon lange wird der Fotografie nicht mehr bloßes Abbilden der Wirklichkeit oder gar Objektivität zugesprochen. Fotos entstehen zufällig, die Auswahl der Details unterliegt subjektiver Betrachtung und den Verlockungen technischer Möglichkeiten, Bilder zu verändern. Spätestens seit dem massenhaften Gebrauch der Digitalfotografie ist Wirklichkeitsinterpretation durch die Linse eine relative geworden. Digitales Fotografieren ist billig und schnell, das Verwerfen der gemachten Bilder jederzeit möglich. So wird unweigerlich immer mehr fotografiert, die Auswahlkriterien sind zunehmend bedeutungslos.
Der touristische fotografische Blick ordnet die Welt in besonderem Maße nach seinem Wohlgefallen – nicht nur im Zeitalter der Digitalfotografie. In der Vielzahl von Diashow-Werbeplakaten, die sich durch die Republik ziehen, wird die Willkürlichkeit der Wirklichkeitsinterpretation von touristischen (Fern-) Reisezielen sichtbar. Seien es Touren mit dem Kanu durch die Wildnis des Amazonas oder ein lächelnder, »typisch« kubanischer Bauernjunge für den Multimediavortrag »Cuba Real« – die Fremdheitsbilder und Sehnsuchtsprojektionen von TouristInnen werden schon vor der tatsächlichen Reise durch Diashows, Reisekataloge oder Werbefilme entworfen. Diese Bilder scheinen austauschbar, zeigen Sonne, Strand und Palmen ohne Makel oder die lokale arme-aber-glückliche Bevölkerung. Sie inszenieren eine Scheinwelt und reproduzieren touristische Klischees.
Differenz ist die Leinwand, auf die schon vor der Reise all das projiziert werden kann, was in der eigenen kulturellen Gegenwart vermisst wird. Im Reisegepäck befinden sich daher Stereotype und Vor-Bilder, mit denen sich TouristInnen vor allem selbst definieren. Die Enttäuschung ist groß, wenn die konkreten Reiseerfahrungen nicht mit den Bildern über die Fremde in Einklang gebracht werden können. Viele reagieren auf dieses »Enttäuschen« damit, idealistische Konstruktionen mit Abwehr überzukompensieren oder das Paradies zu (re-)inszenieren, wie dies bereits Künstler wie Gauguin oder Nolde taten.
Die Macht der wieder nach Hause zurückgebrachten Bilder ist deshalb so kraftvoll, weil sie den Maßstab für die Erinnerung setzen (vgl. 5. Preis, Maria Stehle). In der Rückblende werden die Bilder ohne Kontext präsentiert und können so für touristische Projektionen herangenommen werden. Durch die Rückspiegelung der Bilder nach Hause wird das Mitgenommene ästhetisiert. Ein touristisches Foto erhält seinen Wert erst durch die Rückkehr, so kann die Erinnerung gebändigt und gelenkt werden. Denn Fotografie steht weit mehr für menschliche Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen, Vorlieben und Aktivitäten als für die Realität. Sie ist ein Zufallsprodukt, das unzusammenhängende Erinnerungen zusammenbringt. Damit verweist sie immer nur auf einen ganz speziellen Moment, das Bestimmte, das Zusammentreffen – »auf das eine, genau das, das da« (Barthes 1985).
Der fotografische Blickwinkel setzt einen Ausschnitt der Realität, indem er das jeweilige Objekt »einzoomt«. Hinter der Kamera verschanzt, können TouristInnen das Fremde eingrenzen, auswählen, verwerfen, ausblenden, auslassen – eben ihre gewünschte Imagination herstellen und in Besitz nehmen. Das Reale wird auf Distanz gehalten, sozusagen »negiert«. Die Fotografie hält nur einen ganz bestimmten Aspekt der Realität zu einem ganz bestimmten Augenblick fest. Somit ist sie gleichzeitig Bearbeitung der Wirklichkeit als auch Illusion, die die Flüchtigkeit eines Moments beschreibt. Die Fotografie deutet an oder lässt aus. Sie hält keine Abläufe fest, sondern lediglich einen Aspekt davon, der vor dem Vergessenwerden geschützt werden soll. Die Fotografie »entwirklicht«, was sie festhält (Castel, in Bourdieu 1983).
Für Bourdieu ist touristisches Fotografieren dabei immer auch ein Mittel der Distanzierung: »Die Fotografie ist eine Manifestation der Distanz des Beobachters, der seine Daten erfasst, und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten erfasst... aber zugleich setzt die Fotografie auch die ganze Nähe des Vertrauten, des Aufmerksamen und eine Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch seine Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag.« (Bourdieu 2003)
Fotografie und Urlaub ergänzen sich dabei perfekt: die Konsumhaltung des Urlaubs entspricht der des Fotografierens. Für den britischen Tourismuskritiker John Urry erschließt sich diese Überlappung dadurch, dass die Geschichte der Fotografie und des Reisens eng verbunden sind. 1839 wurde die Daguerrotypie in Frankreich erfunden, 1841 organisierte Thomas Cook seine erste Gruppenreise. Die Verbindungen zwischen modernem Tourismus und Fotografie helfen dabei zu verstehen, wie visueller Konsum die Wahrnehmung der Realität dominiert. Der visuelle Konsum ist auf den nichtinszenierten Hinterbühnen nur bedingt möglich, denn er sprengt die mitgebrachten Vorstellungen von den Anderen. So sind touristische (Fern-) Reiseziele außerhalb der Hochsaison deshalb so unattraktiv, weil deren touristische Inszenierung bröckelt, wenn die Restaurants oder Vergnügungszentren verlassen wirken oder wenn Regenzeiten den Strandurlaub zunichte machen. Für Urry entspricht somit das Etikett »Out-of-Season« dem für TouristInnen unattraktiven Teil der Inszenierung, dieser befindet sich »Out-of-sight-of-the-eye-and-the-lense«.
Urry hat die visuelle Natur der touristischen Erfahrung sowie die Veränderungen im Verhalten durch den vorgefertigten touristischen Blick bereits 1990 in »The Tourist Gaze« festgehalten. Der Konsum von Bildern orientiert sich für ihn meistens an einem visuellen Verlangen nach der Wiederholung des Paradieses oder des exotischen Fremden, das die Erinnerung schon von Anfang an – von zu Hause aus – strukturiert.
Das eklatanteste der Probleme, die Fotografieren mit sich bringt, ist das Fotografiert-Werden. Der romantisierte Blick auf das Andere schafft ein Machtgefälle zwischen dem fotografierenden Subjekt und dem fotografierten »Objekt«. Am deutlichsten zeigt sich die Problematik an touristischen Bildern. Der Objektcharakter der Fotografierten ist hier im Sinne von »Völkerschauen« und »ich erkläre (mir und anderen) die Welt« besonders auffällig. Die FotografInnen besehen, begrenzen und bringen ihre Objekte ins Bild. Ihnen wird von den Fotografierenden nur eine vorübergehende »metaphorische« Existenz verliehen. Die fotografierten Objekte sind dazu verurteilt, für immer einen Ausdruck zur Schau zu stellen.
Grundsätzlich kann Fotografie schon als Mittel der Kommunikation eingesetzt werden. Das ist im eigenen gesellschaftlichen Kontext ja durchaus gewollt – sei es beim Fotografieren von (Familien-)Festen oder wichtigen öffentlichen Anlässen. Hier geben die Fotografierten ihr Einverständnis, abgelichtet zu werden, um sich später in Fotoalben wiederzufinden. Doch in einem touristischen Kontext – und insbesondere im Ferntourismus – ist diese Kommunikation fast immer einseitig. Die Fotos sind ein Mittel der Selbstverwirklichung des Fotografierenden. Die Linse trennt FotografInnen und Fotografierte buchstäblich und leugnet die Möglichkeiten des Dialogs.
Man denke nur an das ‚heimliche’ Fotografieren von Menschen, die jedoch sehr wohl bemerken, dass sie in diesem Moment auf ein Foto gebannt werden, das irgendwann völlig außerhalb des Entstehungskontextes benutzt wird. Auch das Sich-in-Szene-Setzen mit der »einheimischen Bevölkerung« suggeriert Dialog für die Erinnerung zuhause, denn diese Bilder folgen der Ich-war-da-Logik des touristischen Fotografierens: ob mit Eiffelturm oder traditionell gekleideten Massai auf einem Foto, die Settings sind austauschbar, hier geht es vor allem um Fotografie als Beweismaterial und Souvenir – also als moderne Trophäe. Bei einigen dieser inszenierten oder heimlichen Fotos kommt das schlechte Gewissen der fotografierenden TouristInnen zum Vorschein. Dieses steht für das Machtgefälle im (Fern-)Tourismus und die Schwierigkeit von Begegnungen durch die / trotz der Linse.
Die Bandbreite dieser Begegnungen und Nichtbegegnungen durch die Kamera ist groß: Neben dem heimlichen Fotografieren gibt es das erfragte, das bezahlte oder auch das von den Fotografierten selbst verlangte Fotografieren im Sinne von »one photo please«. Die Fotografierten sind dann nicht nur Objekte, sondern auch Akteure, die sich selbst gerne so für ein Foto in Szene setzen wollen, wie es ihnen gefällt. Doch in jedem Fall liegt die Macht des Ablichtens bei den Fotografierenden. Im touristischen Kontext gibt es somit eine sehr eindeutige Antwort auf die Frage: Wem gehört die Fotografie? Indem sie mit nach Hause gebracht und in den seltensten Fällen den Fotografierten zugesandt wird, verbleibt sie einzig und allein in den Händen und Köpfen der TouristInnen.
Die fotografierenden TouristInnen wiederholen entweder Stereotype und Klischees - oder legen den Fokus auf die Schattenseiten des Erlebten, indem das Elend abgelichtet wird. Hier wähnen sich die fotografierenden TouristInnen in der Nähe der Backstage, doch durch Grenzüberschreitungen und Eindringen in die Privatsphäre der abgelichteten Personen reproduzieren sie die Hierarchien des Tourismus. Das Dilemma scheint perfekt: Wenn tourismuskritische Gegenbilder zu dieser Paradiessehnsucht das genaue Gegenteil der schillernden Reisewelt präsentieren und die Schattenseiten oder die Armut im jeweiligen Reiseland zum Thema machen, folgen sie der Logik der Fremdheitsprojektion. Die alleinige Umkehrung von Klischees reicht nicht aus, um sich von ihnen zu lösen. Denn »die Photographie (ist) nicht dann subversiv, wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich macht.« (Barthes). FotografInnen, die sich dieses Dilemmas bewusst sind, kommen beim Ablichten der Backstage unweigerlich an ihre Grenzen. Doch im Ausloten dieser Begrenzungen liegt die Herausforderung des Fotografieren von Tourismus.
Als Teil der Vorderbühne der Inszenierung können TouristInnen nur erschwert die verschiedenen Hinterbühnen betreten, geschweige denn adäquat bildlich darstellen. Man kann den touristischen Vorhang zwar zum Teil zur Seite schieben, aber keine Gegenüberstellung von Vorder- und Hinterbühnen auf einem Foto zusammenbringen. Bilder, die Backstage-Realitäten wirklich einfangen, sind selten. Sich Zugang zu ihnen zu verschaffen, hieße gleichzeitig auch eine Grenze zu überschreiten, die fotografisch nicht sichtbar gemacht werden kann. Entweder man befindet sich Backstage oder Frontstage. Der Übergang ist nicht auf den (situativen) Ausschnitt eines Fotos zu bannen. Dies geht nur mit Hilfe des Zusammenstellens verschiedener Bedeutungsebenen bei Stilmitteln wie beispielsweise der Collage. Hier wird das zusammengesetzte Bild an die intendierte Aussage angepasst und zur Interpretation freigegeben.
Auch wenn die Interpretationen des Fremden schon vorgefertigt scheinen, können Fotos somit einen Zugang zur vorgefundenen Wirklichkeit ermöglichen. Selbst das Vielfotografieren kann ein Versuch sein, das Gesehene erklärbarer zu machen. »Es gibt diese kleinbürgerliche Spontansoziologie, die sich über die Leute lustig macht, die sich mit dem Fotoapparat über die Schulter gehängt auf den Weg zu ihren touristischen Ausflügen machen und schließlich vor lauter Fotografieren die Landschaft gar nicht mehr wirklich betrachten. Ich habe das schon immer für Klassenrassismus gehalten. In meinem Fall zumindest war das eine Art und Weise, meinen Blick zu schärfen, genauer hinzusehen, einen Zugang zum Thema zu erhalten.« (Bourdieu 2003)
Eine solche Herangehensweise zeichnet wohl viele Versuche aus, sich den touristischen Bühnenlandschaften durch Fotografie kritisch zu nähern – sei es in Reportagen oder Bilderserien zu Auswirkungen der Tourismusindustrie für die lokale Bevölkerung oder für die Umwelt. Damit dies gelingt, braucht es jedoch kritische BeobachterInnen und Bilder, die zu ihnen sprechen und sie zum Denken anregen.
Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen. Um dieses dem Fotografieren vorangegangene Sehen transparent zu machen, brauchen die BetrachterInnen Details, die ein Bild vielschichtig werden lassen. Fotografie kann Erstaunen mit sich bringen, denn sie setzt mehr als andere visuelle Künste eine unmittelbare Präsenz in die Welt. Sie ist eine Erinnerungsstütze, um sich die Welt erklärbar zu machen. Im Foto gibt sich ein einzelner Gegenstand oder ein Ausschnitt zu erkennen, die Interpretation dieser Teilrealität bleibt jedoch einzig und allein den BetrachterInnen überlassen. Darin liegt sowohl die Gefahr als auch die Mächtigkeit der »zufälligen« Kunstform Fotografie.
Tourismuskritische Fotografie beansprucht, die Hinterbühnen und Schattenseiten der touristischen Inszenierung abzulichten. Thema des von Fernweh ausgeschriebenen Fotowettbewerbs
»Backstage of Tourism« waren daher die verborgenen Aspekte des Tourismus – das »Making of Paradise«. Insgesamt wurden zehn Einsendungen prämiert. Sie verweisen darauf, wie der Tourismus sich zwischen Mythenbildung und sozioökonomischen Zwängen bewegt und von beiden lebt. Hier gibt es die zehn prämierten Bilder samt ausführlicher Preisbegründungen. [Download pdf 827 KB]