"Have you done something for tourism today"? Diese Aufschrift auf einem jamaikanischen Lieferwagen könnte als Ausdruck für das touristische Destinationsmanagement kaum treffender sein: die einheimische Bevölkerung wird an die Wichtigkeit des Tourismus für die nationale Wirtschaft erinnert - internationale Organisationen und nationale Ministerien setzen auf den Tourismus als beachtlichen Devisenbringer und zur Bekämpfung der Armut. Vor diesem Hintergrund liest sich die Aufschrift des Lieferwagens wie ein Verweis auf das richtige Verhalten, das den Wünschen und Erwartungen der Reisenden entgegenkommen soll. Die wollen im Urlaub vor allem eines: keinen Stress (no hassle). Die gesamte Bevölkerung wird über die auffordernde Frage in die Pflicht genommen, den Wirtschaftssektor Tourismus durch eigene Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber den Reisenden zu unterstützen.
Bereits Ende der 50er Jahre, als Tourismus als massenhaftes Phänomen noch sehr jung war, formuliert Hans Magnus Enzensberger eine Position, die Tourismus als Teil der kapitalistischen Verhältnisse begreift. In einem historischen Rückblick erkennt er die Wurzeln des Âzweckfreien ReisensÂ, so seine Definition des modernen Tourismus, in der bürgerlichen und industriellen Entwicklung der westlichen Gesellschaften. Die bürgerliche Revolution habe Âden einzelnen ein Freiheitsbewußtsein ein(gepflanzt), das sich an der Gesellschaft, die aus ihr hervorging, brechen mußte (189). Denn der politischen Revolution entsprach eine Revolution in der Produktionsweise, die die Arbeitswelt organisierte und disziplinierte. Das gerade geweckte Begehren nach individueller Freiheit konnte nach Enzensberger innerhalb der eigenen Gesellschaft nicht (mehr) gestillt werden und wurde mit exotischen Projektionen in die Ferne kompensiert. So sind die geistigen Wurzeln des Tourismus in der Romantik zu verorten, die Âdie Freiheit, die unter der Wirklichkeit der beginnenden Arbeitswelt und der politischen Restauration zu ersticken drohte, im Bilde festgehalten (Enzensberger 1958: 189) hat. ÂSie verklärte die Freiheit und entrückte sie in die Ferne der Imagination, bis sie räumlich zum Bilde der zivilisationsfernen Natur, zeitlich zum Bilde der vergangenen Geschichte, zu Denkmal und Folklore gerann (Enzensberger 1958: 190).
Materiell gesehen sind die Erfindungen von Eisenbahn und Dampfschiff Geburtshelfer des Tourismus. Mit dem Ausbau eines internationalen Verkehrsnetzes schuf der Kapitalismus einen homogenisierten Raum als Weltmarkt und gleichzeitig die Infrastruktur für eine touristische Entwicklung. Auch die Organisation der Reise folgte von Beginn an antizipierten fordistischen Strukturen. Mit der Erfindung des Reiseführers â 1836 schrieb der Engländer Murray das Red Book â wurden Reiserouten und Sehenswürdigkeiten vorgegeben, die die Bewegung der Touristen kanalisierte. Bis heute bildet die Ernennung einzelner Kultur- oder Naturelemente zur âSehenswürdigkeitâ das Grundelement einer touristischen Reise.
Damit schaffte die Entwicklung der industriellen Gesellschaft zugleich das Begehren nach Ausbruch aus einer zunehmend disziplinierten wie disziplinierenden Arbeits- und Lebenswelt sowie die technischen Möglichkeiten, dieser zu entkommen. Wobei, und in dieser dialektischen Dynamik erkennt Enzensberger den Motor der touristischen Entwicklung, die ÂFlucht vor der selbstgeschaffenen Realität mit Hilfe der den Kapitalismus verwirklichenden Kommunikationsmittel und Prinzipien eben diese Realität immer weiter ausbreitete. Die Flucht wird letztendlich ad absurdum geführt. ÂDenn der Tourismus, ersonnen, um seine Anhänger von der Gesellschaft zu erlösen, nahm sie auf die Reise mit (Enzensberger 1958: 199). . Doch â laut Enzensberger â wissen die Flüchtenden um die Vergeblichkeit ihres Tuns. Der Grund für die massenhafte Flucht ist daher vielmehr die Sorge um den gesellschaftlichen Status als die Suche nach Glück und Freiheit.
Diese innergesellschaftliche Dynamik der sozialen Distinktion beschreibt Enzensberger â recht holzschnittartig â als zentralen Motor für die touristische Entwicklung. Das Vorweisen einer âerfolgreichen Urlaubsreiseâ diene dem sozialen Status, für den sich die Reisenden wieder und wieder einem Pflichtprogramm â dem Besuchen bestimmter Sehenswürdigkeiten â unterwürfen. Als manipulierte Masse folgten sie den vorgegebenen âFluchtârouten und arbeiteten mit an der Aufrechterhaltung des Mythos, Tourismus verspräche Glück und Freiheit: ÂDie Bestätigung des Vorgespiegelten als eines Wahren ist die eigentliche Arbeit, die der Tourist ableistet. Damit sind nach Enzensberger die Touristen selbst die eigentlichen Opfer des Tourismus, die in ihrer vergeblichen Flucht als Gefangene der kapitalistischen Entwicklungen keinen Weg aus ihr heraus finden. Tourismus erscheint als Fortsetzung der entfremdeten und verregelten Arbeitswelt. Am Ende seines Essays verleiht Enzensberger den massenhaft manipulierten Reisenden doch noch einen (politischen) Willen, auch wenn sich dieser nur unbewusst äußere. Er interpretiert den Massentourismus als ÂKraft einer blinden, unartikulierten Auflehnung gegen die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse. ÂJede Flucht aber, wie ohnmächtig sie sein mag, kritisiert das, wovon sie sich abwendet (Enzensberger 1958: 204).
Dass Enzensberger der massenhaften Bewegung doch noch einen Sinn verleiht, macht seine Fluchtthese jedoch nicht überzeugender. Denn nicht nur die Interpretation der Flucht, bereits die Beschreibung des Tourismus als Fluchtbewegung an sich, ist kritikwürdig, denn sie verkennt wichtige Aspekte im Tourismus. Zunächst ist sicherlich die Betonung des ÂWeg-von viel zu einseitig. Auch wenn die Motivation, dem Alltag eine Zeitlang zu entkommen, ohne Zweifel zentral für das massenhafte Reisen ist, so unterschlägt Enzensberger die vielfältigen âHin-zuâ Argumente gänzlich, wie das positive Erleben am Urlaubsort. Entgegen seiner Behauptung ist Langeweile sicherlich nicht vorherrschend während der âschönsten Tage des Jahresâ. Insbesondere auf diesen Aspekt hat sich die Kritik an Enzensbergers Thesen gestürzt. Noch 1997 grenzt sich Christoph Hennig mit dem Buch ÂReiselust programmatisch gegen diesen ÂAnti-Tourismus als Denkblockade ab. Ausgehend von der Âunbestreitbaren Faszination des Reisens will Hennig nach 40 Jahren kritischer Tourismusdiskussion endlich zu einer Âfröhlichen Wissenschaft des Tourismus kommen (Voyage 1997).
Zweitens war sicherlich mehr der Wunsch als die Empirie Vater des Gedankens, als Enzensberger der flüchtenden Masse unbewusste Gesellschaftskritik unterstellte. Es ist nicht einleuchtend, warum die Âreisende Masse einerseits viel Ungemach auf sich nimmt, um zentralen gesellschaftlichen Prinzipien, wie der sozialen Distinktion, Folge zu leisten und andererseits genau dadurch grundlegende Kritik äußern soll. Oft ist doch der kurzzeitige und wohl geplante Ausstieg aus dem Alltag vielmehr eine Bestätigung für das Leben zuhause als seine Infragestellung. Die materielle Möglichkeit zur Urlaubsreise ist nicht nur innergesellschaftlich Beweis für eine ökonomische Überlegenheit. Auch im interkulturellen Vergleich impliziert der Status des Touristen eine gesicherte und freie Existenz, die letztendlich für die Verfasstheit der eigenen Gesellschaft spricht.
Drittens wirkt es mittlerweile â mit Blick auf die weltweiten Fluchtbewegungen â regelrecht zynisch, die jährliche Urlaubsreise auch nur im Ansatz mit Flucht zu vergleichen. Nur zu gerne werden die massenhaften Bewegungen von Nord nach Süd (Tourismus) und von Süd nach Nord (Flucht und Migration) in den großen Topf der weltweiten Mobilität geworfen. Vergegenwärtigt man sich die unterschiedlichen Motivationen und Rahmenbedingungen der weltweiten Mobilität so wird deutlich, wie wenig diese verschiedenen Bewegungen miteinander zu tun haben.
Dennoch ist Enzensbergers âTheorie des Tourismusâ grundlegend für die deutschsprachige Tourismuskritik. Sie analysiert als erste gesellschaftskritische Position die wesentlichen Elemente und Dynamiken des Tourismus, die seine Herausbildung zum westeuropäischen Massenphänomen ermöglichten - und das zu einer Zeit, in der sich diese Entwicklung aus heutiger Sicht in ihrem Anfangsstadium befand. Enzensberger versteht seinen Beitrag als Kritik auf die elitäre Tourismuskritik eingefleischter Reisender, die in der Demokratisierung des Reisens eine Bedrohung ihres privilegierten Status sahen. Hier erkennt er eine weitere, dem Tourismus inhärente Dynamik, die bis heute nichts in ihrer Virulenz eingebüßt hat. Denn die Kritik am Tourismus diente von Beginn an der sozialen Abgrenzung, die den wahren Reisenden vom tumben Touristentölpel unterscheidet. Diese Dynamik wirkt nicht nur innergesellschaftlich, sondern auch als treibende Kraft der internationalen Tourismusentwicklung. Immer wieder neue, vom Massentourismus noch nicht âeroberteâ Regionen oder Reiseformen werden feilgeboten und dem Markt einverleibt. Allerdings: Enzensbergers Analyse negiert individuelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume. Die kapitalistischen Strukturen stehen einer manipulierten Masse übermächtig gegenüber, wobei der gut verkaufte, aber illusionäre Ausweg doch nur wieder Instrument für ihre Stärkung ist.
Nach dem fordistischen Produktionsprozess, den Enzensberger mit ÂNormung, Montage, Serienfertigung so treffend beschrieben hatte, gestaltete sich dann auch die vom Norden initiierte und geförderte Tourismusentwicklung in den Âunterentwickelten Ländern: Große Hotelanlagen mit standardisierten Einrichtungen und Unterhaltungsprogrammen formierten sich zu touristischen Zentren (Strandtourismus in Mombasa oder Goa, Ballermann auf Mallorca), in denen sich - nahezu ghettoisiert â die Reisenden Âvergnügten und Âvor tropischer Kulisse den Baudelaireschen Traum von einer Insel der Wonne verwirklichten (Bruckner/Finkielkraut 1981: 61). Diese aktiv geförderte Entwicklung war in ein Paradigma gebettet: Den Süden galt es â seit Truman 1949 den Begriff der Unterentwicklung geprägt und damit ein expansives Wirtschaftsprogramm moralisch neu legitimiert hatte â nach dem Modell der Modernisierung zu entwickeln, Âum die Segnungen unserer Technik und Wissenschaft für die Erschließung der unterentwickelten Weltgegenden zu verwendenÂ. Wenngleich hier der Tourismus gewiss nicht an erster Stelle gemeint war, so spielte doch die für einen touristischen Aufbau notwendige Infrastruktur eine wesentliche Rolle bei der ÂErschließung im Sinne des Fortschrittsgedankens: Verkehrswege â Flughäfen, Bahnlinien und Straßennetze â für den Güterverkehr von Nahrungsmitteln oder Bodenschätzen sowie andere wirtschaftliche Austauschprozesse gedacht, waren (und sind) für reisende Gäste aus dem Norden ebenso bedeutend. Die Mobilität der TouristInnen ist direkt mit dem Verkehr von Waren und (Luxus-)Gütern gekoppelt. Energie- und Wasserversorgung â und damit die Erschließungen von Naturressourcen â sind für das präferierte touristische Modell ebenso unverzichtbar wie für die in den 60er Jahren populäre importsubstituierende und ressourcenintensive Industrieentwicklung.
Die Âelegante Form der Entwicklungshilfe, so lautete dann die Kritik an der Tourismusförderpraxis der ersten Entwicklungsdekade, lässt sich von den weniger eleganten Schornsteinanlagen, Erzminen und einer technisierten Exportlandwirtschaft bei genauerem Hinsehen kaum unterscheiden: Als tertiärer Sektor und Dienstleistungsgeschäft durchdringe Tourismus vertikal den primären und sekundären Sektor â und damit träfen auch die Probleme dieser Sektoren (Terms of Trade, Investitionskosten, Abhängigkeit von Krediten, hoher ausländischer Kapitalanteil u. a. ) den Tourismus. Hinzu komme die Abhängigkeit von Trends und Moden der Nachfrageseite (heute hier, morgen dort) sowie von politischen Instabilitäten oder Naturkatastrophen (Hurricane/Erdbeben) und die als Sickerraten bezeichneten Devisenabflüsse als Resultat der Versorgung der touristischen Anlagen mit Importgütern: Schon eine Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben () in den Entwicklungsländern verdeutlichte in zahlreichen Studien die Kurzsichtigkeit in der Tourismusförderung. Steuervergünstigungen für ausländisches Kapital, steigende Zinsen auf Kredite und eine Kollektivierung der Kosten bei hohem Abfluss der Gewinne erschwerte oder verunmöglichte es vielen Destinationen im Süden, am Tourismus zu verdienen. Der ÂDevisenbringer Tourismus wurde als ÂSchuldenfalle (Plüss 1989, Suchanek 2000) entlarvt.
Tatsächlich sank das Einkommen pro TouristIn in manchen Ländern derart, dass selbst steigende Besucherzahlen diese Verluste schwerlich kompensieren können und die ebenfalls steigenden Investitionskosten und Zinsen auf Kredite kaum mehr decken. Die Kritik an der ÂSchuldenfalle richtet sich vor allem gegen die optimistischen Einschätzungen der Welttourismusorganisation WTO und neuerlich der UNCTAD, selbst die am wenigsten entwickelten Länder könnten ihre Stellung auf dem Weltmarkt dank der Entwicklung des Tourismus verbessern. Zudem wäre die Frage der Schuldenfalle nicht nur für Volkswirtschaften, sondern für die im Tourismus aktiv wie passiv involvierten Akteure in den Reisedestinationen zu stellen. Über die Arbeitsplätze, die der Tourismus vernichtet â insbesondere in traditionellen Erwerbszweigen wie der Fischerei oder der Landwirtschaft â werden keine Statistiken geführt.
Kritik wurde 1975 mit der Gründung der Fachstelle für Tourismus, damals als Teil des Evangelischen Zentrums für Entwicklungsbezogene Bildung, und mit der Ecumenical Coalition on Third World Tourism (ECTWT) 1982 vor allem von Seiten der Kirche laut. War doch mit der gesamtökumenischen Weltkonferenz 1966 in Genf ein revolutionärer Charakter Gottes populär geworden. Diese neue Auffassung legitimierte und forderte, dass sich Menschen in seinem Namen aktiv in die Geschichte einmischen, , so konnte man zu den Auswirkungen eines Ferntourismus, der vor Mitteln wie Enteignung von Land und Vertreibung nicht zurückschreckte, nicht schweigen. Da die frühe Kritik am Tourismus vorwiegend aus der Solidaritätsbewegung kirchlicher und linker Kreise formuliert wurde und hier neokoloniale Machtbeziehungen und die Frage einer nicht verwirklichten Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien in den Vordergrund traten, betonte man sozio-ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse. Die ÂTheologie der Befreiungâ und die parallel aufkommende Dependenzia nahmen durch ihren Bezug auf die marxistische Ökonomiekritik Prozesse unter die Lupe, die Armut produzierten und Unterentwicklung als Resultat von Entwicklung interpretierten. Tourismus galt als Teil dieses Prozesses.
ÂHotelgiganten und ÂFerienmacher (Schmid 1986: 30-31) waren die Vokabeln der vorwiegend auf eine ökonomisch-imperialistische Expansion fixierten Kritik. Das Muster ÂMassenproduktion zu immer günstigeren Preisen und die Âwachsenden touristischen ÂKolosse fachten eine geringschätzige Haltung gegenüber einem entsprechend als Massentourismus kritisierten Reisegeschehen an. In die Kritik gerieten einerseits die Reiseunternehmen, denen die ÂManipulation der Massen angekreidet wurde. Indem Großkonzerne und imperialistisch agierende Ökonomien Profite zum eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf kulturelle und soziale Schäden in der Peripherie realisierten, legten sie ein neokoloniales Gebaren an den Tag. Die Kritik am Tourismus wurde aus dieser vereinfachenden Sicht, die den Süden als ÂVergnügungsperipherie des Nordens bezeichnete und die ÂBereisten zu passiven Opfern sowie die Reisenden zu einer blinden, von der Tourismuswerbung manipulierten Konsumgesellschaft stempelten, in die dependenztheoretische Debatte eingebettet. Als ÂGlobaltheorie mit universalistischem Erklärungsanspruch (Nuscheler 1997) machte sie einen allmächtigen Weltmarkt samt seiner profitsüchtigen Mitspieler als Kern des Bösen aus. Ferntourismus wurde als ein Exportprodukt wie Kaffee oder Baumwolle in den Kontext gewachsener, globaler Abhängigkeitsverhältnisse gestellt und als rein strukturelles Problem erfasst: als spezielle Form struktureller Gewalt sei dem Ferntourismus der Zwang zu einer profitablen Inwertsetzung von Natur und Kultur inhärent. Diese Gewalt impliziere eine Ökonomisierung sozialer Beziehungen (Armanski 1986). Die zahlreichen Protestbewegungen in den Fernreisezielen und die Kritik seitens der ÂEntwicklungsländerÂ, die schwerwiegende soziale und ökologische Folgen des Tourismus aufzeigten, gliederte man im Westen sehr selektiv als ÂStimmen der Bereisten in die eigene dependenztheoretische Sicht ein. Dabei reduziere allerdings der eingleisige (und individuelle Spielräume negierende) Blick auf Warencharakter, Produktionsbedingungen und auf die Terms of Trade Âdie Reisenden zu unbegrenzt manipulierfähigen Objekten der Tourismusindustrie und (zum) bloßen Abklatsch gesellschaftlicher Zwänge (Bertram 1997: 222).
In den 60er Jahren betrachteten Entwicklungsexperten Tourismus als weiße Industrie ohne Schornsteine. Der Ferntourismus galt zu dieser Zeit, als den gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien eine Ânachholende Entwicklung in Form des fordistisch geprägten Modells gepredigt wurde, als Motor für wirtschaftliches Wachstum auf die sanfte Art. Denn eines schienen die armen Länder des Südens nahezu im Übermaß zu besitzen: unberührte Natur und unberührte Kultur, die beiden grundlegenden Leitbilder des zweckfreien Reisens. Im Tourismus, so der Glaube, seien Probleme wie hohe Investitionen, Protektionismus auf dem Markt, Ansprüche an technische und menschliche Ressourcen sowie umweltschädliche Auswirkungen im Vergleich zu anderen Industriezweigen gering. So avancierte die Tourismusförderung zu einer Âeleganten Form der Entwicklungshilfe. Von 1969 bis 1979 unterstützte die Welt Bank mit Krediten in Höhe von ca. 500 Millionen US Dollar 24 Projekte in 18 Ländern. Die ÂHilfe wurde â analog zur vorherrschenden Wirtschaftswundermentalität â als Unterstützung für den Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft formuliert. Schließlich fand die Hoffnung, die nicht zuletzt viele Entwicklungsländer an den Ferntourismus knüpften, 1963 in der Conference on Tourism and International Trade der Vereinten Nationen ihren Ausdruck und gipfelte in dem von der UN 1967 ausgerufenen Internationalen Jahr des Ferntourismus.
Die Kritik am Tourismus ist so alt wie der Tourismus selbst. Die Entstehung der modernen tourismuskritischen Debatte war an die starke Zunahme des Reises gegen Ende der 50er geknüpft (Kritik an der Masse). Hinzu kam Ende der 60er Jahre eine grundlegende linke Gesellschaftskritik, die Tourismus als Teil der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sah. Mit dem einflussreichen Werk Schuhmachers ÂSmall ist beautiful kanalisierte sich ein diffuses Unbehagen über den Konsum und eine konsumistisch und eindimensional veranlagte Gesellschaft. Diese zumindest in linken und in Solidaritätskreisen durchsickernde Missstimmung gegenüber den eigenen Verhältnissen war ihrerseits für die Dependenztheorie empfänglich, die als erkenntnisleitende Kategorie seit den 68ern gesellschaftskritische Debatten beeinflusste. Mit dem aufsteigenden Ferntourismus kam bald die Kritik an der Zerstörung traditioneller kultureller und sozialer Strukturen auf die Themenliste. Gleichzeitig wurden erste ÂStimmen aus dem Süden laut, die vehement die sozialen Auswirkungen des Ferntourismus beklagten und seinen kolonialistischen Charakter kritisierten. Enzensberger, der bereits Ende der 50er Jahre sehr treffend die kapitalistischen Strukturprinzipien des Tourismus erklärt hatte und mit seiner These eines Unbehagens der Reisenden an den eigenen gesellschaftlichen Arbeitsverhältnissen die Debatten inspirierte, (Enzensberger 1958) wurde erneut rezipiert. All diese Elemente mündeten schließlich in eine teils heftige Ablehnung gegenüber dem ÂMassentourismus in die Dritte Welt. Seit Anfang der 70er Jahre organisierte und internationalisierte sich die Kritik am massenhaften Reisen in die Ferne zunehmend, nicht zuletzt als Reaktion auf die modernisierungstheoretische Befürwortung des Ferntourismus.
Immerhin führten diese Kontroversen, die auch den Entwicklungsexperten nicht entgingen, zu einer (vorwiegend rhetorischen) Stagnation entwicklungspolitischer Tourismusförderung. Die Weltbank baute1979, als die Schäden nicht mehr zu übersehen waren und Proteste im Süden zunahmen, ihr Tourismusdepartment ab. Die OECD ging 1980 gar so weit zu behaupten, der Tourismus zerstöre den Tourismus. Im Laufe der 80er Jahre mischten sich dann vermehrt Positionen aus der Ökologiebewegung in die Debatte.
Schließlich fanden kritische und skeptische Sichtweisen auf den Tourismus â wenngleich sehr zögerlich â Eingang in die Nachhaltigkeitsdebatte der 90er Jahre. Trotz der heftig diskutierten Problemlagen des Ferntourismus und einer relativ deutlichen Ablehnung seitens vieler Entwicklungsorganisationen, in Tourismus zu investieren (das sei Sache der Privatwirtschaft), wurde Tourismusförderung im Laufe der 90er Jahre wieder hoffähig. Schließlich riefen die Vereinten Nationen, 35 Jahre nach dem Internationalen Jahr des Ferntourismus, zum Internationalen Jahr des Ökotourismus (IYE) auf. Mit Ökotourismus sollen nun die wirtschaftliche Entwicklung und der Naturschutz an einem Strang ziehen. Dabei betonen neoliberale Entwicklungsprotagonisten die widerspruchsfreie Verbindung von Ökologie und Ökonomie und präsentieren Ökotourismus im Gewand der nunmehr Âgrünen Industrie â zugleich betonen sie das Potenzial des Tourismus als einkommenschaffende Maßnahme in peripheren Regionen. Andere bezeichnen Ökotourismus als einen offenen Prozess, dessen Ausgestaltung sich unter aktiver Beteiligung der einheimischen Bevölkerung erst noch zeigen und soziale Ziele integrieren müsse.
Was hat sich in der bald 40jährigen Geschichte des Ferntourismus von einer angeblich weißen Industrie hin zu einem nun mehr grünzuwaschenden Wirtschaftssektor getan? Offensichtlich ist: An den sozialen, ökologischen, kulturellen und ökonomischen Problemlagen des Ferntourismus hat sich insbesondere für die Bevölkerung in den Zielregionen zumeist nur wenig verändert. Auch die tourismuskritischen Argumente sind im Kern zum Teil die gleichen geblieben. Dennoch spielte sich zwischen diesen symbolisch aufschlussreichen Fern- und Ökotourismus-Jahren eine spannende Debatte über die Kritik am Tourismus ab, die ganz unterschiedliche Gewichtungen vornahm. Ein Rückblick macht offensichtlich, dass die europäische Tourismuskritik an die jeweiligen Themen der Zeit andockte und ihrerseits andere gesellschaftkritische Strömungen mit beeinflusste. Die wesentlichen Meilensteine und Fallstricke tourismuskritischer Debatten werden hier in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen aufgezeigt und in ihren historischen Kontext gebettet.
Die Modernisierungstheoretiker versprachen sich von einer nachholenden Entwicklung durch Tourismus nicht nur ÂFortschritte im Wirtschaftsleben der Âunterentwickelten LänderÂ. Tourismus wurde auch als produktiv für die sozio-kulturellen Entwicklung dieser Länder eingeschätzt. Doch der Einfluss touristischer Prozesse auf Kultur und soziale Strukturen schien in den meisten Fällen alles andere als produktiv für die Âbereisten Länder auszufallen. Das Beklagen Âzerstörter traditioneller Kulturen gehört zu den hartnäckigsten Konstanten tourismuskritischer Argumente seit ihren Anfängen.
Tourismus â so lautet die oft wiederholte Kritik â zerrütte intakte Sozialformen und alte Traditionen. Wo die UrlauberInnen hin gelangen, verschwinde die Gastfreundschaft, löse sich das Gemeinschaftsleben auf, trete egoistisches Gewinnstreben an die Stelle ehrwürdiger Bräuche und Gewohnheiten. Vereinzelung bzw. Individualismus, Verelendung, Kriminalität und Werteverfall lauten die pauschal aufgezählten Negativfolgen. Über den Tourismus würden bisher Âunberührte Kulturen mit Zivilisationskrankheiten angesteckt: ÂDie Gesellschaft, aus der wir kommen, ist wie eine ansteckende Krankheit, mit der wir infiziert sind. Auch wenn wir sie gar nicht haben wollen, wenn wir sie bekämpfen, bleiben wir ihre Überträger (Pöttker 1986: 154). Ebenso drastisch formulierte es André Heller in einer Rede Ende der 80er Jahre: ÂDie in Jahrtausenden gewachsene Eigenart einzelner Völker und Stämme mutiert in wenigen Monaten durch den Einfluss der Reisebüros, und gesponsort durch die verheerende Not in der Dritten und Vierten Welt, in eine glanzlose Anbiederung an das Portemonnaie ewig nörgelnder Sommer- oder Winterfrischler... dies ist unumstößliches Gesetz: Der Einfall touristischer Horden führt zur Ausrottung des Schönen (Heller in Ludwig et. al.: 159 ff.).
Anders als Heller bezieht Pöttker nicht nur die reisenden Massen sondern auch reflektiertere AlternativtouristInnen in seine Kritik mit ein. Heller, der am liebsten nur noch Inhaber eines von ihm erdachten Reisepatentes (das erst nach Abschluss eines Âumfassenden Studiums verliehen würde) auf die wirkliche Welt loslassen möchte, beruft sich auf die besonderen, Land und Leute schonenden Tourismuskompetenzen gebildeter Reisender. Für Pöttker hingegen ist der Tourismus den Einzelnen äußerlich, eine Krankheit eben, von der sich niemand befreien kann. Die Schwere dieser Krankheit bestehe vor allem in ihren angeblich irreparablen sozialen und kulturellen Auswirkungen: ÂDie kulturellen Schäden, wie der Verlust der kulturellen Identität mit der damit verbundenen Entwicklung zum individuellen Materialismus ohne gemeinsames Verantwortungsbewusstsein, Zerfall der Sitten und Zerstörung der bisher ordnungsgebenden lokalen Strukturen, angefangen bei der Familie, gehen ins Mark des Volkes (Hagen, zit. n. Stock 1999: 27).
Dass touristische Entwicklung über veränderte Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt, über Landnutzungskonfllikte und über Migrationsbewegungen einschneidende soziale Prozesse bewirkt, ist unbestritten. Vor allem tradierte Geschlechterrollen und Generationenverhältnisse werden auch über den Tourismus in Bewegung gebracht. Doch wurde in den letzten Jahren zu Recht vermehrt darauf hingewiesen, dass die Einflüsse des Tourismus nicht isoliert betrachtet werden dürften. Medien, Bildung, tourismusunabhängige Migration und andere exogene wie endogene Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung sind ebenso in die Analyse sich wandelnder Sozialstrukturen einzubeziehen. Spätestens seit den 80er Jahren belegen Studien über einzelne Gemeinden in Zielregionen der Dritten Welt, dass touristisch induzierter Wandel von der betroffenen Bevölkerung keinesfalls pauschal verdammt wird.
Gerade in der aktuelleren Debatte seit Ende der 90er Jahre, die Kultur, Identität und Vielfalt in einer globalisierten Welt per se als gleichermaßen bedroht wie schützenswert verhandelt, wird mehr noch als der soziale Wandel der ÂVerlust kultureller Identität beklagt. Die Argumentationsmuster sind altbekannt. Â... die Verkümmerung der Kultur zu kommerziellen Folkloredarbietungen und billigem Souvenirkitsch, die Verhaltensänderungen der Bereisten durch bewusstes oder unbewusste Nachahmung von Touristen, führen zu sozialer, kultureller und psychischer Entwurzelung, zu Unsicherheit und zerstörtem Selbstbewusstsein. Aus freien und stolzen Fischern werden unterwürfige, weil abhängige Fremdenführer... (Neuer in Ludwig et. al.: 24).
An diesem Zitat werden gleich mehrere problematische Aspekte dieser Kritiklinie deutlich. Der so genannte ÂDemonstrationseffekt beispielsweise ist ein häufig wiederkehrendes, paternalistisches Argument. Durch das Zurschaustellen von Reichtum, westlicher Konsumgüter (wie Uhren, Markenkleidung usw. ) und Unabhängigkeit würden TouristInnen unerfüllbare Begehrlichkeiten wecken, die auf Seiten der âBereistenâ in Unzufriedenheit, wenn nicht gar Kriminalität münden würden. Unhinterfragt wird hier von einer quasi ânatürlichenâ Überlegenheit des westlichen Lebensstils ausgegangen, der alle lockt, sobald sie mit ihm in Berührung kommen. âBereisteâ werden zu Opfern äußerer Einflüsse, unfähig diese für sich bewerten zu können. Unbeachtet bleibt zudem, dass Demonstrationseffekte auch andersherum wirken können, indem Touristen â sei es durch asiatische Religionen, karibische Musik oder afrikanische Stoffe â durch die bereiste Gesellschaft beeinflusst werden (Stock 1999).
Diese einseitige Rede von der Nachahmung des westlichen Lebensstils â unterstellt den bereisten Kulturen zumindest Schwäche, wenn nicht gar Minderwertigkeit, da sie wehrlos gegen Einfluss von außen sind. Eine derart fragile âkulturelle Identitätâ bzw. Kultur bedarf des äußeren Schutzes. Hier scheint der Mythos des Âedlen Wilden durch, der per se gut, aber anfällig ist, und den oder die zu finden, die Touristen (insbesondere die gebildeteren und alternativen unter ihnen) ja meist aufgebrochen waren (Flitner/Langlo/Liebsch 1997). Welch Enttäuschung, wenn die eigenen, exotistischen Projektionen sich nicht mit der vorgefundenen Wirklichkeit decken! Für diesen Kulturwandel die Verantwortung übernehmen zu wollen, zeugt letztendlich ebenso vom Mythos der eigenen Macht und Überlegenheit. Gegenüber einer übermächtigen Zivilisation, die der Tourismus verbreitet, haben âKulturenâ gar keine Chance (Goethe 2002).
Der Kritik am Wandel liegt häufig ein statischer Kulturbegriff zugrunde, auf den auch das touristische Geschehen aufbaut. Kultur ist das, Âwas für eine menschliche Gemeinschaft in einer bestimmten Region typisch ist (Pestalozzi, zit. n. Müller und Thiem in Hahn: 279). Kulturen sind damit als abgrenzbare Entitäten mit ihren jeweiligen Besonderheiten vorstellbar, die an bestimmten Orten aufzufinden, zu besuchen und mehr oder weniger gut zu verstehen sind. Der Weg zu rassistischen Wertungen ist dabei nicht mehr weit (Goethe 2002).
Dieser Sicht entsprechend muss Kultur als ein dynamischer Prozess verstanden werden, indem Interessen, Werte und (Herrschafts)beziehungen in einem permanenten â mal mehr mal weniger gewaltätigen â Austausch stehen. Die Rede vom Schutz der Kulturen führt letztlich zu ihrer Musealisierung. [kommt zwei Sätze weiter noch mal]. Diese, auf konservative Erhaltungswerten rekurrierende, tourismuskritische Argumentation legt geradezu einen Zwang zur Andersartigkeit nahe, in dem die eigenen Interessen und Projektionen auf vermeintliche Alternativen zur eigenen Gesellschaft durchscheinen. Die Âletzten Paradiese (die oft jedoch nur aus touristischer Perspektive so paradiesisch scheinen) dürfen nicht zerstört werden. Was für authentisch â archaisch und primitiv â gehalten und was bewahrt werden soll, sind leider nur zu oft unerträgliche Armut und verweigerte Entwicklungsoptionen, die vom Tourismus als âtraditionellâ vermarktet werden.
Die Kritik an solcherlei ethnozentrierten und essentialistischen Argumentationsmustern ist insbesondere der Debatte um kulturelle bzw. hybride Identitäten der Cultural Studies zu verdanken. Auch die feministischen und antirassistischen Theorien und Diskussionen der letzten Jahre haben wesentlich dazu beigetragen, den paternalistischen Blick auf der vermeintlich wehrlosen Opfer des Tourismus zu durchbrechen und sie als zentrale Akteure ihrer sozialen und kulturellen Umwelt ernst zu nehmen. Um die gesellschaftlichen Veränderungen in touristischen Regionen bewerten zu können, muss es zunächst einmal um die Möglichkeiten der Mitbestimmung und Entscheidung für die betroffene Bevölkerung innerhalb der touristischen Entwicklung gehen. Werden Chancen für eine selbstbestimmte Entwicklung sowie Handlungsoptionen für Einzelne erweitert oder eingeengt? Wie verändern sich bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen? Die Tatsache, dass der Tourismus bzw. die Tourismusindustrie nur allzu oft die materiell gestützte Definitionsmacht besitzt und darüber entscheidet, wie sich die besuchten âKulturenâ darzustellen haben und verkaufen lassen, heißt zudem nicht, dass nicht auch die anderen Akteure â die am Tourismus Beteiligten und von ihm Betroffenen â eigenwillige Strategien im Umgang mit Tourismus entwickeln.
Parallel zur dependenzfixierten und kulturpessimistischen (letztlich kaum Einfluss auf die realen Verhältnisse zeitigenden) Vorwurfshaltung gegenüber dem Massentourismus etablierte sich eine individuell-pragmatische Kritiktradition. Die durchaus positiven Erlebnisse der Reisenden ließen sich nicht wegtheoretisieren und mit dem aufkommenden Alternativtourismus (anders reisen galt als besser reisen) entdeckte die Tourismuskritik Handlungsperspektiven. An der Suche nach der Gegenwelt zur eigenen Gesellschaft festhaltend, wurden die KritikerInnen des Âmassenhaften Reisens (gruppe neues reisen 1994) gewahr, dass es in der Macht eines jeden Einzelnen läge, ein anderes, sanftes Reisen dem organisierten Feriengeschäft vorzuziehen. Die Entdeckung der (Mit)Verantwortlichkeit der TouristInnen, inspiriert durch die Umweltbewegung und ihre Kritik am verschwenderischen und ressourcenzehrenden Konsummodell der fordistischen Produktion, mündete in einen pastoral formulierten Wertekodex. Damit glaubte man, individuelle Handlungsspielräume zur ÂMacht der KonsumentInnen zu bündeln. Sanftes Reisen wurde, wenn nicht als Gegenmodell zum Bestehenden, so doch als ein Programm zur Handhabung des Tourismusproblems entworfen, das individuelle Einflussnahme eröffnete, statt auf die Umwälzung und Weltrevolution der Verhältnisse zu beharren. Die 1978 gegründete gruppe neues reisen (gnr) ist durchaus auch als Reaktion auf die offensichtlichen blinden Flecken der Dependenzia zu deuten und dockte an den seinerzeit populären Grundsatz ÂDas Private ist politisch an. ÂAnders Reisen implizierte politische Einflussnahme.
Seit Ende der 70er Jahre rückte die Âökologische Zerstörung durch Tourismus (Euler 1989) vermehrt in den Blick. Animiert von Robert Jungks Überlegungen zum sanften Tourismus (ÂWieviel Touristen pro Hektar StrandÂ, Jungk 1980) oder auch Jost Krippendorfs Beitrag ÂDie Landschaftsfresser (1975) und seit der Stockholmer Konferenz 1972 zunehmend von einer Theorie der Knappheit und Endlichkeit globaler Ressourcen überzeugt, kritisierten neben kirchlichen und entwicklungspolitischen Dritte-Welt Gruppen nun vermehrt auch umweltpolitisch engagierte Bürgervereine den Tourismus: Sein maßloser Verbrauch an Energie, Wasser und anderen Naturgütern bei Âexpandierenden Touristenankünften zwang angesichts einer geradezu bedrohlich stimmenden Einsicht bezüglich der ÂGrenzen des Wachstums (Meadow 1972) zum Handeln. Theoretische Erkenntnisse alleine konnten die Kritiker in einer Zeit, die von einer jähen Endzeitstimmung ebenso wie von einer aufkeimenden Hoffnung auf Einflussnahme über eine bürgeroffene (grüne) Parteipolitik geprägt war, nicht befriedigen.
Wenn sich schon an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Âmassenhafte Reisen geschaffen haben, nicht oder nicht kurzfristig rütteln ließ, so lockte seit Ende der 70er Jahre der Weg von innen: ÂDie zweite Kraft, die das Reisegeschehen grundlegend umgestalten könnte, sind die Touristen selbst (Krippendorf 1988: 23). Aufgeklärte TouristInnen, die von sich aus alternativ und anders reisten, waren aber nicht genug. Als entwicklungs- und umweltpolitisches Ziel wurde eine ÂBewusstseinsbildung der Reisenden angestrebt und die Initiative ÂTourismus mit Einsicht hoffte, so zum Âsanften Reisen zu erziehen. In die Rechtfertigung für dieses Modellieren von besserem Reisen schleicht sich der Fehlschluss ein, falsches Reisen sei einzig ein Problem mangelnden Wissens und durch pädagogische Maßnahmen behebbar (Stock 1999: 26).
Eine größere ÂBreitenwirksamtkeit versprach man sich schließlich von kundenfreundlichen Gütesiegeln. Diese Handlungsoption implizierte â wie das in den 90er Jahren erwachsene Angebot an Labeln, reisenden Koffern und blauen Flaggen zeigt â konkrete Ergebnisse. Tourismusunternehmen wurde die angekündigte ökologische Zerstörung als Existenzgefahr (für das eigene Überleben) nahegelegt. Die Devise, durch frühzeitiges Umweltmanagement Ânicht den Ast ab(zu)sägen, auf dem man sitztÂ, versprach fortan Wettbewerbsvorteile. Denn ein durch die umweltpolitische Debatte und Politik der 80er Jahre genährtes Know-How von Tourismusexperten und die Sensibilität der Gesellschaft für Umweltfragen wurde in Etiketten gebündelt, um die individuelle (Ab)Wahl von besseren und schlechteren Reiseangeboten möglichst effektiv zu realisieren.
Tatsächlich vereinnahmte in dieser Debatte die Reiseindustrie eine Reihe von kritischen Positionen und bereicherte ihre Werbestrategie mit umweltpolitischen Termini â oft ohne die konkreten Reiseangebote zu ökologisieren. So zog das jährliche Tui-Umweltforum auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin die Aufmerksamkeit der Medien und politischen Kräfte auf die Umweltbeauftragten der Reiseindustrie. Statt die drei ÂS des Reisens weiterhin mit ÂSonne, Sand und See zu deuten, gab sich der TUI-Umweltbeauftragte sichtlich Mühe, SSS fortan mit den Prinzipien Sustainability, Security und Satisfaction zu interpretieren. Insofern ging die Erwartung an eine Qualitätssicherung durch Gütesiegel mit der Umweltbildungseuphorie der 80er und 90er Jahre konform. Doch wurde zum einen der berechtigte Vorwurf laut, qualitätsgesicherte Reiseprodukte, die auf ein Internalisieren ökologischer und sozialer Kosten setzten, ermöglichten einigen wenigen ein elitäres Freikaufen von Eigenverantwortung, während den dünneren Geldbeuteln nur eine Verzichtsethik geboten würde. Zum anderen würden, so die richtige Kritik, mit den Gütesiegeln ökologische Empfindlichkeiten einer sehr selektiven Problemwahrnehmung in den Tourismus eingebaut, ohne jedoch den expansiven Charakter zu berühren: die globale Beschleunigung der Mobilität, die Erschließung immer neuer Gebiete für den Tourismus gerade auch durch ein zunehmendes Angebot nicht nachhaltiger Reiseformen (samt ihrer sozio-ökonomischen Konsequenzen) würden mit Gütesiegeln nicht grundsätzlich gebrochen. Zudem fänden die Probleme und Interessen, die von Seiten der lokalen Gemeinden und Betroffenen in den Reisedestinationen der Entwicklungsländer formuliert werden, in der auf Gütesiegel und Qualitätsmanagement konzentrierten Debatte keine oder zu wenig Beachtung. Als Resultat blieben mehr werbestrategische Vorteile für Nischenangebote denn tatsächliche Verbesserungen im globalen Tourismus.
In eben dieser Kritik kommt ein Hin und Her in der Suche nach individuellen Verantwortlichkeiten einerseits und strukturell-gesellschaftlichen sowie politischen Rahmensetzungen andererseits zum Ausdruck. ÂDer neue TouristÂ, ja selbst sein gewissenhaftestes und sachkundigstes Vorbild, stößt an Grenzen, die sich dem eigenen Gestaltungsspielraum entziehen. Wo gesellschaftlich verankerte Zwänge und Bedürfnisse zum Tragen kommen, da ist der individuelle Handlungsspielraum in aller Regel nur noch wenig dehnbar. Man denke etwa an das Erholungsbedürfnis einer tiefgreifend vom Verhältnis von Freizeit und Arbeitsalltag (Ruh 1999: 14) geprägten Gesellschaft, oder an die zunehmend wichtige Rolle, die das Reisen für die eigene Stellung in der Gesellschaft spielt. So sind Reisen als Erfordernis zur Pflege familiärer oder arbeitsbedingter internationalisierter Beziehungen und zur Professionalisierung des Wissens als Berufskapital von zunehmender Bedeutung. Die touristischen Leitbilder Natur und Kultur spielen heute mehr denn je für die Individualisierung und Identitätsbildung eine wichtige wenngleich prekäre Rolle (Backes 2002b: 155). Als Kulisse für einen Âunterhaltsamen Erfahrungskonsum in der Fremde scheinen sie allgegenwärtig.
Aus dieser Dynamik erklärt sich der erneute Blick auf politische Rahmenbedingungen, auf nationaler wie auch internationaler Ebene. Der zunehmend liberalisierte Wettbewerbs- und Verdrängungskampf im Tourismus, der nunmehr, wie Wöhler (1999) zeigt, postfordistischen Organisationsprinzipien folgt, wird vornehmlich von Organisationen und Initiativen aus den Ländern der Dritten Welt als beschleunigendes Moment touristisch verursachter sozialer und ökologischer Problemlagen kritisiert. Die indische NGO Equations befürchtet schwindende Eingriffs- und Regulationsmöglichkeiten staatlicher und regionaler Politik durch den GATS-Prozess (Equations/Werkstatt Ökonomie 1999, Suresh 2001). Beklagt wird ein zunehmender ökonomischer Druck durch die Deregulierung im Dienstleistungssekor unter dem GATS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO). Die meisten Verpflichtungen zum Abbau von Handelsbeschränkungen wurden bislang im Tourismus eingegangen; seit 1995 haben über 120 der 140 Mitgliedsstaaten der WTO mindestens einen der vier Tourismus-Subsektoren des GATS-Abkommens liberalisiert. Sich verschärfende Wettbewerbsbedingungen auf einem globalen Markt sind zum Hindernis für einen sozial gerechten und umweltverträglichen Tourismus geworden. Kommunale Auflagen und selbst innerstaatliche Regelungen, so etwa zum Arbeits- oder Verbraucherschutz können schlimmstenfalls als Âdiskriminierende Handelshemmnisse der Liberalisierung zum Opfer fallen und sind künftig weitgehend in Form von ÂSelbstverpflichtungen der Eigeninitiative touristischer Unternehmen überlassen. Auch große internationale UmweltNGOs erkennen die Schattenseiten der Liberalisierung touristischer Dienstleistungen (WWF 2001). Suchanek (2000) rückt mit seinem Buch ÂAusgebucht â Zivilisationsfluch Tourismus die schäbigen Gesichter der ökonomischen Globalisierung im Tourismus und damit letztlich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen wieder in den Vordergrund.
Bei diesem neuerlichen Blick auf ÂDependenzenÂ, die nunmehr im Zuge internationaler Politik Âvereinbart werden, drängt sich die Frage nach Regulierung und damit nach der Rolle des Staates bezüglich einer globalen Strukturpolitik auf. In der Tat sind seit Ende der 90er Jahre in mehreren internationalen Vereinbarungen und Abkommen â mal verpflichtender Art wie unter der Welthandelsorganisation, mal von eher empfehlendem Charakter wie in den verschiedenen UN-Gremien, tourismuspolitisch relevante Beschlüsse oder Empfehlungen auf den Weg gebracht worden. Zweifelsohne waren die letzten Jahre tourismuspolitisch sehr bewegte Zeiten: 1995 trat das Abkommen zur Liberalisierung der Dienstleistungen (GATS) in Kraft; im gleichen Jahr vereinbarte die Staatengemeinschaft in Lanzarote die 18 Punkte-Charta zum nachhaltigen Tourismus; auf einer Internationalen Umweltministerkonferenz wurde 1997 die Berliner Erklärung ÂBiologische Vielfalt und nachhaltiger Tourismus verabschiedet; 1999 beschloss die UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung das Arbeitsprogramm für einen nachhaltigen Tourismus; auf der 5. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt fiel 2000 der Beschluss über Biodiversität und Tourismus. Wenngleich die Einschätzung hinsichtlich der Wirksamkeit tourismuspolitischer Abkommen auf die touristische Realität sehr unterschiedlich ausfällt (die Einschätzungen reichen vom Âzukunftsweisend bis ÂzahnlosÂ), so erachtet die tourismuskritische Szene globale strukturpolitische Vorgaben für die künftige touristische Einwicklung als wichtig, wenn nicht unverzichtbar. So wurde von kritischen NGOs viel Mühe und Hoffnung auf das im Rahmen der Kommission für Nachhaltige Entwicklung initiierte Arbeitsprogramm für einen nachhaltigen Tourismus (CSD 1999) und auf den Beschluss zu Tourismus und Biodiversität im Rahmen der Konvention für die biologische Vielfalt (CBD 2000) gelegt. Damit wird in lobbyistisch agierenden NGOs (insbesondere aus den Quellenländern des Ferntourismus) weithin auf die Regulationsfähigkeit gesetzt: zunächst durch den Nationalstaat und weiter über die neuen, sich im Rahmen der internationalen Abkommen herausbildenden Âglobal governanceÂ-Strukturen. Zum einen gilt es, an den Staat zu appellieren, für umwelt- und sozialpolitische Interessen international einzutreten, zum anderen soll der Staat über die internationalen Abkommen zur Rechenschaft gezogen werden.
Insofern zeichnet sich eine Wende weg von der individuell pragmatischen Kritiktradition hin zur strukturpolitischen Rahmensetzung ab. In wie weit dem Staat tatsächlich noch die Rolle zukommt, effektive Schutzpolitik gegen ökonomische Interessen zu entwickeln oder in wie weit er selbst diejenigen Strukturveränderungen mitgeschaffen hat, die jetzt die beschriebenen Âexternen Zwänge verursachen, beschäftigt die tourismuskritische NGO-Szene höchstens am Rande. Das Leitbild Nachhaltigkeit schien im Laufe der letzten tourismuspolitisch sehr bewegten Dekade als fixer Orientierungspunkt für ein auf konkrete Verbesserungen zielendes Engagement. Insofern ist dieser neuerliche Strukturblick nicht identisch mit der frühen Frage nach den Âgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das massenhafte Reisen geschaffen haben (Kresta 1999: 17).
Für die Idee eines nachhaltigen Tourismus spielt das Konzept des Gleichgewichts in Anleihe an frühere Vorstellungen über die Belastbarkeit von Ökosystemen eine konstitutive Rolle. Die Forderung nach einem nachhaltigen Tourismus als Strategie für und eingebetteter Bestandteil von einer nachhaltigen Entwicklung zielt auf eine widerspruchsfreie Integration der ökologischen Anliegen (Naturerhalt und Ressourcenschutz) mit sozialen Aspekten (Gerechtigkeit und gesellschaftliche Integrität) sowie wirtschaftlichen Ansprüchen (Ergiebigkeit / Beschäftigung). Diese Aspekte gälte es nun, in einer Regionalentwicklung zu bündeln, die ihrerseits in globale Netze ebenso wie regionale Besonderheiten einzubinden sei, um im globalen Standortwettbewerb bestehen zu können. So jedenfalls lautet die derzeit präferierte Vorstellung â gerade auch in der am Tourismus zunehmend Gefallen findenden Entwicklungszusammenarbeit. Zudem setzen vermehrt Initiativen aus den Entwicklungsländern auf diese Option. Als gemeindebasierte Projekte (community-based) versuchen sie in guter Absicht und mit viel Engagement, ökologische sowie soziale Aspekte der Tourismusentwicklung ins Gemeinwesen zu integrieren und dabei am Tourismus zu verdienen.
In der Praxis heißt das: naturnahe Landschaften werden (oft als Âletzte ParadieseÂ) ebenso wie kulturelle Leistungen (nicht selten naturharmonisch verklärt) als regionale Besonderheiten in touristische Angebote eingeflochten, die ihrerseits auf einem globalen Markt mit internationalen Standards mithalten müssen. Diese im Spannungsverhältnis von lokalen Besonderheiten und globalen Ansprüchen modellierten Tourismuspakete handeln Tourismusexperten, wenn sie ökonomisch erfolgreich sind und ökologische und soziale Interessen berücksichtigen, als gute Beispiele (best practice). Sie stellen das im Einzelfall bestmögliche, selten jedoch das für den Idealfall wünschenswerte dar.
Sicher: Als Folge massiver Kritik an den ökologischen und sozialen Kosten des touristischen Geschehens von NGOs im Süden und im Norden sowie der auf diese Kritik gründenden Initiativen, die für eine gemeindebasierte Tourismusentwicklung eintreten, beherrscht heutzutage die Suche nach umweltschonenden Reisekonzepten zumindest rhetorisch die internationale tourismuspolitische Debatte. Hinzu kommt, dass ein gestiegenes Umweltbewusstsein für eine entsprechende Nachfrage nach naturbezogenen Tourismusformen sorgt. Doch birgt diese Sensibilisierung für ökologische Themen ebenso die Gefahr des Missbrauchs: Seit Biologische Vielfalt als nutzbringendes und schützenswertes Gut in aller Munde ist, werben jegliche touristischen Angebote vermehrt mit Artenreichtum, Seltenheit und unberührter Natur. Gerne präsentiert sich der touristische Genuss von ÂWildnis als umweltverträgliche Alternative gegenüber anderen, deutlich destruktiveren Formen der Landnutzung wie Holzwirtschaft und Minenbau, ohne jedoch Naturerhalt, Gerechtigkeit und lokale Einkommensmöglichkeiten zu realisieren. Und die geforderte vorinformierte und aktive Teilnahme und Mitsprache aller Akteure, auch der einheimischen Bevölkerung, am touristischen Planungs- und Umsetzungsprozess, ist als eigentlich unverzichtbares Element nachhaltiger Entwicklung weit von einer Realisierung entfernt. Zwar gibt es hier und dort bescheidene, in langen Kämpfen mühsam erarbeitete Partizipationsmöglichkeiten. Doch Zeitdruck und fehlende Finanzierung für Vorbereitung, für Rücksprache und partizipative Meinungsbildung mit der Basis innerhalb der lokalen Gemeinden, so betont der Indigenous Caucus auf der 8. Sitzung der Kommission für Nachhaltige Entwicklung, kommen faktisch einem Ausschluss gleich. In der Realität kommen so unangenehme Dinge hinzu wie Vetternwirtschaft oder die Durchsetzung eigener Interessen (und mithin Konzeptionen), etwa von Vertretern der geldgebenden UNO-Organisationen gegenüber den NGO's oder von Entwicklungsagenturen gegenüber den lokalen Beteiligten vor Ort.
In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre zwischen der Suche nach Âguten Beispielen für einen nachhaltigen Tourismus und den nicht endenden Studien über die destruktiven Folgen des Tourismus sowie fehlender Partizipation steht das Internationale Jahr des Ökotourismus 2002 (IYE). Entsprechend ambivalent gestalten sich die rund um den Ökotourismus kreisenden Debatten. Ein wechselseitiges Betonen von ökologischen und sozialen Aspekten führte bei einem Teil der tourismuskritischen NGOs in Nord und Süd letztlich zu einer Infragestellung des Begriffs (t. i. m. -team 2002) im Vorfeld des Ökotourismusgipfels. Die Forderung einer Evaluierung (ÂReviewÂ) des Konzeptes, einschließlich der unter ökotouristischer Rhetorik praktizierten Tourismusentwicklung, ist u. a. Ausdruck einer Skepsis insbesondere von NGOs im Süden gegenüber dem von internationalen Umweltorganisationen eingebrachten Interesse einer globalen Allgemeinheit an der ÂRettung des Planeten und der biologischen Vielfalt. Doch unabhängig davon, welche konkreten Bedingungen oder Kriterien für einen nachhaltigen Ökotourismus von den verschiedenen Akteuren als unverzichtbar angesehen werden, scheint nach einem enttäuschenden Weltgipfel zum IYE in Quebec im Mai 2002 und seiner wenig aussagekräftigen Abschlusserklärung (Pils 2002) in der NGO-Szene Einigkeit darüber, dass mit der ÂPromotion eines Nischensegmentes allzu leicht von der Notwendigkeit einer Trendwende für das gesamte touristische Geschehen abgelenkt würde. Das Postulat der Nachhaltigen Entwicklung könne für den Tourismus nur durch eine Ökologisierung der gesamten Branche schlechthin verwirklicht werden, zudem müsse Ferntourismus zur Armutsbekämpfung beitragen (AG Rio+10/DANTE 2002). Insofern zeichnet sich ab, dass die kritische Debatte, statt über Definitionen des Ökotourismus zu streiten, sich letztlich auf die übergeordnete Frage konzentriert, wie denn nachhaltiger Tourismus als Teil einer nachhaltigen Entwicklung an sich zu gestalten sei.
Hier wird versucht, die Kritik am aktuellen touristischen Geschehen, die sich dem Leitbild einer nachhaltigen Tourismusentwicklung verpflichtet fühlt, auf einige Schwachstellen hin abzuklopfen. Die im Folgenden geäußerten Bedenken gelten ebenso für die Hoffnungen auf einen Ânachhaltigen ÖkotourismusÂ.
Im Süden wie im Norden wird Tourismus gerne als so profitabel präsentiert, dass einige Entwicklungs- und Naturschutzorganisationen vom Â(Öko)tourismus als einem neuen Instrument zur Finanzierung des Naturschutzes schwärmen. Ehemals als Landschaftsfresser (Krippendorf 1988) kritisiert, mutiert Tourismus jetzt zum Landschaftsschützer. Durch die teuer bezahlte Naturerfahrung sollen laut Tourismusexperten Einkommensalternativen geboten werden, die gegenüber der körperlich harten und naturverbrauchenden Wald- und Landarbeit aus sozialen wie ökologischen Gründen langfristig vorteilhaft seien. Damit sind die drei Säulen der Nachhaltigkeit â ökologisch tragfähig, sozial gerecht und wirtschaftlich ergiebig â schnell in eine argumentative Kette eingereiht.
Wenngleich die zahlreichen und sehr engagierten Initiativen für einen nachhaltigen (Öko)Tourismus in ihrem jeweiligen Kontext zu betrachten sind, so lassen sich doch eine Reihe grundsätzlicher Bedenken anmelden, die in Bezug auf ein geradezu programmäßiges Befürworten einer nachhaltigen Tourismusentwicklung, wie es sich in internationalen Entwicklungsinstitutionen abzeichnet, zu denken geben. Stichwortartig wird hier aufgeführt, welche Voraussetzungen - gerade auch in der an sich sinnvollen Suche nach Âguten Beispielen - viel zu selten zur Debatte stehen, obwohl sie das Verhältnis von ÂReisenden und ÂBereistenÂ, von Angebot und Nachfrage, in einen von herrschaftlichen Zügen durchdrungenen Rahmen setzen. Es sind Bedenken, die in der Suche nach dem Richtigen und Falschen in der touristischen Entwicklung leicht aus dem Blick geraten und in dem handlungsbezogen Bemühen um best practice keinen Platz mehr haben, wobei diese Auflistung bewusst provokativ ist und damit zur weiteren Debatte einladen soll.
Die mit der Nachhaltigkeitsdebatte auftretenden Tourismuskonzepte gründen demnach weitgehend auf kulturbewahrenden und naturschutzklassischen Vorstellungen. Ergänzt von postfordistischen Entwicklungsparadigma können diese Ideen möglicherweise ökologisch verträgliche Reiseformen hervorbringen, ohne jedoch die herrschaftsförmigen Rahmenbedingungen anzugreifen, in denen sich das ferntouristische Geschehen realisiert. Postfordistische Produktionsweisen und Organisationsprinzipien bringen zusammen mit einem im Kern konservativen Naturschutzgedanken (Âwir sitzen alle in einem BootÂ), einem paternalistischen Entwicklungsparadigma (das Know-How des globalen Umweltmanagements generieren internationale Organisationen unter Mithilfe lokaler Kompetenz), und einem Rückgriff auf ethnisierende, traditionsbewahrende Konzepte Âkultureller Identität letztlich eine globale touristische Klassengesellschaft hervor. Der ÂSüden tritt als Hüter und Bewahrer der Natur auf. Den immobilen, am typischen Standort verorteten typischen Bereisten stehen die mobilen TouristInnen gegenüber, die immer tiefer in das Leben der Ânaturhütenden Gesellschaften vordringen, in das Innere der Orte, bis in das Privatleben der Familien, ohne dass diese (meist aufgrund ihrer Armut) eine Wahl haben (Rao 2002). Rassistische und dominanzkulturelle Muster tauchen im Marketing für gemeindebasierte Tourismusprojekte wieder auf, wenn von unberührten Landschaften und ursprünglichen Lebensweisen der BewohnerInnen die Rede ist. Die so definierten Rollenzuweisungen erlauben kaum Gestaltungsfreiräume und brechen nicht mit dem ungleichen Verhältnis zwischen ÂReisenden und ÂBereistenÂ. In diesem Sinne erlaubt die Nachhaltigkeits- und Ökotourismusdebatte in ihrer aktuellen tourismuspolitischen Rahmung durchaus, dass Tourismus nach bestehenden herrschaftlichen Mustern (ökologisch) reproduziert wird (Backes 2002a: 34). Denn eine ausschließliche Orientierung an ökologischen Vorsorgeprinzipien ignoriert die Dialektik sozialen Wandels (Hein 1997) und behindert den notwendigen Wandel der Dynamik gesellschaftlicher Selbstorganisation, ohne den eine nachhaltige Entwicklung nicht zu haben ist.
Rückblickend wird deutlich, dass die nunmehr seit 40 Jahren geführte kritische Auseinandersetzung mit dem Tourismus auf sehr unterschiedlichen Prämissen gründet und die Kritiken sich heute gegenseitig kreuzen und durchdringen. Erst hatten große Erklärungsversuche Konjunktur, doch blieb angesichts einer weithin wirkungslosen Kritik und steigenden Tourismuszahlen der Vorwurf ideologischer Scheuklappen der ÂFundis nicht aus. So reagierte die kritische Debatte auf die verflochtene Struktur des Tourismus und seiner Akteure mit einer Palette von Ansatzpunkten, angefangen bei Ethikkodizes und Selbstverpflichtungen bis hin zur strukturpolitischen Rahmung des Tourismus. Allerdings drehte man mit dem ÂScheitern der Großen Theorien (Menzel) den frühen Erklärungsmodellen den Rücken zu, statt ihre Fehlannahmen und Fragwürdigkeiten von den richtigen Einsichten zu trennen (Stock 1999). So ziehen sich kulturbewahrende und naturschutzklassische Vorstellungen bis heute durch die Debatte. Die Dialektik von Freizeit und Arbeit wird als quasi natürliche Gegebenheit hingenommen. Dass nur etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung überhaupt in den Genuss einer Urlaubsreise kommen, gerät dann aus ökologischer Sicht leicht in die Nähe globaler Bedrohungsszenarien und wird kaum mehr als Ausdruck von Machtverhältnissen oder ungleicher Chancen verstanden.
Sicher war es, als umweltpolitische Aspekte auch auf etablierten politischen Parketten zunehmend Gehör und in ersten Abkommen ihren Niederschlag fanden, verlockend und auch richtig, endlich konkrete Konzepte zu entwickeln. Mit einem Beharren auf der Realität und deren Sachzwänge sowie einem Festhalten am Nachhaltigkeitsparadigma als kleinstem gemeinsamen Nenner läuft die tourismuskritische Debatte jedoch Gefahr, sich nur noch am Machbaren statt am Wünschenswerten zu orientieren. Als vorläufiges Ergebnis auch des weitgehenden Verzichts auf eine herrschaftskritische Systemanalyse bleibt, dass ein Teil der umweltrelevanten Aspekte nunmehr Eingang in die Politik fand und sich etablieren konnte, während Aspekten der sozialen Gerechtigkeit lediglich die Rolle des wenig beachteten Mitläufers bleibt.
Wer reist, will etwas Nicht-Alltägliches erleben. Möglich ist das nur, weil im Tourismus Fremdheit in Szene gesetzt wird. Mit der Metapher der ÂBackstage will die Tourismuskritik die vielfältigen Rollenspiele und Bildproduktionen im ÂFremdenverkehrÂ, aber auch dessen Produktionsverhältnisse in den Blick bekommen.
Der Reisebus mit deutschen Urlaubern windet sich die Passstraße zum österreichischen Bergdorf hinauf. Dort entsteht Hektik: Das Auto wird in der Scheune versteckt, der Motormäher durch die Sense ersetzt und der Fernseher in den Schrank zurückgestellt. Die Bewohner tun alles, um ein traditionelles Bergidyll zu inszenieren. Die Absurdität kulminiert beim Alpenglühen, das wiederholt werden muss, weil einige Touristen den Auslöser des Fotoapparats nicht rechtzeitig bedienen. Erst als die Sonne durch den Einsatz ausgeklügelter Spiegeltechnik noch mehrfach den Horizont überschritten hat, kann das Dorf zur Normalität zurückkehren.
Dieses Beispiel aus dem Film ÂDie Fremden kommen macht mittels satirischer Überzeichnung deutlich: Im Tourismus wird Theater gespielt. Das Verständnis von Tourismus als Inszenierung legt die Metapher der ÂBühne (Stage) nahe. Auf ihr wird aufgeführt, was die TouristInnen zu konsumieren wünschen - mal mehr, mal weniger in Szene gesetzt. Für Reisende gibt es damit entweder die Möglichkeit, sich mit der Inszenierung zufrieden zu geben, oder aber zu versuchen, hinter den Vorhang zu blicken und mehr von der nicht-touristischen Wirklichkeit zu erfahren.
Doch wo eine Bühne ist, gibt es auch eine Hinterbühne (Backstage). Der Begriff Backstage wurde bereits Ende der 50er Jahre von Erving Goffman geprägt und Ende der 70er von Dean MacCannell für den Tourismus weiterentwickelt. In aktuellen tourismuskritischen Debatten erfreut er sich zunehmender Beliebtheit, um eine differenziertere Sichtweise touristischer Phänomene zu erreichen.
Bei der Trennung von Front- und Backstage liegt zunächst die Interpretation nahe, jeglicher Tourismus sei eine einzige Inszenierung, hinter der sich die authentische Wahrheit befinde. Diese Auffassung greift jedoch zu kurz, wie auch der Vorwurf, TouristInnen würden eine Inszenierung nicht durchschauen. Weiterführender ist dagegen die Verflechtung von zwei Perspektiven: die der TouristInnen und die der Beschäftigten und sonstigen vom Tourismus Betroffenen. Ihre wechselseitige Funktion in der Sehnsuchtsproduktion und âbefriedigung bedingt, was gesehen wird oder aber dem touristischen Blick verborgen bleibt. Der Backstage-Bereich kann damit in mehrere Ebenen aufgeteilt werden: erstens der Produktionsprozess inklusive der ökonomischen, ökologische und sozialen Folgen der touristischen Aktivität, zweitens die Bildproduktion und die selektive Wahrnehmung sowie drittens das Bühnenspiel der Begegnung zwischen TouristInnen und Beschäftigten.
Trotz der unmittelbaren Nähe der für das Plaisir der TouristInnen inszenierten Vorderseite zu der für die Bereitstellung der Infrastruktur notwendigen Rückseite sind die Produktionsverhältnisse im Tourismus für die Touristen nicht transparent. Das betrifft beispielsweise die prekären Arbeitsbedingungen der im Fremdenverkehr Beschäftigten, den Verlust von Land, den Devisenabfluss für tourismusinduzierte Importe, die Verschuldung, die ökologischen Konsequenzen und die politischen Entscheidungen zugunsten von Tourismusentwicklung. Dabei gilt: je durchorganisierter ein touristisches Setting ist, desto penibler werden die Bereiche der Bereitstellung und Produktion von denen der Freizeit und des Konsums getrennt. Das extremste Beispiel ist ein Kreuzfahrtschiff: In seinem Rumpf arbeiten bis zu tausend Menschen, die Mehrzahl davon, ohne dass Reisende sie jemals zu Gesicht bekommen.
Außer den direkten DienstleisterInnen gibt es noch eine Reihe anderer Akteure, die an der Erstellung der touristischen Kulissen beteiligt sind. Hierzu gehören Tourismusunternehmer und Werbeagenturen sowie Verantwortliche aus Politik und Administration, oder aber auch NGOs, die sich mit Tourismus befassen. Die Aktivitäten dieser Akteure bleiben Reisenden normalerweise ebenfalls verborgen.
Die Hinterbühnenrealitäten werden teils bewusst in den für TouristInnen unsichtbaren Bereich gedrängt, oder aber sie entgehen der unbewusst selektiven Aufmerksamkeit der TouristInnen. Die Herstellungsbedingungen und Auswirkungen touristischer Entwicklung haben in den Vorstellungswelten von den Urlaubsparadiesen kaum etwas verloren. Im Gegensatz zum Blick auf die imaginäre ÂUrsprünglichkeit hinter den Kulissen regt die Hinterbühne der Produktion auch nicht zur Reisedokumentation an. Erstens ist sie nicht einfach zugänglich, zweitens entspricht sie nicht den Urlaubsvorstellungen der Reisenden.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Schattenseiten der Hinterbühne weder in Reiseprospekten noch in Fotoalben oder Urlaubserzählungen erscheinen. Dringen sie dennoch in die Aufmerksamkeit der TouristInnen, erregt dies Missfallen. Dann ist von verfallenden Kulturen die Rede oder ergeht die Aufforderung an Einheimische, sich doch endlich des Müllproblems anzunehmen, das der Tourismus geschaffen habe, sonst könne man ja nicht mehr herkommen. Rassistische Stereotype über die Unorganisiertheit der Einheimischen werden reproduziert oder beim nächsten Mal der Urlaub woanders gebucht. Es bedarf schon eines gewissen selbstkritischen Standings, wenn die schönste Zeit des Jahres um die Illusion des Schönen gebracht werden soll.
Die klassische Tourismuskritik hat die TouristInnen oftmals dafür kritisiert, schlechte TouristInnen zu sein, und sie aufgefordert, hinter den Vorhang zu schauen, um eine bessere Vorstellung von den ÂEinheimischen und ihrer ÂKultur zu bekommen. Diese Perspektive geht von der Möglichkeit eines (unverfälschten) Blicks hinter die Kulissen aus. Das Streben nach letzterem ist besonders bei RucksacktouristInnen weit verbreitet. Die Anschauung anderer, Ânormaler TouristInnen erregt den Wunsch zur Abgrenzung, den die Tourismuskritiker Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut mit dem Ausspruch Âdie Touristen sind immer die anderen karikierten.
In alternativtouristischen Kreisen ist der Begriff ÂTourist längst negativ konnotiert, weshalb sie das Wortpaar Tourist versus Traveller einführten: TouristInnen geben sich mit inszenierten Ereignissen zufrieden, Traveller beanspruchen Authentizität. Die Suche nach dem wirklich unberührten Strand oder das Bestreben mancher Backpacker, eine Teestube zu finden, in der man anstatt auf Âtouristischen Plastikstühlen auf Âauthentischen Holzbänken Platz nehmen kann, verweisen auf den Wunsch, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und ÂAuthentisches zu erleben, anstatt unexotischerweise am anderen Ende der Welt eine Busladung Landsleute präsentiert zu bekommen.
Die klare Dichotomie von vordergründiger Inszenierung und dahinterliegender Realität entpuppt sich jedoch schnell als brüchig, wenn sich die vermeintliche Authentizität ebenfalls als hergestellt erweist. Denn natürlich ist es geschäftstüchtigen Teestubenbetreibern zu Ohren gekommen, dass Backpacker aus unerfindlichen Gründen Holzbänke bevorzugen und einen sehr speziellen Sinn für Ästhetik haben. Folglich schaffen sie eine weitere Bühne, auf der die imaginierte Authentizität vorstellungsgerecht in Szene gesetzt wird (Âstaged authenticityÂ). Touristische Settings können damit als eine Abfolge von Bühnen mit unterschiedlichem Inszenierungsgrad oder als komplexe Bühnenlandschaften verstanden werden, die sowohl von TouristInnen als auch ÂBereisten strukturiert werden.
Während die Motivationen der TouristInnen und ihre Suche nach Authentizität in der Literatur vielfach beschrieben wurde, blieb die Perspektive der ÂBereisten häufig unterbelichtet. Im Gegensatz dazu - und auch im Gegensatz zur üblichen Tourismuskritik - weist eine Backstage-Analyse die einseitige Opferperspektive zu Gunsten einer Akteursperspektive zurück. Sie erkennt die Motivationen und Strategien der DienstleisterInnen an. Denn die im Tourismus Beschäftigten schaffen sich erfolgreich Spielräume, um nicht ihre gesamte Identität in den Dienst des touristischen Konsums zu stellen. Da sie aber vom Tourismus ökonomisch abhängig sind, erfordert dies ein strategisches Spiel zwischen den Vorder- und Hinterbühnen. Es wird im übrigen nicht nur von den Beschäftigten im Tourismus gespielt, die ja am meisten mit den TouristInnen zu tun haben. In touristischen Orten gibt es kaum Menschen, die nicht in irgendeiner Weise in den Tourismus involviert sind oder von ihm betroffen sind. Entweder ist man Tourist oder Teil der Inszenierung.
Vom Standpunkt der ÂDienstleisterInnen sind die Präsentation der Show (das Acting) und das Errichten von Bühnenvorhängen nicht nur Anpassung an die Wünsche der TouristInnen und damit ein Beitrag zum Lebensunterhalt, sondern auch eine wesentliche Strategie zur Wahrung der Privatsphäre. Es geht dabei um die Entscheidung, wie weit die ÂFremden in die eigene Lebenswelt eindringen dürfen und wie weit man Begegnung zulassen möchte, aber auch darum, mit welchen Accessoires die eigene Identität in der Inszenierung für die TouristInnen ausstaffiert wird. Es findet also ein wechselseitiger Prozess des Hinaustretens aus den Vorhängen der Hinterbühnen und des Hineinlassens in weitere Bühnen der touristischen Inszenierung statt.
Am bekanntesten sind Strategien, die oftmals aus ökonomischer Not heraus eingesetzt werden, um sich materielle Vorteile zu verschaffen, einträglichere Jobs zu bekommen oder den TouristInnen informell möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Einschätzung der touristischen Vorlieben und der relevanten Indikatoren für Authentizitäts- und Erlebnisgefühle sind dabei wichtige Kompetenzen. Besonders Tourist-Guides müssen dieses Repertoire beherrschen. Sind die TouristInnen mit der Performance des Guides zufrieden, weil er das Gefühl einer sicheren Grenzerfahrung oder eines anderen spektakulären, einzigartigen Erlebnisses erzeugt hat, ist das Trinkgeld besonders hoch. Zu den Überlebensstrategien im Alltagsgeschäft gehört aber auch die oftmals erfolgreiche Quasi-Nötigung der Souvenir-HändlerInnen zum Kauf.
Je nach Position in der Bühnenlandschaft sind die DienstleisterInnen ganz unterschiedlich an der Gestaltung der touristischen Performance beteiligt und nehmen verschienene Rollen als SchauspielerInnen ein. Das Servieren in einem Restaurant ist beispielsweise eine Vorderbühnenaktivität, die mit einer bestimmten Rolle verknüpft ist. Die Küche ist demgegenüber ein Backstage-Bereich mit anderen sozialen Regeln. Das Bühnenspiel lässt sich beispielsweise beobachten, wenn die Bediensteten beim Durchschreiten der Tür zwischen Küche und Restaurant auf den Gesichtsausdruck Âlächeln schalten.
Andere DienstleisterInnen sind auf ihren Arbeitsbereich in der Hinterbühne festgelegt. Besonders MigrantInnen oder Angehörige diskriminierter Minderheiten dürfen die Vorderbühnen mit Kundenkontakt nicht betreten, sie müssen wie etwa Küchenhilfen oder WäscherInnen unsichtbar bleiben. Wegen der besseren Bezahlung der Jobs auf den Vorderbühnen ist die Backstage-Position eher unattraktiv. Die soziale Hierarchie unter den Arbeitskräften des Tourismus lässt sich daran untersuchen, wer Zutritt zu welchen Bühnen hat, welche Reputation diese Bühnen haben und wie groß die selbstgewählten Rückzugsmöglichkeiten sind.
Trotz der finanziellen Vorteile eines Jobs im Frontstage-Bereich wird die Rückzugsmöglichkeit hinter die Bühne von den meisten Beschäftigten im Tourismus als Privileg empfunden. Träger und Trekking-Guides beispielsweise ziehen sich nach der Arbeit zurück, treffen sich mit den Trägern und Guides anderer Reisegruppen und wollen in den seltensten Fällen, dass Reisende in diese Hinterbühne eindringen. Doch weil manche von diesen genau nach der Begegnung verlangen, die ihnen vorenthalten wird, gibt es entsprechende Angebote. Im ÂCommunity based Tourism mit Unterkunft bei Familien wird damit geworben, dass sowohl authentisches Wohnen, Übersetzungsdienstleistungen, Freizeitbeschäftigungen durch kulturelles Programm und ein freundschaftliches Verhältnis im Preis inbegriffen sind. Den TouristInnen wird die Möglichkeit der tieferen Begegnung zu geringem Aufpreis angepriesen, die Rückzugsmöglichkeit für die dienstleistende Familie (z.B. im Fall von Antipathie) wird dadurch jedoch stark eingeschränkt. Dies wird häufig mit dem Argument einer fehlenden Kultur des Privaten in bestimmten Reiseländern gerechtfertigt.
Während auf der Seite der TouristInnen die Unzufriedenheit mit ihrem Alltag zuhause häufig durch die Umkehr des Machtverhältnisses im Urlaub kompensiert wird, haben DienstleisterInnen im Tourismus diese Möglichkeit oftmals nicht. Ihre Chance besteht im Wechselspiel zwischen den Vorder- und Hinterbühnen und einem entsprechenden Maß an Widerstand. Nicht selten bestehen die Strategien im Umgang mit TouristInnen daher in Techniken der Ironisierung oder der Subversion, die dabei helfen sollen, in einer hierarchischen Situation das Gesicht zu wahren und den zugeschriebenen Objektstatus zu durchbrechen.
In âA peopleâs storyâ beschreibt Macdonald eine Anekdote, die in einem Touristenort die Runde machte. Eine alte Frau wird von TouristInnen gefragt, ob sie schon einmal aus dem Dorf herausgekommen sei und ob sie denn die Stadt am Festland sehr groß finde. Sie antwortet, die Stadt sei schon ziemlich groß, aber nicht so groß wie Paris, Sydney und New York â und stellt damit die Zuschreibung der TouristInnen bloß, eine alte Frau aus einem solchen Dorf könne unmöglich selbst schon gereist sein oder etwas von der Welt wissen. Ihre Reaktion auf den touristischen Blick zeigt, dass Einheimische sich der Stereotype der TouristInnen über sie oft bewusst sind, dass sie mit diesen Bildern spielen und sie zuweilen ironisch konterkarieren. Das Beispiel demonstriert aber auch, wie vorsichtig und subtil die Kritik an den TouristInnen meist erfolgt. Über die allgegenwärtige Lästerei hinter dem Rücken der TouristInnen gehen nur diejenigen hinaus, die bereit sind, ihren Job zu riskieren.
Drastischer, aber ebenfalls versteckt, ist eine Strategie aus der Gastronomie: widerlichen Gästen in die Suppe zu spucken. Diese Form von stiller Rache für entwürdigendes Verhalten ist relativ hilflos, weil sie von den ÂGästen meist nicht einmal bemerkt wird. Immerhin verschafft sie eine kleine persönliche Genugtuung. In eine ähnliche Richtung geht eine Beobachtung aus Kenia. Massai, deren Tänze und Rituale für TouristInnen auf 10 bis 15 Minuten gekürzt wurden, um in den Plan der Rundreise zu passen, reagierten darauf mit der Anpassung ihres Textes. Sie sangen nun: ÂCome on you tourists, give us your money and then go away.â Drastischer noch ist die verzögerte Rache von Raftguides in Peru. Anstatt nervige KundInnen, die ihnen ihre Kamera in die Hand drücken, um sich bei der Befahrung von Stromschnellen ablichten zu lassen, fotografieren sie die eigenen Genitalien. Sie signalisieren damit, was ihnen die fotografische Urlaubserinnerung der TouristInnen wert ist.
Die Begegnung mit TouristInnen kann aber andererseits durchaus attraktiv sein, etwa weil diese ein (meist westliches) Lebensmodell verkörpern, das Chancen bietet, aus der eigenen empfundenen Enge der sozialen Verhältnisse auszubrechen. Die ÂJineteros in Kuba, die ÂBeach Boys in Gambia oder auch manche Artesanos aus Peru haben sich darauf spezialisiert, von TouristInnen ausgehalten zu werden und dafür ein sexuelles Verhältnis mit ihnen einzugehen. Teilweise wollen sie sich einfach nur eine nette Zeit machen, teilweise haben sie Hoffnung auf Migration nach Europa oder Nordamerika. Aber auch der Wunsch nach ökonomischem und sozialem Distinktionsgewinn innerhalb der eigenen Bezugsgruppe kann Motiv sein, sich mit TouristInnen zu umgeben. Unabhängig von allen Machtspielchen und Subversionsstrategien kann es aber auch vorkommen, dass aus Sympathie Begegnungen entstehen, die außerhalb der touristischen Inszenierung stehen, sogar dann, wenn die sozioökonomischen Disparitäten groß sind. Selbstverständlich ist diese Sympathie jedoch keinesfalls; ein Job muss schon sehr angenehm sein, damit er freundschaftliche Gefühle gegenüber dem Geldgeber aufkommen lässt.
Globale Dienstleistungsverhältnisse im Tourismus sind Herrschaftsverhältnisse, gegen die trotz aller Zwänge Widerstand geleistet wird, die aber auch Möglichkeiten der ÂBegegnung auf gemeinsamer Wellenlänge beinhalten. Interessanterweise ergeben sich die Spielräume für Begegnungen am ehesten, wenn bei TouristInnen der Wunsch nach Differenzerlebnis am geringsten ist und die Inszenierung von Fremde, Exotik und Spektakularität der Suche nach Normalität und Gemeinsamkeit weicht. Das Dilemma des Tourismus ist jedoch, dass er gerade von der Fremdheitserwartung lebt und bestrebt ist, ein für alle KundInnen optimal konsumierbares Differenzerlebnis zu erzeugen.
Durch den Blick auf Tourismus als Bühnenlandschaft erscheint das Aufeinandertreffen von TouristInnen und DienstleisterInnen als ein Spiel zwischen Vorder- und Hinterbühnen, in dem beide Seiten eigene Strategien verfolgen und versuchen, sich die touristische Realität möglichst erträglich zu machen. Daraus zu schließen, dass Tourismus ein Spiel mit Bühnenbildern und inszenierten Identitäten sei, an dem TouristInnen und Tourismusbeschäftigte gleichwertigen Anteil haben, verkennt jedoch, wie eingeschränkt die Handlungsspielräume der DienstleisterInnen im Gegensatz zu denen der TouristInnen häufig sind und wie stark die Warenförmigkeit der Beziehung in den Tourismus eingeschrieben ist.
Eine kritische Backstage-Perspektive verweigert sich daher sowohl der Zuschreibung eines Opferstatus der âBereistenâ als auch der postmodernen Faszination von Flexibilität und Inszenierung in prekären Dienstleistungsverhältnissen. Stattdessen nimmt sie kreative Formen der Gestaltung touristischer Begegnung in den Blick sowie soziale Praktiken des Widerstands innerhalb hierarchischer Verhältnisse, die normalerweise kaum Beachtung finden.
Bereits Ende der 1950er Jahre beschrieb der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman in seinem Buch ÂThe Presentation of Self in everydays life mit Hilfe der Theateranalogie, wie Menschen ihr Selbst auf den Bühnen des Alltags präsentieren, während die Hinterbühnen Zonen der Vorbereitung und Probe darstellen oder Flucht- und Erholungszonen sind. Der unerlaubte Blick hinter die Kulissen vermag den schönen Schein der Inszenierung zu erschüttern. Deshalb ist das Ensemble darauf bedacht, die delikate Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne zu kontrollieren, während das Publikum, zumindest seine neugierigeren Teile, ein notorisches Interesse daran hat, einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen (Vester).
Eine Weiterentwicklung der Bühnenmetapher im touristischen Kontext findet sich bei dem Tourismussoziologen Dean MacCannell. In ÂThe Tourist. A new theory of the leisure class analysiert er die Anordnung des sozialen Raums in touristischen Arrangements, indem er Goffmans Konzept der ÂVorderseite (oder âÂbühneÂ) und der ÂRückseite anwendet und zwischen ÂFassade und Âintimer Realität unterscheidet. In seinem mehrstufigen Bühnenmodell werden Fassade und simulierte Vorderseite sowie präparierte, gesäuberte und echte Rückseite voneinander getrennt.
Der Großteil touristischer Aktivitäten finde allerdings, so MacCannell, zwischen zwei Bereichen statt: Vorderbühnen, die als Backstage-Bereiche dekoriert würden, und tatsächliche Backstage-Bereiche, in die TouristInnen hineinlugen dürfen. Er geht davon aus, dass Âwas TouristInnen gezeigt wird, nicht der institutionelle back stage ist, wie Goffman definierte, sondern eine staged back Region, eine Sorte lebendes Museum. Hierunter fällt das Aufrechterhalten von Traditionen, die sich längst verloren haben und die um des Tourismus willen als leere Hüllen wieder auferstehen. Für dieses Phänomen prägte MacCannell den Begriff der Âstaged authenticityÂ.
Bei MacCannell haben die Beschäftigten im Tourismus zwar offenbar auch eine Rolle in der Gestaltung der Rückseite, in dem sie Inszenierungen vornehmen, Zugangsbeschränkungen festlegen oder Bereinigungen vornehmen, um den touristischen Blick nicht zu irritieren. Sein Hauptaugenmerk gilt jedoch der Motivation der TouristInnen. Er findet dafür klare Worte: ÂIst nicht jegliches Abfeiern von âDifferenzâ möglicherweise etwas Heimtückisches? Es ist das Saugen von Differenz aus der Differenz, eine Bewegung auf ein neues Level des alten arroganten westlichen Egos, das alles sehen, wissen und nehmen will; ein Ego, das isoliert ist in dem Glauben an die eigene Überlegenheit.Â
Der Gesellschaftskritiker Hans Magnus Enzensberger sah als Ursache für den in der BRD seit Ende der 50er Jahre auftretenden Massentourismus die unbefriedigenden Lebensbedingungen in der Industriegesellschaft. Wesentliches Element für die zunehmenden Reisewünsche sei nicht der Reiz der Ferne. Denn das Fremde und Exotische gab es schon immer, nur verlockend schien es früher sehr wenigen Menschen. Noch vor rund 200 Jahren wurden die Alpen als Âentsetzlich schaurige Landschaft beschrieben. Auch das Meer galt eher als Bedrohung denn als romantischer Ort der Sinnlichkeit und Erholung.
Enzensberger stellte das Fluchtmotiv in den Mittelpunkt seiner ÂTheorie des TourismusÂ. Die Menschen fliehen demnach vor der Unerträglichkeit des alltäglichen Seins aus einer zunehmend entfremdeten Lebens- und Arbeitswelt. Steckt damit tatsächlich eine massenhafte â wenn auch unbewusste â Kritik an kapitalistischen Zuständen hinter der fröhlich anmutenden Reiselust? Nicht zuletzt das boomende Last-minute Geschäft scheint Enzensbergers Thesen zum Teil zu bestätigen: die KundInnen wissen meist besser, was sie verlassen wollen, als was sie suchen und wo sie es finden (könnten). Reiseziele sind fast beliebig austauschbar geworden. Die Tourismusindustrie weiß diese wachsende Zivilisationsmüdigkeit zu nutzen und vermarktet exotische und vor allem heile Welten jenseits des Horizonts. ÂGlück ist käuflich verspricht der größte Touristikkonzern Europas, TUI. Hier sah Enzensberger das Dilemma des modernen Tourismus: die Freiheitsträume der Reisenden werden zur Ware, Reisen werden industriell hergestellt und gehandelt.
Doch Enzensbergers Fluchtthese betont zu stark die Kritik an der eigenen Gesellschaft, aus der man flieht. Denn bei genauerem Hinschauen handelt es sich bei den touristischen Bewegungen nicht um Flucht im eigentlichen Sinne. Urlaubsreisen führen rundrum versichert an einen anderen Ort und wieder zurück! Oft fährt man weg, um sich zu bestätigen, dass es zu Hause eigentlich doch ganz schön ist, und sowieso alles besser funktioniert, pünktlich und sauber ist. Länder des Südens eignen sich eben als Kulisse für einen schönen Urlaub, der eventuell auch ganz schön strapaziös werden kann, aber zum Leben auf keinen Fall. Ferien sind allenfalls eine Flucht auf Zeit.