»Gesamtlänge der unberührten Strände: 10.083 km« – Indonesien gewinnt. »Folklore-Echtheitswert: 9« »Sticht! Preisniveau: 1,4«, damit kann Guatemala trotz ausgezeichneter 1,6 gegen Indien einpacken. Die nächste Karte wird mit einem siegessicheren Lächeln umgedreht: Kolumbien! Alle wissen, was kommt: »Drogenverfügbarkeit: alles, überall« – unschlagbar.
»Touristenanzahl/Entfernungskoeffizient: 2,4!« »Sticht!« War bei Mosambik nicht zu erwarten, dass ausgerechnet Kambodscha gegenüber sitzt, ist aber auch Pech! »Abgedrehte-Story-Wert: 14!« Diese Runde geht eindeutig an Kambodscha. »Lebenslauftauglichkeit: 15« Da kann Australien mit Kenia mithalten, aber bei der Kriminalitätsrate gibt es Streit. Ist eine hohe jetzt erst recht cool oder doch eher abturnend? Man einigt sich auf cool (hat ja auch Einfluss auf den Abgedrehte-Story-Wert) und damit ist Australien raus.
So oder ähnlich würden sich wohl die meisten Reiseerzählungen als Quartettspiel anhören. In verschiedenen Kreisen stechen verschiedene Trümpfe, auf alle Fälle haben die Erzählungen aus der Ferne in jeder geselligen Runde Jokerqualitäten. Doch unterwegs klappt nicht immer alles wie geplant, und auch der Kontakt mit den Bereisten sieht nicht selten ganz anders aus als erhofft.
In der Schreibwerkstatt stories from paradise am 23. und 24. Oktober in Freiburg waren wir diesen Geschichten von gelungenen oder gescheiteren Begegnungen auf der Spur. In dieser Rubrik findet Ihr die Texte, die dabei entstanden sind.
Land in Sicht. Das Treiben an Deck der MS Vacanca hat sie aus ihrem, zwar nicht sehr guten, Schlaf gerissen. Die Wärme der Schiffsküche, an deren Seite sie sich vor der nassen, klebrigen Meeresluft geflüchtet hatten, hat sich in geschäftigen Lärm verwandelt. Benommen steht er auf und lugt durch das offene Fenster der Großküche: »There is milk for your dog«, sagte der Schiffskoch
Sie sind wieder da, diese kribbelnden Anzeichen von Fernweh. Da gibt es keine andere Lösung als Reisen, denkt sich die Geplagte. Zeit dafür hat sie und Verreisen, das kennt sie und liebt sie wie nur was. Und das ist jedenfalls auch der einfachste Weg, das Gefühl der Rastlosigkeit loszuwerden. Sie seufzt. »Ich bin eine Nomadin und werde es immer sein.« Auch wenn diesmal alles anders ist. Sie ist verliebt und es fällt ihr nicht leicht, einfach drauflos zu fahren, denn ihr Geliebter will auch berücksichtigt sein, selbstverständlich. Auch wenn sie das nicht so eng sieht, im Prinzip. Für ein paar Monate oder Wochen alleine herum zu ziehen, wie so oft vorher und vielleicht auch nachher wieder, warum nicht? Alleinreisen wäre das Einfachste! Aber es wäre dann auch eine andere Geschichte. Warum also nicht zusammen verreisen? Zu klassisch, ein weiteres 08/15-Heteropaar auf Reisen, zu gewöhnlich? »Lächerlich«, kommt es ihr bei diesem Gedanken über die Lippen. »Klassisch vielleicht, aber gewöhnlich auf gar keinen Fall!« Außerdem weiß sie, dass auch er gerne reist, schon viel gereist ist und sowieso immer verreisen will. Auch wenn er viel weniger Zeit hat als sie. Aber er kennt dieses Fernweh genannte Kribbeln. »Probieren geht über studieren«, platzt es in ihre Gedanken. »Wozu alles komplizierter machen, als es ist?«
»Ich will im Sommer nach Albanien«, sagt sie, »kommst du mit?« Reisen, seine Augen beginnen zu leuchten. Aber Albanien? Das sei für ihn ein eher unbeschriebenes Blatt, stehe nicht unbedingt an erster Stelle auf seiner Liste der noch zu bereisenden Länder. »Hört sich nach Stress an«, meint er in Gedanken versunken. Er wolle keinen Stress, er brauche Erholung, weil er danach sowieso wieder arbeiten müsse. Seine Arbeit mache ihm Spaß, aber der Nachteil daran sei, dass er im Gegensatz zu ihr, nicht einfach von heute auf morgen los könne, zumindest im Moment nicht. »Verstehst du, was ich meine?« fragt er. »Ich bin viel eher im Alltag gefangen als du und dann ratsch fatsch nach Albanien, das braucht Zeit!« Albanien, darüber habe er nur Bilder im Kopf, die ihm gar keine Erholung versprechen. Es kommen ihm eher Dinge wie Gewalt und Armut in den Sinn oder Vendettas. »Einfach mal nichts tun, wäre halt auch nicht schlecht.« Ob sie dort jemanden kenne. Das sei allemal gut für den schnellen Einstieg in ein fremdes Land. Oder?
»Ich will in den Osten oder Südosten«, sagt sie noch energischer. Albanien sei echt interessant, nicht gerade einfach und sicherlich auch nicht mit der besten Infrastruktur zum Reisen ausgestattet, aber Langsamkeit habe doch auch seinen Reiz. Das wäre sicher spannend. »Grenzerfahrungen sind doch nie schlecht, oder?« Das ist also die Motivation?
»Die Ukraine würde mich auch interessieren«, denkt sie laut weiter. Da hat sie schon viel drüber gehört. Die Dias, die sie neulich anschaute, ob die Bilder in ihrem Kopf mit den realen Erlebnissen korrespondieren würden? »Die Gegend wäre doch was, oder?« Sie jedenfalls habe sich gedacht, da könne sie doch mal länger hin und genauer hinsehen und überhaupt die Region besser erkunden. Und nebenbei ein bisschen Russisch oder Ukrainisch oder Estisch lernen? Wäre aber auch nicht schlecht, so eine Sprache zu können, neue Sprachen seien allemal ein Mehrwert, den mensch vom Reisen mitnehmen könne. Solange es nicht nur um Profit geht, sicher keine schlechte Sache. Und überhaupt: Nochmals in diese Gegend reisen, bevor das alles EU sei und in turbokapitalistischer Manier umgestaltet würde. Nicht, dass Veränderungen nicht gut wären, denkt sie, aber Kapitalismus ist nun auch nicht das Gelbe vom Ei. Auch wenn einem nicht viele Alternativen geboten werden. Und wer will schon ihn Armut leben? Reisen ohne Geld funktioniert jedenfalls nicht wirklich, auch so genannte IndividualistInnen haben die Taschen voller Geld, vergleichsweise jedenfalls, mit den Mindesteinkommen der Bevölkerung beliebter Reiseziele.
»Das Leben fordert einem schon einiges an Kreativität ab«, sagt sie in die Stille des Raumes hinein. »Alternativen entwickeln, es mal wieder mit Denken versuchen. Wozu haben wir denn ein Gehirn?« »Du hast ja recht«, murmelt er. In die Ukraine, bevor sie voll sei mit Deportationszentren und den politischen Auswüchsen der Festung Europa. Ob Menschen dann extra dorthin reisen würden, um diese Zentren zu sehen? Oder ob eine Art Demonstrationstourismus stattfinden wird, als Marktnischenangebot findiger Reiseanbieter? »Ist ja schon gut«, ruft er ungeduldig. »Ich will gar nicht dran denken, an was ich alles denken soll! Wir können bei Ökonomie anfangen und bei Ökologie aufhören. Oder bei Krieg, Ausbeutung und Ungerechtigkeit.«
Die Welt ist nicht nur sonnig, eigentlich eher bewölkt, da sind sie sich einig und froh zugleich, dass das Reisen für sie so einfach ist.
Aber wohin? Wenn sie sich schon bei der Entscheidungsfindung so uneins sind, wie wird dann die Reise überhaupt werden?
»Nordafrika, dahin könnten wir auch fahren.« Nette Gegend. Aber im Sommer? Er und sie werden sicher nicht die einzigen sein. Obwohl, nach Algerien verirren sich nicht so viele TouristInnen. »Irgendwo wird es also sicher auch Platz für uns geben!« Ob Nordafrika ein Kompromiss ist?
29 Euro ist nicht viel für ein Ticket nach Rom. Noch dazu mit dem Zug. Umweltfreundlich und bequem und darüber hinaus in angemessenem Tempo. Kein tagelanger Jetlag. Wären sie mit einem Billigflieger direkt nach Monastir, Marakesch oder Casablanca geflogen, dann wäre es sicher anders gewesen. Sie hätten stundenlang am Flughafen herumgestanden, schon beim Gedanken daran bekommt sie Gänsehaut. Obwohl Abheben und Fliegen etwas ganz Besonderes sind, erweckt die Sterilität von Flughäfen keineswegs Jubelstimmung in ihr.
Ob es stimmt, dass die Fährverbindungen von Napoli nach Tunesien wegen Terrorangst eingestellt worden sind? Oder war das wieder einmal eine der paranoiden Meldungen, die man auf den Travellerforen im Internet lesen kann oder die selbsternannte ExpertInnen erzählen? Wie sich wohl der 11. September auf den Tourismus in Nordafrika ausgewirkt hat? Sie erinnert sich an den Iran, wo sie damals, während der Anschläge war, an die Angst der Menschen dort, an ihre Furcht vor Vergeltung.
Der Ärger über den fast verpassten Zug ist noch nicht ganz verflogen. »Ist doch egal, ob du diese Kassette mitnimmst oder nicht«, hat sie wütend gesagt, »wegen deinem übertriebenen Materialismus verpassen wir noch den Zug.« Als wäre das Unterwegssein nicht schon die schönste Musik: Menschenmengen, verschiedene Sprachen, das Meer, der Zug. Freiheit für ein paar Wochen. Ob sie häufig streiten werden? Wie groß ist ihre Liebe? Wie belastbar? »Willst du eigentlich lange in Rom bleiben?« fragt er. »Ich höchstens ein, zwei Tage. Dann so schnell wie möglich raus aus Europa«, meint er im selben Atemzug. »Weiß nicht, mal schauen, was passiert, nur keinen Stress«, antwortet sie.
Europa so schnell wie möglich verlassen. Die TouristInnen sehnen sich jedenfalls danach. Wie wohl Tunesien ist? Eine populäre »All-Inclusive-Destination«, das weiß sie. Ob es dort Spaß mache zu reisen, ob alles zugepflastert sei mit Hotelburgen und Unterhaltungseinrichtungen für TouristInnen? Ein bisschen so wie Marokko wird es sein, denkt sie, oder wie die Türkei: viel Tourismus, dennoch angenehm. Diese Länder haben ihr gut gefallen. Schon anders das Leben dort, Frauen und Männer leben in zwei verschiedenen Welten, definitiv, in Marokko zumindest. Istanbul war anders, die Geschlechtergrenzen schienen ihr aber auch dort ziemlich starr. »Mutterschaft ist wesentlich für Frauen«, denkt sie laut. Dass sie keine Kinder wolle, zumindest nicht jetzt, rief bei vielen Menschen Skepsis hervor. Individualistin westlicher Prägung? »Die Familie steht ganz oben.« Das hat ihr auch ein marokkanischer Freund bestätigt. Ein anderer Gesellschaftsentwurf? Dennoch: westliche Ideen, das Leben betreffend, werden überall via Medien verbreitet. Mit dem westlichen Gesellschaftsentwurf verhält es sich wie mit Coca-Cola: Überall zu finden, sehr beliebt, viel zu süß, ungesund und klebrig. Für Tourismus gilt das sowieso. »Individualismus, ist das schlecht?« Sie hat gelesen, dass Homosexualität in Tunesien »nicht existent« sei und daher strafbar. Was ist also mit den Menschen, die anders leben wollen, die nicht Mutter sein wollen, nicht ein Leben lang für die Familie da sein wollen? »Ob Tourismus auch eine Chance ist für Menschen, die anders sind, als es die gesellschaftliche Norm will?« Sie wendet sich hilfesuchend an ihn. »Tourismus ist sicher nicht nur schlecht«, antwortet er rasch. Vielleicht nicht in Form riesiger Hotelanlagen und ausländischer Investoren, dem Ausverkauf ganzer Länder - der Weiterführung von kolonialen Mustern. Und der Lokalbevölkerung müsse in all diesen Projekten jedenfalls mehr Platz eingeräumt werden. »Irgendwie müsste man es anders machen, als es jetzt ist.« Was die Menschen in Tunesien wohl über Europa dächten? »Ewig lockt der Westen?« Oder ewig währen die Ängste des Westens. »Ewig soll jedenfalls die Bewegungsfreiheit aller Menschen sein«, fordert sie. Es ist absurd: Reisende EuropäerInnen auf der einen Seite, auf der anderen Seite jene, denen der Zutritt nach Europa verwehrt wird. Absurd, die Realität, in der wir leben, grausam geradezu.
Gastfreundlich sollen sie sein, habe er gehört. Ein gängiges Klischee, von ihm, der noch nie in einem arabischen Land war. Was dran ist an dem, was sie so zuhören bekommen haben? Immerhin schützt seine Anwesenheit sie vielleicht vor so manch unangenehmer Situation. »Beschützer brauch ich keinen!« sagt sie laut und sicher. Aber nicht immer alleine im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, das erleichtert sie dann doch.
»Ich geh noch schnell zum Meer, kommst du mit?« Mit diesen Worten wird sie geweckt. »Wir müssen packen und die nächste louage nehmen, sonst verpassen wir das Schiff«, antwortet sie. Hatte sie wir gesagt?
Wie schnell die Zeit vergeht. Die Erinnerung an den ersten Tag in Tunis ist noch frisch. Taxilenker feilschten wild um ihre Kundschaft. »Wir müssen vorsichtig sein, die wollen uns sicher bescheißen.« Warum Reisende immer glauben, dass sie über den Tisch gezogen werden? Tunis, eine schöne Stadt, könnte auch in Südeuropa liegen. Es hat lange gedauert, bis sie diese Stadt wieder verlassen haben. In aller Ruhe haben sich die nahe gelegenen Dörfer angesehen. Sidi Bou Said, das Theaterfestival mit KünstlerInnen aus dem gesamten Mittelmeerraum. Sami, der Fischer, der die gefangenen Fische wieder zurück ins Meer warf, kommt ihr in den Sinn. Fischen tue er zur Entspannung: das Rauschen des Meeres, die Weite. Gut nachdenken könne er da. Und Vegetarier sei er, was selten sei in Tunesien. Sami war auch der einzige Atheist, den sie auf Reisen getroffen haben. Er hat ihnen nahegelegt, nach Kerkenah zu fahren: »Wenn ihr weg vom Tourismus wollt, dann fahrt dorthin.« Kerkenah, die Punkinsel, wie sie den Ort später genannt haben. Wohl einst eines jener blühenden Tourismusdörfer. Ein Club hier, ein Hotelanlage dort. Alles schön säuberlich inszeniert für das touristische Wohlbefinden. Jetzt jedenfalls ist die karge Insel eher anarchistisch, voller Müll und Algen. Das Meer warm wie Pisse, Bierdosen am Strand, Ruinen ehemaliger Hotels und nie fertiggestellter Ferienanlagen. In diesen wachten Kettenhunde, zum Glück angeleint, um PunktouristInnen davon abzuhalten, dort zu nächtigen. „Wusste gar nicht, dass ich so schnell laufen kann“, hat sie gesagt, ganz außer Atem. Schön die Nächte auf dem Boot von Aisten. Ein simples Segelboot, klein und am Morgen vom Bett direkt ins Meer. Gut, dass sie Französisch sprachen, die paar Worte Arabisch, die sie wussten, wurden aber jedes Mal beklatscht. Wie sie in Remla getanzt haben, nicht ganz freiwillig, das tunesische Fußball-Nationalteam und zwei Reisende, in der kommunistisch anmutenden Jugendherberge. Bett, Tisch, Fenster. Funktional und billig. Feiern mit Boga, Keksen, Musik und Tanz. Schön haben sie gesungen. Ob der letzte Song die Nationalhymne war?
Und dann der Mann aus Sfax. »Habt ihr schon gegessen? Heute Nacht seid ihr meine Gäste.« Vor dreißig Jahren war er in Berlin, zwei Jahre lang. Wie gut sein Deutsch war. »Eure Sprache ist einfach«, erinnert sie sich an seine Worte. Die winzige Wohnung, in der er mit seiner dreiköpfigen Familie lebte, war ein trauriger Anblick. Zerplatzte Träume. »Was soll man machen, alles vergeht.« Immer wieder hat er diese Worte eingeworfen. Von dreihundert Dinar im Monat zu leben, ist nicht einfach. Das Couscous, das seine Frau gekocht hat, war wunderbar. Trotzdem schafften sie es nicht aufzuessen, bei 40 Grad im Schatten. Ob es ihr nicht schmecke. »Doch, doch lecker, aber es ist zuviel für mich«, antwortete sie beschämt. Ob es noch solche Läden gebe, wo man gebrauchte Dinge kaufen kann, hat der Mann aus Sfax gefragt. In Berlin, damals, hatte er sich ein Radio gekauft in einem dieser Läden, sogar Radioprogramme aus Tunesien konnte er damit empfangen. »Was soll man machen, alles vergeht.« Er hat es nicht geschafft, sich etwas Wohlstand in Europa zu erarbeiten. Radwan, ein anderer Bekannter aus eben dieser Stadt, hat zumindest einen BMW. »Schau, eine Wiener Nummerntafel« riefen sie überrascht und begrüßten den Insassen des Autos freudig. Später fanden sie sich mit Radwan und dessen Cousin im McDöner wieder, bei Kaffee und Zigaretten. Geburtstag habe er, 34 Jahre alt würde er heute, selbstverständlich seien sie eingeladen. Und falls sie später etwas bräuchten, ein Anruf genüge, kein Problem. Einfach wäre es vor dreizehn Jahren nicht gewesen, in Europa neu anzufangen. Eiserner Wille und sechzig Stunden Arbeit, darauf käme es an, noch heute, damit man sich ein bisschen Luxus leisten könne. »Warum Wien?« fragten sie. Das Geld hätte nur bis dahin gereicht. Sein Traum wäre eigentlich Kanada, antwortete er lächelnd. Jetzt ist Wien seine zweite Heimat. Irgendwo zwischen Tunesien und Österreich ist er zuhause. »Ob wir uns in Wien mal sehen werden?« fragt sie sich. Oder würde es der Alltag nicht zulassen? »Es liegt an uns!«
»Nur wer so verrückt ist wie wir, fährt mitten im Sommer in die Wüste.« Bald war klar, dass ein Trip nach Libyen am Visum scheitern würde. Die Erinnerung lockt ein Schmunzeln hervor. Der Zug nach Metlaoui war beinahe leer. Wie lästig und verzogen ihnen die drei Kinder mit der Frau zunächst vorkamen, »wie mensch sich täuschen kann.« Gemütlich war es dort, das große Haus am Gare de Sened, der gemütliche Innenhof, wo sie nachts lange diskutierten, Vater, Mutter, die Kinder und sie beide, über Bush und die Pauschalverurteilung der arabischen Welt zum Beispiel oder einfach über das Leben hier und in Europa. »Ich weiß jetzt, wie mensch Couscous macht«, sagt sie stolz. Und die Feigen aus Nachbars Garten waren die süßesten, die sie jemals gegessen hat. »Hoffentlich kommt Imen nächsten Sommer.« Imen, war cool, studierte Informatik in Tunis und spielte Schlagzeug in einer Hardcore-Band. Wie mensch Couscous zubereitet, war ihr egal, reisen wollte sie gerne, sehen wie Europa ist und Dinge kennenlernen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie existieren. Für sie bedeutet das Überwinden von Grenzen tausendmal mehr Aufwand als für die beiden.
Und die Höhlen mitten in der Wüste, der Sandsturm. Und heiß war es, so heiß, dass sie manchmal glaubte, die Tränenflüssigkeit in ihren Augen beginne zu kochen. Es hat sogar geregnet. Nicht viel, aber Regen in der Wüste? Sie haben geweint, als sie nach drei Tagen Abschied voneinander nahmen. »Ihr seid eine tolle Familie, ich habe mich sehr zu Hause gefühlt.« Wenigstens hatten sie ein paar Fotos, viele Erinnerungen und vielleicht werden sie Imen im Sommer wiedersehen, sie werden alles versuchen. »Kommt ihr nächstes Jahr wieder?«, diese Frage tauchte dabei in ihrer Erinnerung auf und sie wusste ziemlich sicher, dass das nicht der Fall sein wird.
An die Nächte in der Wüste, an Marcel dem Dromedar, an die endlosen Strände von Cape Bonne und an Algerien erinnert sie sich, an die drei Tage mit Rashed und Salem, und dass es gut war, nicht auch noch nach Libyen oder Marokko zu fahren. Mehr Abenteuer hatten sie sich davon versprochen. Aber sie haben auch so viel erlebt und gesehen. Wie angenehm es war, per Autostopp durch das Land zu ziehen. Eine Mitfahrgelegenheit ließ selten lange auf sich warten. Auch die vielen anstrengenden Situationen mit ihm, die heftigen Streits, belastend manchmal - und seine Eifersuchtsattacken hat sie auch nicht vergessen. Oft waren sie gänzlich unterschiedlicher Meinung und ihre Interessen divergierten. Momentan scheinen ihr diese Konflikte aber fast nichtig. Dass der Präsident des Landes ein Diktator ist und die Tourismusindustrie zum Großteil auf Ausbeutung basiert und kaum eine Frau in öffentlichen Cafés zu finden ist, auch daran denkt sie. Die schönen Erinnerungen, nicht ganz ohne bitteren Beigeschmack, aber sind es, die stärker sind und die Worte des Schiffskoch zauberten erneut ein lächeln auf ihre Lippen.
»Wie war’s am Meer?« fragt sie, als sie die Wiese verlassen, auf der sie die letzte Nacht geschlafen haben. »Die nächste louage nach Tunis müssen wir unbedingt nehmen!«
Kamel ist mittlerweile 73 Jahre alt. Dieses Alter merkt man ihm nicht an, wenn er mit blitzenden Äuglein über die Pläne für sein neues Café spricht. Seit dreizehn Jahren lebt er an der Teerstrasse zwischen Bordj Omar Driss und Hassi Messaoud im Südosten Algeriens. Etwa zehn Kilometer von seiner Wohnstätte entfernt, liegt Hassi Bel Gebbour, ein Ort mit einer warmen Schwefelquelle hinter vier oder fünf mickrigen Palmen, einem großen Militärgebäude, einer Militärschranke, einem Café und ein paar Häusern.
Kamel will nicht erzählen, warum er sich ausgerechnet diesen Platz zum Leben ausgesucht hat. Hier gibt es nichts. Hinter seinem »Haus«, das aus einiger Entfernung wie ein Schrotthaufen aussieht, liegen in 20 Kilometern Entfernung hohe gelbe Sanddünen. Vor seinem Haus befindet sich eine Teerstraße, und dann bleibt der Blick bis zum Horizont an nichts mehr hängen, eine unendliche unbewachsene Ebene breitet sich aus. Nähert man sich der Behausung, entdeckt man Gänge, die in den Schrotthaufen führen, und ein entsetzlich lautes Hundegebell hebt an. Aus allen möglichen Materialien - Wellblech, Holzstücken, Autoteilen oder Paletten - hat sich Kamel eine niedrige aber weit verzweigte Behausung gebaut, in der auch seine acht Hunde Platz finden, die ihr Revier und ihren Herrn unbarmherzig verteidigen. Überall hängen Schilder, flattern Fahnen, auf denen zu lesen ist: »Café du Triangle de Bermuda« (»Café zum Bermudadreieck«). Das ist das Café von Kamel, seine Überlebensgarantie, vor allem aber sein Kontakt zur Außenwelt.
Als wir bei Kamel halten, um ein wenig zu rasten, führt er uns sofort zu einem neuen Kuriosum, als ob seine Behausung noch nicht genug gewesen wäre. Vor zwei Jahren, erklärt uns der magere kleine Mann mit den langen grauen Haaren und dem grauen Bart, den er zu einem dünnen Zopf gebunden hat, sei ein Lastwagen nur fünfzig Meter vor seinem Haus liegengeblieben und ausgebrannt. Zwei Schweizer Touristen mit ihren Wüstenunimogs haben ihm das quaderförmige Gerüst des Lastwagenhinterteils vor sein Haus gezogen, und Kamel hat trotz mangelnden Werkzeuges und schwindender Körperkraft ganz langsam, aber unermüdlich daran gearbeitet, das Gerüst zu verkleiden. Nun steht da ein holzverkleideter Quader in der Wüste mit ordentlichem Fußboden und gezimmerten Stühlen darin: Kamels neues Café. Er bittet uns Platz zu nehmen und bietet uns einen äußerst starken und wohlschmeckenden Kaffee aus einer österreichischen Thermoskanne an, an der Wand hängen Fotobilder aus einem Schweizer Kalender. Seinen grauen Jogginganzug, die Adidas- Turnschuhe und die blaue Nordseefishermans-Wollmütze haben sicher auch europäische TouristInnen dagelassen. Auch die Lastwagenfahrer kennen Kamel. Sie halten an, wenn er mit seiner Plastikflasche am Straßenrand steht und geben ihm Wasser. Sie lassen ihm Reste für seine Hunde da und besorgen ihm Materialien für sein Café.
Es ist nicht einfach, sich mit Kamel zu unterhalten, denn er scheint sehr schwerhörig zu sein. Es dauert lange, bis er eine Zwischenfrage versteht, und so lassen wir ihn lieber erzählen und lauschen seinen Geschichten. Geboren und aufgewachsen ist er an der algerischen Mittelmeerküste, in der Kabylei. Im Zweiten Weltkrieg musste er für die französische Kolonialmacht in Europa kämpfen. Als er versuchte, zu einem Verwandten zu fliehen, der in Deutschland lebte, wurde er drei Monate in der Schweiz im Gefängnis festgehalten, bevor er nach Algerien zurückkehren musste.
Wir fragen Kamel, ob er sich ein richtiges Café wünscht, mit einer Glastheke, in der Cola- und Limonadendosen glänzen, mit einer Kaffeemaschine und Porzellantassen, mit einer Toilette und Telefon. Er winkt bloß grinsend ab. Das würde doch nicht für ihn passen. In Kamels Welt gibt es kein Geld. Alle Leute, die bei ihm halten, lassen ihm als Bezahlung für den Kaffee etwas zurück, das er brauchen oder bei den Lastwagenfahrern eintauschen kann.
»Cha don! Angmo, cha don!« Schlaftrunken rieb ich meine Augen. Wo war ich? Ach ja, in Ladakh, bei meiner Gastfamilie, in einem kleinen Dorf inmitten des Himalaja. Und ich hieß jetzt Angmo, nicht mehr Steffi, so hatte es die Familie am ersten Abend entschieden. Ein Blick auf die Uhr, 6:30, draußen war es bereits hell. Ama-le (die Mutter) stand vor meinem Fenster und forderte mich auf Tee, zu trinken. Aufstehen war angesagt.
Kaum hatte ich meine Zimmertür geöffnet, kam mir auch schon die Nonne entgegen und begrüßte mich mit den Worten: »Angmo, cha don!«. Ja ja, gleich, aber erst einmal wollte ich mir draußen am Bach die Zähne putzen und aufs Klo gehen. Ich stieg die Holzleiter zum Loch im Boden empor. Die Mauer rundherum ging mir bis zu den Kniekehlen. Na gut, dann musste ich ihnen eben meinen nackten weißen Hintern zeigen: »Guten Morgen, Dorf.« Danach schnell zum Tee trinken, sogar der Großvater kam mir schon mit den Worten »Cha don!« entgegen.
Endlich saß ich in der kleinen Küche mit meiner Tasse Tee in der Hand, fühlte die Wärme der Tasse an meinen Lippen. Ohne die Aufforderung der Nonne, den Tee zu trinken, hätte ich es vielleicht vergessen. Dann war es getan, die erste Tasse Tee am Tag war getrunken. Doch das war erst der Anfang, denn kaum hatte ich ausgetrunken, unterbrach die Nonne ihre allmorgendliche Rezitation der Mantras mit dem Satz: »Angmo, cha don!«. Ob es ein neues Mantra war, das Cha-don-Mantra? »Cha don! Angmo, cha don! Don-le!«. Ich schenkte mir eine neue Tasse des stark gezuckerten Tees mit Milch ein. Ama-le kam herein und sagte auf dem Weg zur Küche »Don-le«. Was sollte ich denn noch machen, mehr als Tee trinken konnte ich nicht. Es gab noch etwas Kholak (Gerstenbrei) zum Frühstück, dann ging es los, ein weiterer Arbeitstag begann.
Wohin wir gingen verstand ich nicht recht, aber wahrscheinlich zum Aprikosengarten, so wie fast jeden Tag. Die Kuh nahmen wir mit. Kurz darauf waren wir in dem Garten, in welchem es vor lauter Aprikosen gelb-orange leuchtete. Tausende Aprikosen lagen auf dem Boden und warteten darauf, von uns aufgelesen und entkernt zu werden. Stundenlang saßen wir da, entkernten die Früchte. Ich schwieg die meiste Zeit, denn was konnte ich schon Großartiges auf Ladakhi sagen. Körbeweise wurden die Aprikosen ausgeschüttet und wenn wir fertig waren, kam ein weiterer Korb. Zwischendurch wurde Buttertee gekocht, gesalzener Tee mit einem ordentlichen Stückchen Butter obendrauf. Mir wurde Tee eingegossen, die fünfte, sechste, siebte Tasse Tee an diesem Tag. Irgendwann war es mir egal. »Cha don. Don-le!«. Ein kräftiger Schluck, das Fett runter schlürfend, damit ich den Rest des Tees in Ruhe trinken konnte. Die Arbeit ging weiter, die Gespräche auch, aber ohne mich. Bis Ama-le mich wieder aufforderte »Angmo cha don! Don-le!« Ja, Ama-le, ich lächelte sie an, aber innerlich dachte ich mir, verdammt, ich kann meinen Tee auch alleine trinken, lasst mich endlich in Ruhe! Doch die Nonne stimmte ein: »Don-le!«. Und ich leerte meine Tasse Tee. Und während ich trank, forderte mich auch noch der Vater auf, Tee zu trinken. »Dik-le« sagte ich immer wieder, es ist okay, ich brauch keinen Tee und »dangs-le«, ich bin voll. Aber das half nicht viel. Sie versuchten, mit mir über andere Dinge zu sprechen, wiederholten bestimmte Wörter immer wieder, aber mehr als »Hamago-le« (Ich versteh es nicht) antworten und grinsen konnte ich nicht. Das brachte uns wenigstens gemeinsam zum Lachen. Aber dann kehrten sie doch wieder zum Tee-Dialog zurück.
Am Ende eines langen Tages lag ich schließlich im Bett. »Cha don! Cha don!« schwirrte es mir im Kopf herum und ich freute mich auf eine große Tasse Milchkaffee, sobald ich wieder in Deutschland sein würde. Da war ich nun, in Ladakh, machte dieses Projekt mit, um das Land besser kennen zu lernen als die »normalen« TouristInnen und zum Austausch. Aber ohne eine gemeinsame Sprache ist es gar nicht so einfach. Dankbar wird man für die kurzen Momente, die man wirklich teilen kann, wie das gemeinsame Lachen, einen verstehenden Blick und das vage Gefühl, gemeinsam an einer Sache zu arbeiten.
Angefangen hat meine Reise in Deutschland. Bei meinem sozialen Jahr in einem Freizeitzentrum für psychisch Kranke. Die Leute dort haben oft Angst zu vertrauen vor allem sich selbst. In einer gewissen Form kommt das wohl jedem bekannt vor. Während dieser Zeit kam eine Theaterwandertruppe aus Marseille nach Deutschland. Es war ein Projekt das zur Unterstützung von Randgruppen ins Leben gerufen wurde. Es gab eine brasilianische Streetdance-Truppe, Gesangslehrer, Schauspieler, teilweise arbeitslose Laien. Ich war bei der Betreuung der Marionettenbautage und dem Gesangsunterricht und die Stimmung war erstaunlich gelöst. Die unterschiedlichen Arbeiten mündeten am Ende in ein beeindruckendes Straßenzugspektakel. Wild liefen die Gaukler durch eine triste, vermuffte kleine Stadt. Stelzenläufer, Sänger, Schauspieler riefen und lärmten das Rathaus zu erstürmen . Einer der Tänzer löste sich aus der Menge und verschwand im Rathaus gefolgt von seinen Kumpanen schwenkte er mit lautem Gebrüll die Flagge des Schiffs Massalia, ihr Wahrzeichen. Der Zug zog langsam ins Rathaus nach, wo über Monitore die Übertragung der Darbietung der Gefangenen gezeigt wurde. Im Innern war es dunkel, die Gruppe stand im Säulensaal verteilt auf drei Galerien sie sangen langsam weiter. Im Konferenzsaal war zur gleichen Zeit ein mit blutüberströmter Jesus, der unter seiner Last auf den Konferenztischen zusammenbrach. Er war einer von den Straßentänzern. Eine Frau von der Galerie hoch oben ließ Sand in die schattige von Lichtstrahlen durchbrochene Säulenhalle rieseln. Hier hatte jeder eine Stimme.
Sie hatten mich eingeladen nach Marseille zu kommen und Sie dort zu besuchen und fünf Jahre später bin ich dort, mit meiner Schwester. Wir suchen das Theater, den Ort, wo sich all die Gruppen zusammengefunden haben. Ich habe eine Telefonnummer in der Tasche. Ich könnte bei Ihnen wohnen haben sie gesagt. Ich rufe nicht an. Nach einigen U-Bahnfahrten laufen wir durch eine kahle Gegend hinterm Bahnhof, fragen uns durch. Die Sonne ist grell und heiß, der Himmel knallblau. Irgendwo hinter den Baracken sind Hotels, Restaurants, die Altstadt, Denkmäler und der Strand. Die Stadt liegt teilweise felsig hoch am Meer. Die Schiffe am Hafen laufen auf der ganzen Welt ein. Um uns nicht viele Menschen nur ein paar Transporter werden be- oder entladen. Industriehallen. Wir stehen vor der Einfahrt. Hier soll es sein. Wir gehen in einen Hof . Rechts ragt eine riesige Mauer mit gigantischen Graffitibildern. Gegenüber eine Halle mit tiefen Decken. Die Türen sind herausgenommen im Innern ist es modrig. Man sieht Fetenüberreste und Geschreibsel an den Wänden. Eine Tür weist auf Werkstätten und Proberäume. Sie ist geschlossen. Etwas geknickt gehe ich wieder auf den Hof und wir laufen weiter durch ein Tor. Eine dunkle Durchgangshalle tut sich auf. Irgendwo kommt Wasser herein. Da sind Pfützen auf dem Boden. Jemand hat darüber eine Wäscheleine gespannt, an der bunte Wäsche hängt. Die Wände sind feucht. Auf der anderen Seit geht es einen anderen Hof. Dort ist ein schwarzer Proberaum. Wir treten ein und finden Programmhefte. Spielzeitpause. Zwei Leute räumen dort Kabel zusammen, Sie grüßen uns. Ich würde Sie am liebsten fragen wo sie alle sind. Mache ich aber nicht. Es stört sie nicht, dass wir da neugierig stehen, aber bald gehen wir wieder.
Wir kommen auf einen Platz und dort ist der Eingang einer riesigen staubigen alten Halle, auf der mit Glühbirnen-Leuchtbuchstaben der Name des Theaters »la friche la belle de mai« steht. Es ist alles abgeriegelt . Wir sind müde. Meine Schwester legt sich auf den heißen Asphalt und schläft. Sie weiß das wir angekommen sind. Ich träume etwas vor mich hin. Enttäuscht das dort niemand ist, aber froh endlich dort zu sein. Da kommt ein junge auf einem Motorrad auf den Platz geknattert. Er ist vielleicht zwölf. Ein Mann und ein kleinerer Junge kommen auch. Sie sind am anderen Ende vor dem Eingang sehe ich blinzelnd. Man hört die Züge in den Bahnhof rauschen. Der kleine Junge fährt begeistert mit dem zu großen Motorrad umher und der Mann schaut zu. Bald kommt er zu uns gefahren. Der kleine kommt auch gucken. Sie schauen wie meine Schwester schläft und reden munter französisch mit mir. Davon verstehe ich: elle est belle und sie fahren und laufen wieder wild davon. Nach einer Weile wecke ich sie und wir trinken Wasser. Im Tunnel wo die Wäsche hängt finden wir Lagerräume, dort stehen alte Theaterkulissen, Plastiken, eine alte schön verzierte Wanduhr, das Glas ist zersprungen, dreckige Pelze, Matratzen, Masken alte Unterröcke... Wir stöbern eine herum und machen dann noch ein paar Fotos.
Am Abend laufen wir in der alten Stadt umher. Dort ist Markt. Marktschreier rufen und Zigarettenhändler bieten ihre Stangen an. Ein kleines Mädchen läuft allein herum. Sie schimpft und gestikuliert wild mit den armen Sie scheint nicht bei sich. Da kommt eine Frau vorbei, sie sieht sehr jung und sehr schön aus und läuft schnell aber geschmeidig mit ihrer ihr sehr ähnlichen Tochter durch die Straße. Barfuß, braungebrannt zieht sie Ihre Tochter in die nächste Gasse. Ihre langen Haare und ihr Kleid wehen hinterher. Später es ist Nacht und die Stadt ist noch voll Menschen. Wir werden gefragt ob wir etwas rauchen wollen, aber wir sind in einer Seitengasse und der Mann wird immer zudringlicher, so dass wir auf die Hauptstraße am alten Hafen laufen.
Am Nächsten Tag fahren wir nach Cassis und lassen uns an einer Bucht neben den hochragenden Kreidefelsen nieder.
Dort ist es wunderschön.
Mein Café ist eine Insel inmitten eines Meeres hupender, stinkender, schrottreifer Autos, die sich träge durch die Straßen von Dakar quälen. Es ist der einzige Platz, auf den ich mich vor dem Chaos retten konnte. Es ist ein Beobachterposten in der frühabendlichen Geschäftigkeit, mein Rastplatz. Ein süßes Getränk, Limonade oder Saft - ich weiß es nicht - steht vor mir. Sein Zuckeranteil ist bestimmt höher als der des Wassers darin. Eiswürfel schwimmen im Glas und versuchen, der Hitze zu trotzen. Sie verlieren immer mehr an Umfang. Ich mag die Hitze, die Wärme auf meiner Haut. Die Schweißtropfen, die an meinen Schläfen hinunter perlen, bestärken das Gefühl der Wohligkeit. Soll das Fremde sein? Dakar – Berlin, sieben Stunden bis nach Hause in einem Flugzeug. Dakar, eine andere Welt. Was tue ich hier? Niemand hat mich darum gebeten, in dieses Flugzeug zu steigen, viele hingegen, es nicht zu tun. Alles, was mir lieb ist, ist nicht hier.
Mir gegenüber steht ein Eisblock, weiß, kalt und feindselig. Viel zu kalt für meine Hand, die ihn anfassen will, sich aber nicht traut. Unberührbar. Aber ist er das wirklich? Meine Hand bleibt bei mir. Ein Eskimo würde sich nicht scheuen, das Eis zu brechen, um sein Ziel zu erreichen, egal welches. Für mich jedoch ist es ein Hindernis, das mich bezwingt und mir seinen Willen aufdrängt. Ich selbst bin willenlos, sein Wille überwältigt mich und macht mich unfrei. Was will der Eisblock hier, warum steht er mir im Weg und versperrt ihn? Mein Weg ist offensichtlich auch seiner. Warum müssen sich unsere Pfade kreuzen, warum müssen wir uns ausgerechnet hier begegnen, um schließlich ineinander zu verschmelzen? Ich will nicht mit ihm verschmelzen, will mich ihm nicht öffnen, ihm, dem Kalten, dem Unberührbaren. Zum Schmelzen bedarf es der Wärme. Ein Eisblock im Weg bedeutet das Ende jeder Begegnung, jeder Reise. Er versperrt, verdrängt, verlangt nach Raum, den einzuräumen man nicht bereit ist – und dennoch bin ich es, die Platz macht.
Kapitulation, aus und vorbei, Niederlage. Er ist fremd. Ich fasse ihn nicht an, nicht wissend, ob er wirklich aus Eis ist. Er sieht so aus, erscheint mir so, er muss ein Eisblock sein. Dennoch: mit Gewissheit und gutem Gewissen kann ich nur behaupten, dass er mir fremd ist, und ich nicht wage seine Bekanntschaft zu machen, auch wenn sich meine Hand die Berührung wünscht. Er befremdet mich, macht mich mir selbst unbekannt. Mein Wille gehorcht mir nicht, weil ich nicht mehr ich bin angesichts des Fremden, des Feindseligen. Ich werde zum Objekt meiner Betrachtung, betrachte mich nur von außen. Ich bin nicht mehr ich selbst, sondern eine Unbeteiligte, eine Fremde in mir, die mir den Weg versperrt. Bin ich mein eigenes Hindernis angesichts der Entfremdung und Verfremdung, die ich empfinde? Ist der Eisblock in mir oder ich in ihm oder stehen wir uns gegenüber? Womöglich sind wir schon eins, etwas Kaltes, weil die äußere Fremdheit eine innere ist. Fremde – das ist keine um Objektivität bemühte Zustandsbeschreibung: Fremde ist feindselig, hinterrücks und verschlagen. Wenn ich es positiv ausdrücken wollte, würde ich Unbekanntheit sagen, denn Unbekanntes kann bekannt, Bekanntes vertraut und Vertrautes geliebt werden. Fremde aber ist ein Eisblock, der hinter jeder Ecke lauert. Hier, hinter der nächsten Straßenecke, in meinem Bett. Unbekanntheit entfernt mich nicht von mir und meinem Willen, sie kann der Fremde trotzen. Nicht aber der inneren Entfremdung, sie lauert hier, in Dakar. Nicht, weil ich hier bin, sondern weil ich Ich bin.
Was setze ich dem Eis entgegen? Ich Mutlose, die ihre Hand nicht ausstreckt, um dieses Eis zu erwärmen, aus Furcht, die Finger könnten erfrieren. Blaue Finger, vor denen ich Angst habe, und Kälte, die mein Herz wie eine Klammer umfasst und nicht mehr freilässt. Würde ich mir das Fremde vertraut machen, würde ich den Eisblock berühren, würde er vielleicht schmelzen oder brechen. Er würde zu Wasser und gäbe mir den Willen zurück, die Kontrolle über eine Situation, in der ich eine andere bin. Doch meine zitternde Hand bleibt bei mir und wagt die Berührung nicht. Sie wendet sich ab, gibt auf. Im Abwenden wohl wissend, dass sie die Niederlage nicht mehr betrachten muss, die sich auf dem glatten Block, dieser eisigen Fläche widerspiegelt.
Mein Café ist keine Insel mehr, ist nicht mehr mein Café, und die Schweißperlen auf meinen Schläfen fühlen sich widerlich und kalt an. Ich will sie wegwischen, verwische sie dabei. Meine Limonade ekelt mich an. Ich muss weg hier, so schnell wie möglich. Ich springe auf, ertaste mit meiner Hand einige Münzen in meiner Tasche, die ich auf den Tisch werfe.
Die Eiswürfel in meinem Glas sind geschmolzen.
Manuelita sah von ihrer Arbeit auf, als Clara den Kopf zur Tür reinsteckte. »Wir haben Besuch. Ihr seid dran. Interesse an einer Deutschen?« –»Wie lange bleibt sie denn?« wollte Manuelita wissen. »Sie weiß es noch nicht, aber wohl nur wenige Tage. Also – willst Du nun oder soll ich die nächste auf der Liste fragen?« »Nein. Schon gut. Schick sie her. Wer weiß, wer als nächstes den Weg zu uns raus findet. Ist das wieder so eine Vegetarierin?« Clara überlegte kurz: »Ja. Ich denke schon. Aber frag sie am besten selbst. Schick um 12.00 Uhr dann jemand zur Unterkunft zum Abholen, o.k.?« Schon war sie verschwunden.
Manuelita ging in Gedanken durch, was sie noch an Vorräten da hatte, was ihr kleiner Garten derzeit an Essbarem hergab, was in den zwei winzigen kleinen Läden der Siedlung zu ergattern war. »Eine Vegetarierin« murmelte sie vor sich hin. Nicht dass es sonst dauernd Fleisch gegeben hätte. Aber mit dem Essensgeld eines unkomplizierten Gastes ließ sich immerhin gelegentlich eine Fleisch-Mahlzeit finanzieren. Und mit dem für so viele alltäglichen »Bohnenmus, Ei und Tortilla« waren ausländische Touristen nicht abzuspeisen. »Zu eintönig« hieß es bereits am zweiten Tag. Also wieder improvisieren. Wenn das hier so einfach wäre… »Maria, Flor, beeilt Euch, Ihr kommt zu spät zur Schule!« Die beiden 15- und 16-jährigen Mädchen waren gerade noch dabei, in ihre Schuluniform zu schlüpfen: die ewigen dunkelblauen Röcke mit weißen Blusen. Einige Minuten später standen sie, nach einem letzten prüfenden Blick in den kleinen Wandspiegel, an der Ausgangstür. »Habt Ihr auch den Schirm dabei?« – »Aber sicher, Mama. Wie sollten wir den denn vergessen, wo es hier schon wieder seit sechs Monaten jeden Nachmittag regnet?« Manuelita sah den beiden durch die Tür nach, wie sie den Grasweg der kleinen Kommunensiedlung hinaufstapften, bis sie aus ihrer Sicht bogen. »Neue Kleider werden sie auch bald wieder brauchen,« ging es ihr durch den Kopf. Nur – womit bezahlen. Ganze drei Wochen hatte sie schon nichts mehr von Alberto, ihrem Mann, gehört. Mies aber auch, dass sie ihn und seine vier Mitreisenden in Mexico ausgeraubt hatten. Immerhin hatten es die fünf dank guter Kontakte doch noch geschafft, von einem überteuerten »Coyote« über die Grenze geschleust zu werden. Dann hatte sie endlich erfahren, dass die fünf inzwischen provisorisch untergekommen und auf Jobsuche waren. Im Norden. Dass es mal so weit kommen würde, dass jemand aus dieser Siedlung Richtung USA abwandern würde, hätte sie noch vor wenigen Jahren als schlechten Scherz abgetan. Und dann auch noch ihr Mann.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn kennengelernt hatte, damals im mexikanischen Untergrund. Zwanzig Jahre war sie damals alt gewesen – er drei Jahre älter. Beide hatten sie an einer Guerilla-Ausbildung in Chiapas teilgenommen. Aufgefallen war er ihr gleich durch seine gütigen braunen Augen, seine kräftige Beschützerstatur, seine widerspenstige dunkle Mähne. Alberto war in Mexico nicht ihr einziger Verehrer gewesen, aber eindeutig der Hartnäckigste. Sie hatten es dann bei ihrer Rückkehr in die guatemaltekischen Berge geschafft, in dasselbe Camp geschickt zu werden.
Das Leben in den Bergen war hart. Es kam immer wieder zu Grenzbegegnungen mit Militärtruppen. So viele hatte sie vor und hinter sich tot zusammen sinken sehen. Aber immer hatte es irgendwie weitergehen müssen. Und ging es dann auch. Dennoch hatte sie ihren Entschluss, sich mit 18 Jahren der Guerilla anzuschließen, nie bereut. Wie hätte sie dem Gemetzel ganzer indigener Dörfer und der täglichen militärischen und politischen Willkür tatenlos zusehen können?
Guerilleras hatten ihre eigenen Wege, in den Bergen Schwangerschaften zu verhindern, aber manchmal versagten auch diese. Daher hatte sie bereits anderthalb Jahre später den Rückweg nach Chiapas antreten müssen. Ihr Sohn Edgar war unterwegs. Maria und Flor waren Edgar gefolgt – Exilkinder. Und dann Oscarcito, der jedoch mit zwei Jahren an einer Lungenentzündung starb. Auch in Chiapas gab es viel zu tun. Und dieser blutige Bürgerkrieg wollte und wollte nicht enden. Sie erinnerte sich, wie Edgar, ihr Ältester, heranwuchs und als Junge Kurierdienste für die Guerilla übernahm. Wie knapp er einige Male Hinterhalten entkommen war! Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Das Klappen der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Eben hatte sie ihn als Kind vor sich gesehen – und da stand er nun mit seinen 21 Jahren vor ihr. Edgar. Gut sah er aus. Kein Wunder, dass die französische Freiwillige, die eine Zeit mit der Familie gelebt hatte, sich prompt in ihn verliebt hatte. Und sie war sicher nicht die einzige gewesen, auch wenn ihr Sohn nie darüber geredet hatte. »Schön, dass Du gerade kommst. Holst Du um 12.00 Uhr unseren neuen Essensgast ab?« Sein rasches »warum nicht« quittierte sie mit einem dankbaren Lächeln.
»Naja, etwas älter, aber sieht doch ganz nett aus,« waren Edgars Gedanken, als Laura, »die Neue«, ihm entgegen kam. Und ihr Spanisch war auch ganz passabel. Solch eine Abwechslung war doch immer willkommen.
Edgar verbrachte fast jedes Wochenende hier draußen bei seiner Familie. Unter der Woche lebte er in Quetzaltenango, der nächsten großen, knapp zwei Stunden entfernten Stadt. Dort hatte er seine Ausbildung gemacht und arbeitete nun auf Kommissionsbasis für einen Schulbuchverlag. Sein Traumjob war das nicht. Aber immerhin konnte er so sein Zimmer in der Stadt finanzieren und sogar noch etwas zur Familienkasse beitragen. Mit seiner Heimat, der Siedlung Finca Santa Anita, verband ihn viel Widersprüchliches: Ihn nervten die Nachmittags-Regenschauer, die bis zu acht Monate im Jahr täglich alle Wege, Wiesen und Böden aufweichten. Und die häufigen Stromausfälle, wenn mal wieder Oberleitungen defekt waren. So vieles war in dieser Siedlung aufwendig oder unmöglich: Die weiterführende Schule, Läden mit etwas mehr Auswahl, ein Internetzugang. All dies gab es nur im nächst gelegenen Ort. Und nur mit unzuverlässigen, teuren Pick-ups erreichbar, deren blaue Planen den ständigen Regen nur teilweise abhielten. Das Internet war für ihn zunehmend wichtiger geworden, seit er im letzten Jahr Florence kennen gelernt hatte. Sein Fenster zur Welt. Mit Florence einmal auf den Eiffelturm in Paris steigen. Aber auch das würde wohl ein Traum bleiben. Oder doch nicht?
»Wie viele Familien leben hier?« Lauras Frage riss ihn aus seinen Tagträumen. »Dreizehn. Und alle haben als ehemalige Guerilleros in den Bergen gekämpft.« beantwortete er die noch ungestellte Frage seiner Begleiterin. Diese Frage kam immer.
Nun stehe ich hier mitten auf dem Bahnhof, ich habe mein Gepäck mit dem der anderen an der Gepäckaufbewahrung abgegeben. Ein kleiner, gebrechlich wirkender Mann hat es entgegen genommen, und eigentlich hatte ich den Eindruck, dass er es niemals würde heben können. Aber er konnte, wie so viele ältere Menschen ist er wohl zäher als er aussieht. Heute Abend fahren wir nach Hause, doch jetzt ist es noch nicht ganz Mittag. Man hat uns gesagt, das es in Budapest sehr viele Cafés geben soll, also machen wir uns auf die Suche. Doch außer einem McD gibt es keine Läden, in denen man einen Kaffee trinken kann. Das gleiche Problem hatten wir einige Tage zuvor auch, aber am Donauufer gab es wenigstens einige teure Restaurants hier, in der Nähe des Bahnhofs, fehlen auch die. Wir laufen also durch menschenleere Straßen, in denen es von Kellergeschäften nur so wimmelt, man kann hier alles kaufen, außer Kaffee.
Eigentlich haben wir schon aufgegeben, doch jetzt stehen wir vor einem chinesischen Restaurant, wir haben noch nicht gegessen und nehmen die Gelegenheit wahr. Die Speisekarte ist viersprachig und aus der Übersetzung ist nicht immer zu ersehen, um was es sich bei dem Gericht handelt, aber wenn man Deutsch und Englisch miteinander kombiniert, bekommt man eine ungefähre Vorstellung. Das Essen ist gut und günstig. Auch einen Kaffee haben wir bekommen, saustark und in Schnapsglasgröße wie hier üblich.
Wir entschließen uns dazu, die Stadt weiter zu begucken. Es gibt viele alte Häuser mit stark verrußten Fassaden und dazwischen immer wieder hässliche Neubauten. Es ist Mittag und sehr heiß, zu anstrengend um wirklich ergiebig spazieren zu gehen. Wir haben nun doch eine Kellerkneipe gefunden, ich habe aber den Eindruck, der Kellner mag uns nicht, er grummelt immer vor sich hin, wenn er zu uns rüber schaut. Er beantwortet die Frage nach Kaffee mit nein, obwohl er in der Karte aufgeführt ist, ich zeige darauf und er geht noch lauter vor sich hin grummelnd davon. Ich bin nicht sicher, ob wir etwas zu trinken bekommen werden. Ich versuche ein zweites mal etwas zu bestellen, dank der Hilfe eines Menschen, der ungarisch spricht, gelingt es mir endlich, und wir bekommen, was wir möchten. Doch kurz darauf macht man uns klar, das wir die höchst zulässige Verweildauer überschritten hätten. Immerhin dürfen wir bleiben, bis wir ausgetrunken haben.
Eine Gruppe junger Franzosen ist gekommen, sie haben sich mit dem Kellner darauf geeinigt Deutsch zu sprechen, er versteht sie offenbar sehr gut, denn nach kurzer Zeit häuft er Unmengen von Essen auf ihren Tisch, fast lächelt er...ich komme mir verarscht vor. Wir gehen. Nachdem wir die Kellerkneipe verlassen haben, schlendern wir wieder durch die grauen Straßen, ab und zu fotografiere ich etwas, habe dabei aber kein gutes Gefühl, irgendwie ist es seltsam irgendwo zu stehen und etwas zu sammeln, was die AnwohnerInnen nicht einmal anschauen. Nachdem sich einer von uns dreien durchgesetzt hatte, landen wir schließlich doch bei McD. Dort ist es kalt und ich möchte nichts essen. Na ja, ein sauberes Klo haben sie immerhin. In nicht einmal einer Stunde fährt unser Zug, wir kaufen Dinge für unser letztes Geld und holen unsere Rucksäcke ab. Auf dem Bahnsteig sitzen schon die anderen, wir treten nun zu fünft die Heimreise an.
Eigentlich war ich die ganze Zeit auf der Rückreise – von Estland nach Deutschland. Auch wenn ich nicht immer den direktesten Weg gewählt habe. Aber mit dem Zurück-Kommen, dem Wieder-Kommen, habe ich wohl erst in Ungarn angefangen: Als ich die Grenze überquerte, war ich wieder im Westen. Vielleicht wirkt dieses Land anders, wenn man es von Deutschland aus sieht, von der anderen Seite her kommend wurde mir hier klar, was mich in Deutschland wieder erwarten würde. Ich war einkaufen in Budapest, Vollkornbrot im »Kaisers«. Etwas schwermütig wurde ich bei dem Gedanken, dass dies nun wieder zur Normalität werden würde: Vollkornbrot und Supermarkt. Dabei hatte ich mich genau darauf anderthalb Jahre gefreut.
Als ebenso radikal empfand ich den Schritt über die nächste Grenze: Österreich. Bis Wien bin ich durchgefahren. Außer Straßen sah ich nicht viel vom Land. Straßen – und Werbung! Beides dafür in unfassbarer Menge. An keinem Plakat konnte ich vorbeigehen, ohne begierig jedes Wort zu lesen. Ich verschlang die deutsche Sprache. Es ging nicht anders. Ein Plakat ließ mich nicht mehr los: Ein weißer Strand, Palmen, zwei Liegestühle mit Sonnenschirmen. Alles riesengroß in leuchtenden Farben. Dazu der Text »Ohne private Altersvorsorge werden sie in Zukunft auf einiges verzichten müssen.« Lange stand ich davor. Zweifelnd. Erschüttert. Das sind also die Probleme der Leute hier. Wie ein Hohn auf die Menschen, denen ich auf meiner Reise begegnet war. Unvorstellbar dieses Bild, dieser Satz in einer rumänischen Stadt. Ebenso undenkbar in Kiew oder Vilnius. »Irgendwas«, dachte ich, »irgendwas läuft hier verdammt falsch«. Selten ist mir das so deutlich geworden wie vor dieser 3x4.50m großen Bretterwand.
Trotzdem, erst mal wollte ich weiter. In zwei Tagen wollte ich in Kassel sein und es wurde schon dunkel. Um einfach draußen zu schlafen, war es zu kalt Ende November. Doch ich kam nicht weg aus Wien. Endlich fuhren mich drei junge Burgenländern an die richtige Autobahn, Richtung Deutschland. Wie seltsam es war, Leute zu treffen, die dieselbe Sprache sprechen. Mit denen man sich unterhalten kann – oder muss. Und in jedem Auto die gleiche Frage: »Wo kommst du gerade her?« So oft ich auch gefragt wurde in dieser Nacht – es hat mich jedes Mal überfordert. Was sollte ich sagen? Woher kam ich gerade? Ich hatte keine Lust immer wieder von vorn anzufangen, aber vergeblich:
»Aus Ungarn«
»Ah, schön. Urlaub gemacht, was? Wie lange warst du dort?«
»Nur fünf Tage. Auf der Durchreise von Rumänien.«
»Rumänien? Wie interessant. Wie kamst du denn dahin?«
»Nun ja, ich kam aus der Ukraine. Also, eigentlich war ich in Estland...«
Nachts um drei war ich dann kurz vor Kassel an einer Raststätte. Ich hatte noch einen ganzen Tag Zeit, bis ich wieder daheim sein wollte. So beschloss ich, auf dem Weg nach Hause noch einen Freund zu besuchen, der in seinem Bauwagen in der Nähe von Bad Soden lebt.
Ich saß bei strömenden Regen unter dem Tankstellendach und wartete auf den Tag. Es dauerte verdammt lange, bis es hell wurde. Und kalt war es. Ich hatte zwar Geld bei mir, aber wie sollte ich mir was kaufen – Essen oder heißen Kaffee? Mit Euros? Nein, das ging nicht. So weit war ich noch nicht. Morgens nahm mich der Tankwart ein Stück mit und gab mir ein Brötchen. Und das in Deutschland? Na ja, er war Ausländer und vielleicht darum so nett?
Über kleine Nordhessische Dörfer trampte ich nach Bad Soden, lief durch diese Kleinstadt. Fachwerkhäuser und überall Menschen, die Deutsch reden. Alles, wirklich alles konnte ich verstehen und schaffte es nicht, einfach wegzuhören. Es ist anstrengend, in einem fremden Land die Sprache nicht zu verstehen, aber noch anstrengender ist es, wenn man nicht mehr weghören kann. Bei jedem deutschen Wort hörte ich auf, war sofort ganz wach, genau wie bei jedem deutschen Nummernschild, das ich erblickte. Und davon gibt es viele in Hessen.
Von meinem Freund hatte ich nur die Adresse, wusste nicht, wo das Dorf lag und auf welchem Weg ich dort hinkam. Ein deutsches Pärchen mit einer kleinen Tochter hielt an. Auch sie wussten nicht genau, wie man zu dem Dorf kam – aber, all meinen Vorurteilen zum Trotz können auch Deutsche nett sein. Nach wirrer Herumfahrerei fanden wir endlich die Adresse. Mein Freund war nicht zuhause. Vielleicht war es besser so. Sein Wagen war auf und so konnte ich in aller Ruhe Tee trinken und schlafen, bevor ich am nächsten Tag endgültig nach Kassel aufbrach.
Dort angekommen hielt ich neugierig Ausschau nach allem, was sich verändert haben könnte. Ich fuhr mit der Bahn, in die sie Mülleimer montiert hatten. Eine silberne Polizeistreife fuhr vorbei, früher war sie weiß. Als ich vom Bahnhof zum Haus meiner Mutter lief, schaffte ich es kaum mehr, meinen Rucksack zu tragen, so schrecklich schwer war er auf einmal geworden. Langsam lief ich die Straße entlang, hatte keine Eile heimzukommen. Endlich stand ich vor dem grünen Tor, las mir ein gelbes Plakat durch, das daran hing: »Autorencafé«. Da ging die Tür auf und meine Mutter trat heraus, um Brot kaufen zu gehen.
Wasserschwälle laufen das Fenster herunter,
ich liege auf dem Bett
in meinem kleinen quadratischen Zimmer
und liebe es schwimmen zu gehen
jetzt, wo ich nicht mehr zu Hause bin
bin ich in eine neue Welt eingetaucht,
kann nicht mehr mein Fahrrad nehmen und zum See fahren.
zappel anstatt dessen in Menschenmengen, U-Bahnschächten
zwischen Vergangenheit und Zukunft und meinem Leben
alleine und frei – lass ich mich treiben
Es ist kein klares Wasser
aber es ist
in der Stadt meiner wahr gewordenen Träume
goldener Herbst
manchmal mitgezogen im Strudel der Gefühle
Eigentlich will ich nur baden im Wonnegefühl
eines Sonnenstrahls eines Lachens
gegen den Strom schwimmen
mit dir zusammen vielleicht
etwas Neues wagen
Aus dem Fenster gucken und meilentief unter Wasser sein
Der Traum, mit dem eigenen Fahrzeug zu reisen, gehört ja eigentlich nicht zu unserer Generation. Unsere Großeltern fuhren mit dem Auto nach Italien, unsere Eltern mit dem VW Bus in die Türkei und manche auch weiter nach Afghanistan oder Indien.
Im Regelfall erscheint der Caravan-Urlaub außerdem als Inbegriff des Spießertums einer kleinen feinen Welt, die man mit sich rumschleppt und mit einem mobilen Jägerzaun von jedem Außen abgrenzt. Er erscheint somit genau als das Gegenteil jener grenzenlosen Bewegung und dem tiefen Eintauchen in das andere, die wir mit Reisen verbinden.
Unser Transportmittel war immer eher das Flugzeug. Nie zuvor konnte eine ganze Generation so billig um die Welt fliegen, Traveller waren wir, nie mehr als 20 kg materielles dafür aber umso mehr spirituelles Gepäck. Nach Indien und Südamerika ging es für die Spezialisten und für die Masse nach Thailand. Doch im Rausch der globalisierten Hochgeschwindigkeitskultur, zwischen Technoparties an dritte Weltstränden und der Suche nach uns selbst, trans-zen-dance und Blubberbuddhismus, erfuhren wir zu wenig, um ewig weiterzumachen. Die Kultur des Travellers, des postmodernen Pilgers, sie erscheint heute ausgereizt und abgelutscht wie die Pyotepilze in der Wüste Mexikos.
Und plötzlich entsteht die Idee, es auch mal mit dem Auto zu tun, als Fluchtlinie aus dem Scheitern der Selbsterfahrung: selber fahren, als Antwort auf die spirituelle Frage nach dem Warum? Materialismus. Business! Autoschmuggel.
Also versuchen wir, Europas Grenzen zu überqueren, ohne ins Flugzeug zu steigen, also versuchen wir, mit dem Auto durch die Sahara zu fahren und es dann zu verkaufen.
Darum ranken sich schöne Gerüchte: refinanzierte Urlaubstrips, abenteuerliche Gewinnmargen insbesondere für die guten deutschen Markenfahrzeuge, die hier schon nichts mehr wert sind. Wir wollen die Sahara durchqueren und in Afrika das Fahrzeug verkaufen. Das klingt nach einem Plan.
Unsere Route geht von Berlin nach Nouakshot, der Hauptstadt der Islamischen Republik Mauretanien, dem Tor zum subsaharischen Westafrika.
Man kann diese Reise in zwei Wochen absolvieren, man kann sich viel mehr Zeit lassen, aber sicher ist, dass es eine andere Reise sein wird, eine Asphaltreise, bis es keinen Asphalt mehr gibt, ein amerikanischer Traum im kolonialen Gewand europäischer Reiselust, ein Business-Trip und das letzte Grosse Abenteuer.
Unser Fahrzeug ist ein roter Mercedes Benz 407 D, das heißt vier Tonnen, knapp 70 PS, Erstzulassung 1973, Mitte der Neunziger Jahre von einem anonymen Vorbesitzer zum Wohnmobil ausgebaut, seit dem durch 3 Hände gegangen, die Karosserie in gutem Zustand, regelmassig überholte Technik und nur ein Hacken: der Motor verbraucht zu viel Öl, er verbrennt es. Damit ist klar, dass dem Auto keine große Zukunft in Deutschland bleibt, wir kaufen es für 1500,- Euro und zahlen noch mal 200,- für wichtige Ersatzteile. Investition ist getätigt.
Wir bewegen uns schnell durch Europa, dessen Vielfältigkeit wir schätzen, weil wir es kennen, wir benutzen ein Autobahnnetz, das uns erlaubt, ohne eine Landkarte, ohne die Sterne, ohne Erfahrung oder Führer bis an die Strasse von Gibraltar zu gelangen und erst hier das erste Mal in Abhängigkeit zu geraten von einem Hilfsmittel, die Fähre.
Von Algericas ins marokkanische Tangier dauert die Überfahrt mit dem Schnellboot eine gute Stunde, die Zollabwicklung ist für uns grenzenlose Schengenbürger bereits ein deutlicher Schocker.
Die Geschäftigkeit dieses Grenzraumes irritiert; Uniformierte, Zivilisten mit und ohne offizielle Schilder an der Brust rennen durcheinander und geben unterschiedliche, widersprüchliche Informationen, verlangen Papiere, nehmen sie mit und verschwinden, werfen einen freundlichen Blick in das Auto, erkundigen sich nach dem Befinden, sagen willkommen und fordern schließlich dazu auf, bestimmte Schalter aufzusuchen. Wer hat hier den Überblick? Nun wir nicht, doch die Sache geht ihren langsamen Gang, Papiere kommen irgendwann zurück, Pässe sind gestempelt und die Autos eingetragen.
Jemand sagt, die Zöllner holen sich ihre Verwandten ran, das seien die erlaubten Zivilisten, als so genannte Helfer. Die Verwandten können sich dann bei allen denen bedienen, die aus irgendeinem Grund Interesse an einer schnellen und unkomplizierten Abfertigung haben, das ist Arbeitsbeschaffung, das ist halt Afrika.
Afrika, da sind wir nun, aber von Wüste ist zunächst mal keine Spur, auf der neuen Autobahn von Asilah Richtung Rabat fast allein, links und rechts nichts als grüne Wiesen, viel Regen, irgendwie sieht es aus wie in Schleswig Holstein. Bei Larache, unserer ersten Station, hat eine marokkanische Fährgesellschaft einen kostenlosen Campingplatz eingerichtet für Caravans. Dort stehen die anderen, wir nennen sie seit Südspanien zu Abgrenzungszwecken nur noch die Weiße Pest, europäische Rentner mit immer weißen, sauteuren Camperfahrzeugen, Satellitenschüsseln zum Ausklappen und kleinen fiesen Hunden. Wir sind nicht die ersten hier, offensichtlich, auch nicht die meisten, aber wir sind anders, wir wollen über ihren Urlaub hinaus, wir wollen in die Wüste.
Auf dem kostenlosen Campingplatz gibt es heiße Duschen, und das ist etwas Prekäres beim Fahren mit Schneckenhaus. Wir meiden die Weiße Pest trotz ihrer Herzlichkeit, keine Lust, gemeinsam ‚verbotene Liebe’ zu gucken. Lieber weiter.
Auf der mautpflichtigen Autobahn ist eigentlich nie was los, nur um Rabat und Casablanca herum verdichtet sich der Verkehr. Casablanca, man was für ein Moloch.
Wegen der Hassan II Moschee, die man in der ganzen islamischen Welt kennt, wegen Film und Kitsch und für das mauretanische Visum fahren wir rein und finden nach drei Tagen auch wieder raus, wer hätte das gedacht. Ne vier Millionenmetropole der dritten Welt und jede Strasse hat einen Parkplatzwächter, unsicher fühlen wir uns nur einmal an der Corniche, der Strandpromenade, wo es keine Nachtwächter gibt. Tatsächlich kommt nach 10 Minuten der erste Strandbewohner, um an unserem Türschloss zu spielen. Ich schau ihn durch die Scheibe an und er rennt weg. Wir entscheiden uns für einen Platz in der Nähe der Ferien-Residenz des saudischen Koenigs, wo es von Sicherheitskräften wimmelt. Das ist politisch gesehen natürlich ganz schön uncool, aber in so einem Fall.
Hinter Casablanca dann keine Autobahn mehr, aber was für Strassen. Gelesen haben wir, dass Marokko viel Geld für die Bildung ausgibt, aber Strassen? Alle sagen, man solle nicht nachts fahren wegen Eseln, Fußgängern und Schlaglöchern, doch tatsächlich gibt es kaum Gefahr. An jeder Kreuzung steht Gendarmerie Royale, angeblich zahlt jeder Marokkaner Bakschisch, Bestechungsgeld, wir merken davon nichts, winken, lächeln, die pure Freundlichkeit. In Bayern sind Leute wie wir, mit einem vergleichbaren Auto, Staatsfeind Nummer eins, Drogenkonsumenten, Globalisierungsgegner, hier Soyez le Bienvenue. Marokko sagt ja zum Europäer, Marokko macht da keinen Unterschied.
Unweit von Agadir zeigt sich die bis zum Anschlag gedehnte Gastfreundschaft der Marokkaner dann in aller Schärfe. Wieder so ein kostenloser Camping, aber diesmal wild, über vier Kilometer den weichsandigen Strand entlang stehen 300, 400 Campingfahrzeuge aller Klassen, die bunten, die großen, die Weiße Pest, Europas Nomadenrentner, alte wie junge. Man erstickt fast an seinem eigenen monströsen Spiegelbild. Und es erinnert auch leicht an die Slums um Casablanca, Satellitenschüsseln, brennende Müllhaufen, leidlich versteckte Kloaken prägen hier wie dort das Bild.
Und die Marokkaner: Hallo sagen sie in akzentfreiem deutsch (sie können natürlich auch französisch, holländisch und englisch), hast du was zu tauschen, ein Radio, ein Fernseher, Ersatzteile fürs Auto, ein Fahrrad, willst du einen Teppich, Baguette, Croissants, Obst und Gemüse, Haschisch, einen Nachtwächter?
Und Mohammed sagt: Hey, nicht alle Touristen sind freundlich, aber wir müssen freundlich sein, das ist unser Gebot. Ob er es ethisch meint oder ökonomisch wird nicht ganz klar.
Wir wollen endlich die Wüste, leeren Raum. Weiter. Aber noch liegen da ein paar hundert KM vor uns. Immerhin sieht es hinter dem Atlas-Gebirge schon karg aus. Viel wächst hier nicht mehr, und langsam werden auch die Siedlungen rar.
Bleibt die Strasse, die N1 von hier bis zur mauretanischen Grenze und die Tankstellen. Guelemin, hier schon kostet der Diesel 10 Cent weniger als im Norden und schließlich Bab Al Sahara, das Tor zur Wüste. Wir dringen ein.
Die Sahara fängt nicht einfach so an hinter dem »Tor«, dem Ende der Anti-Atlas Ausläufer, es ist bei Tempo 70 eine langsame Transformation. Im Winter, wo man hier fährt, weil es sonst immer viel zu heiß ist, kann es tatsächlich auch schon mal regnen. Und dann blüht es bekanntlich in der Wüste. Das muss man sich jetzt nicht wie die Bundesgartenschau vorstellen. Es ist sehr dezent, das Blühen der Wüste, ein Hauch von Lila, der sich über die sandbraune Weite erstreckt und erst im Focus wird deutlich, dass keine Fatamorgana, sondern Millionen winzige Blüten dahinter stecken, schick.
Der Wüstenwind ist weniger schick, unsere Reisegeschwindigkeit verringert sich auf 55, der Dieselverbrauch geht parallel zum kolonialen Preisvorteil der Westsahararegion, wo keine Steuern anfallen, damit sie sich marokkanisiere, um 30% rauf.
In La Ayoun letzter marokkanischer Boxenstop. Wasser, Diesel, Lebensmittel, billiges und schnelles Internet, kleine Autoreparaturen, das beste und billigste Haschisch seit der Rifregion, alles ist hier angenehm. Man will gar nicht weiter, so angenehm ist es, Kolonialhauptstadt: Zuckerbrot und draußen in der Wüste, wo Blauhelme den Waffenstillstand bewachen, die Peitsche.
Noch sind es knapp 1000 KM bis zur Grenze, aber jetzt ist wirklich nichts mehr los. Wir fahren nicht auf die Halbinsel von Dahkla, wo bis 2001 alle stoppen mussten und einen militärisch geschützten Konvoi bilden. Die Polisario, einst gefürchtete Guerilleros einer unabhängigen Westsahara haben sich scheinbar neoliberal gewendet. Und ehrlich: wie kann man als Nomade auch Territorialkonflikte ernst nehmen. Heute machen sie lieber auf Menschenschmuggel, Grenzen durch Geschäfte transzendieren, ziemlich up to date.
Die Strasse bleibt in gutem Zustand, zeitweise sieht man Autos, es sind meist S-Klasse Wagen, mit mauretanischen Kennzeichen, die Aufregung steigt, der letzte Posten der königlich marokkanischen Marine hält uns auf, denn es ist zu spät, um noch über die Grenze zu kommen, die bei Dunkelheit schließt. Die Soldaten stammen alle aus dem Norden Marokkos, sie sehen so französisch aus, sprechen es so gut, dass sich der koloniale Charakter ihrer Anwesenheit aufdrängt. Nehmt euch in Acht vor den Mauren, sagen sie, das sind Banditen. Noch mal 60 km und da kommt die Grenze, vor lauter Aufregung wären wir beinahe vorbei gefahren. Die Marokkaner sind nur ein bisschen kühler als sonst, alles bleibt freundlich und ist unproblematisch wie gewohnt. Wir verlassen Marokko.
Und damit endet nach über 9000 km die geteerte Strasse.
Erstmal 30 km Niemandsland. Verzweigte Sandpisten, irgendjemand hat behauptet, hier gäbe es eine alte spanische Strasse, die man nicht verlassen dürfe wegen der überall verlegten Mienen, aber die Strasse lässt sich nicht identifizieren. Wir sehen stattdessen Autowracks, explodierte!? und sind bald sehr froh, denn Menschen tauschen auf, in schicken, hypermodernen Pick Up. Aeh, wo bitte geht’s zur Grenze?
Logisch können die fixen Herren uns den Weg weisen. Nach einigem Hin und Her über Preise, unbedingt aufzusuchende Campingplätze und Geldwechsler zeigen sie uns den Weg zur Grenze, mauretanische Seite.
Man liest so etwas und hört Geschichten und dann ist es doch noch mal was anderes, wenn man es sieht. Irgendwann liegen an der Piste zwei Hütten, Baustil: Slum, einmal Immigration, einmal Zoll. Die Offiziellen sehen aus wie die, an die man denkt, wenn von Warlords geredet wird.
Unser Einreisestempel wird unwillig aus einer vermüllten Schublade gezogen, in der Immigrationshütte steht ein wanziges Bettlager, ein im traditionellen Nomadendress gekleideter Typ macht Tee. Die Bude ist pure Antithese sämtlicher Staatstheorie. Der Immigrationsoffizier fragt nach einem Geschenk, bevor er stempelt. Ich könnte ihm einen Putzlappen schenken, sage ich, aber vorsichtshalber auf deutsch, er schaut mich misstrauisch an, stempelt dann auch ohne Cadeau. Und wir kommen zum Zoll.
Der Zolloffizier sieht aus wie eine Mischung aus Bud Spencer und Himmler. Er trägt sogar eine Uniform. Wie eine alte Hexe aus einem beliebigen mitteleuropäischen Märchen steckt er seine dicke Nase in jede Ecke des Autos auf der Suche nach etwas, das wir ihm schenken könnten. Ich beobachte ihn genau, und irgendwann wird ihm ein Glück langweilig, ich unterschreibe eine »Ehrenerklärung«, dass ich dass Auto nicht verkaufen werde, auch das Auto wird eingecheckt, fertig. Die erste inner-afrikanische Grenze meines Lebens, ca. 2 Stunden hat's gedauert, wir sind in Mauretanien, Ehre ist hier Staatsmotto, Freiheit und Brüderlichkeit: Nomadenland.
Nach den Hütten geht es weiter wie davor, Sandpisten, Autowracks, Bitumenreste, das muss dann wohl die spanische Strasse sein.
Wir kreuzen eine Bahnlinie, die einzige Mauretaniens und Strecke des längsten Zuges von Afrika und kommen nach Nouadibou, die Taxis sind grün.
Nouadibou ist die kosmopolitische der mauretanischen Städte und das hat mindestens zwei Gründe. Fisch und Eisenerz. Das Eisenerz kommt mit der Eisenbahn aus dem fernen Osten des Landes vom Eisenberg mitten in der Wüste, die Fische kommen aus dem Meer, das eines der fischreichsten Gewässer der Welt ist. In so fern besteht Nouadibou eigentlich nur aus einem riesigen Hafen und einer Eisenerzverladestation. Wir indes sind am letzten Stopp vor der langen Wüstenstrecke angekommen, knapp 500 km von hier liegt das Ziel unserer Reise, Nouackshot, die mauretanische Hauptstadt. Dorthin gibt es keine Strasse mehr, nur Sand. Damit beschreibt Nouadibou auch das vorläufige Ende Europas, hier gibt es keine ADAC-Nummer zum Anrufen mehr und keine ATMs. In der Stadt wohnen dennoch Menschen aus aller Welt, es ist eine wahre Grenzstadt, Koreaner und Chinesen sowie Spanier fischen das Meer leer, junge Männer aus ganz Westafrika versuchen die Schlauchbootmigration zu den kanarischen Inseln, Menschenschmuggel auch auf dem Landweg nach Marokko, Diesel, Autos und Zigaretten. Und Prostituierte.
Nouadibou ist ein gottverlassenes Nest, ein dreckiges Tjuanna Europas in spe.
Wir haben Glück, dass wir mit Eli nach 2 Tagen unseren Führer sowie eine Caravane von Gleichgesinnten ohne Vierrandantrieb, einen Mercedes 207 und einen PKW gefunden haben. Wir können starten, betankt mit Wasser, Diesel und Lebensmitteln für mindestens fünf Tage. Eli prophezeit drei Tage Fahrt und verwirft unsere Sorgen ob des alten schweren Mercedes.
Ganz andere hätten es schon geschafft, durch die Wüste zu kommen, wir sollten uns keine Sorgen machen.
Der Führer ist dafür da, dass man sich keine Sorgen machen muss. Doch dabei geht es nicht allein um die Frage der einfachsten Strecke oder der nächsten Süßwasserquelle im Falle von Problemen, es geht schon gar nicht um bloße Psychologie. Der Führer ist eine Institution in Mauretanien. Er ist das Scharnier zwischen den Locals und uns Besuchern.
Denn im Vergleich zu Marokko, wo die Menschen um so freundlicher und zuvorkommender sind, je weniger sie zuvor mit Touristen zu tun hatten, ist der Erstkontakt mit der mauretanischen Bevölkerung wie eine kalte Dusche. Und auch wenn man heute nicht mehr befürchten muss, wie anno 1800 Mungo Park als Schweinefresser vom Stammesherrn öffentlich gedemütigt zu werden, Tourismus-orientierte Drittweltbewohner wollen die Mauren einfach partout nicht werden. Hier gibt es nichts geschenkt, kein Lächeln und kein Tipp. Es ist Wüstenland, nur auf Wasser hat hier jeder Mensch ein gesichertes Anrecht... wenn er es findet.
Eli gehört zu den Beidani, der arabisch-nomadischen Bevölkerungsgruppe Mauretaniens, Beidani heißt Weiße und ist die Abgrenzung der herrschenden Mauren gegen die Schwarzen Mauretaniens, die in ihrer Mehrzahl Sklaven waren und noch heute bestenfalls Bürger zweiter Klasse sind. 1980 erst wurde offiziell die Sklaverei abgeschafft in Mauretanien und existiert doch strukturell weiter. Ob jemand zu den Weißen gehört oder zu den Schwarzen, das bestimmt dabei nicht so sehr die Pigmentstruktur der Haut, sondern in erster Linie die Familien bzw. Clanzugehörigkeit.
Eli ist unser Mann, das ist klar. Er weiß, wie wir durch die Wüste kommen, er redet mit den Polizei- und Zollposten, nie gibt es ein Problem. Eli redet an sich nicht viel, zum Beispiel sagt er nicht, wie sinnvoll es ist, wirklich die meiste Luft aus de Reifen abzulassen, wenn man durch die Dunen fahren will. Stattdessen lässt er uns wieder und wieder die Sandbleche rausholen, buddeln und schaufeln, anfahren 10 Meter und wieder drinstecken. Am ersten Tag passiert das nur ein paar Mal, aber am zweiten Tag, an drei riesigen Dünen, die so was wie die Mitte der Strecke markieren, da bleiben wir stundenlang stecken, schieben uns voran, immer wieder ein anderes der drei Autos, am Ende des Tages sind wir völlig erschöpft, haben zwei reifen verloren und Eli lächelt uns an, denn wir haben endlich begriffen, dass man kaum Luft in den Reifen lassen darf.
Dann wir sind auf einer steinharten Ebene voller Muscheln – das schlimmste liegt hinter uns – sagt er - das Meer vor uns. Nun kommt der wirklich interessanten Teile der Strecke, zu nächst, als wir nach einer einstündigen Fahrt endlich die Küste erreichen, der Nationalpark Banc d'Arguin, Winterquartier von Europas Zugvögeln, Kormoranen, Reihern, usw. spannend nicht nur für Ornithologen. Vor dem Nationalpark Büro, das unserer Eintrittskarten kontrolliert ist das Skelett eines riesigen Wales ausgestellt, im kleinen Ort finden wir die glücklichsten Fischer der Welt.
Sie müssen hier nichts weiter tun, als bei Ebbe ein Netz zu verlegen und bei der Flut an Land zu ziehen, sie brauchen kein Boot und zwei Mal am Tag ist das Netz eigentlich zu klein für die Fischmassen, die selbst in Ufernähe sich tummeln.
Und nach der kräftigen Fischmalzeit und ernsthaften ersten Businessversuchen der Zollbehörden im kleinen Ort, die unsere Mobiltelefone kaufen wollen... endlich die lang ersehnte Küstenstrecke. Wir starten mit dem abnehmenden Wasser, morgens um halb 6 kurz vor Ebbe. Und fahren auf den Strand, der hier selbst bei Ebbe an den knappen Stellen gerade mal 5 Meter breit ist. Von hier an sind es nach Nouakshot noch 200 KM, es ist der Sagen umwobene Teil der Strecke, entlang an im Sand eingespülten Autowracks, deren Fahrer unvorsichtig waren und von dem richtigen Pfad abgewichen waren, Ikarus gleich, nicht von der Sonne aber vom Meer besiegt wurden... tja. Ohne Frage ist es wunderschön und auch aufregend, wenn die Salzwassergicht ans Fahrzeug schlägt. Doch schon heute ist diese Strecke bloß noch ein Souvenir an alte Zeiten, denn während der erste Teil der Strecke tatsächlich unvermeidlich durch die blanke Wüste führt, ist das zweite Stück nach dem Nationalpark bereits durch eine gute Piste erschlossen. Wir fahren lediglich 50 km entlang der Küste, und biegen dann landeinwärts auf die neue Piste ein. Diese ist der Vorläufer der im Bau befindlichen zwei spurigen Autobahn, die nach Jahren der Planung und der Verzögerung nun im Sommer 2005 der legendären Wüstendurchquerung ein Ende bereiten wird.
Eli macht sich deswegen keine Sorgen. Er freut sich, dass dann noch mehr Touristen nach Mauretanien kommen werden. Und für die meisten Strecken des riesigen Landes werden sie weiter gerne seine Hilfe in Anspruch nehmen. Zum Beispiel, um ins Innere des Landes zu fahren, nach Atar, der heimlichen Hauptstadt Mauretaniens oder Ciunguetti, wo es 1000 Jahre alte arabische Handschriften, Übersetzungen griechischer und Beiträge zur andalusischen Philosophie, zu bestaunen gibt, die in privaten Bibliotheken aufbewahrt werden. Angeblich ist dort auch die Bevölkerung netter als an der westafrikanischen Transitroute zwischen Nouakshot und Nouadibou.
Wir kommen am dritten Tag in Nouackshot an, wir sind am Ziel unserer Reise. Eli weiß Bescheid in Nouakshot, er weiß auch, dass wir uns nun in erster Linie um den Autoverkauf kümmern müssen.
Er bringt uns zunächst zu einem Freund auf dem Campingplatz, alles sagt er, würde sich dort finden. Darin hat er Recht.
Mauren arbeiten nicht, sie handeln. Sie haben den Handel erfunden. Sidi Mohammed vom Camping sagt: Wenn ein Maure ein Stück Butter kauft, dann nicht um es zu essen, sondern um es weiterzuverkaufen. Ausgerechnet Butter finden wir hier nicht, aber dafür sehr bald die ersten Interessenten für das Auto. Zurückhaltend sind sie, meckern über das Alter, das Aussehen und unsere Preisvorstellung. Leila, die algerische Frau von Sidi Mohammed und kulturelle Dolmetscherin am Platz, erklärt uns in ihrer Freundlichkeit, dass wir die Campingeinrichtung unseres Wagens lieber separat verkaufen sollten. Denn die Autohändler hätten kein Interesse daran und für uns würde sich kein Vorteil ergeben. Wir beginnen also, unsere Ersatzteile, unsere Werkzeuge, die Küche, die Solarzellen, Wassertank und Dieselkanister anzubieten. Das funktioniert. Der Handel kommt in Gang.
Ein uniformierter Mann, den sie am Platz alle »le commandant« nennen, möchte die Solarzellen und die Küche haben und das Gefeilsche beginnt. Leider informiert uns Sidi erst später über die Rolle des Commandante. Dieser ist nämlich sein persönlicher Verbindungsmann zum Zollamt der Stadt. Wir sind uns einig, dass er der korrupteste Beamte ist, den wir je getroffen haben. Im Feilschen jammert er uns an, dass er bloß 200 Euro im Monat verdiene und wir ihm was zu essen lassen sollten, dann wieder fordert er aggressiv, seinen Preis zu akzeptieren. Eine Stunde, nachdem wir uns endlich auf einen Preis geeinigt haben, hat er das Zeug bereits weiterverkauft.
Das Argument mit dem Gehalt, das auf hinterfotzige Weise den Kontext vom hilfsbedürftigen Dritt Weltler bediente, dem wir mit Solarzellen eine Art Entwicklungshilfe zu leisten verpflichtet seien, haben wir ihm nicht verziehen und dass unser Kühlschrank nicht mehr funktionierte nach der Wüstenfahrt, das fand er nicht so gut.
Mag sein, dass unsere unausgeräumten Differenzen ein Grund dafür sind, dass wir nach dem Autoverkauf, der irgendwann vergleichsweise unaufgeregt gelingt, noch vier Tage auf das Quitus No 68 des mauretanischen Finanzministeriums warten müssen, dass es uns erlaubt, das Land auch ohne das eingeführte Auto wieder zu verlassen.
Das Gesamtergebnis unserer Geschäftsaktivitäten in Nouakshot bleibt unser Geheimnis. Aber das Gefühl, über die touristische Reise hinaus Teil an internationalen Geschäftbeziehungen zu haben, ist ohnehin unbezahlbar gut.
Mit dem Geld in der Tasche und ohne Fahrzeug verlassen wir das Land in Richtung Senegal. Dorthin ist der individuelle Autoschmuggel seit September 2003 effektiv unterbrochen, ältere Fahrzeuge können nur mehr mit einer Zollversicherung eingeführt werden, die jeden potentiellen Gewinn vernichtet.
Offiziell heißt es zur Begründung, man wolle nicht länger die Müllhalde europäischer Altautos sein. Wie so oft in der Welt steht diese Geschichte jedoch nicht alleine da. Man versichert uns im privaten Gespräch, dass es sich lediglich um einen Angebotsüberschuss handle, der im Interesse der großen Autohändler im Lande jetzt abbaut werde.
In jeden Fall bleiben außer Mauretanien Mali, Niger, Burkina und vor allem Guinea als Absatzmärkte interessant. Und natürlich als Reiseziele. Wer allerdings den echten Wüstentrip machen möchte, der sollte noch diesen Winter los. Denn – insh‘allah, so Gott will – gibt es danach eine durchgehend geteerte Strasse von Europa bis nach Dakar – und dann wird auch hier die Weiße Pest nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Am Strand plätschern die Wellen, aus den Lautsprechern der Bar Musik. Zum Sonnenuntergang genehmigen sich einige einen Sundowner, andere rauchen lieber. Es ist ein buntes Völkchen, das sich hier an diesem wunderschönen Strand in Südthailand versammelt hat, um gemeinsamen Leidenschaften zu frönen: Freeclimbing, Chillen und Partymachen. Der Tonsai Beach bei Krabi ist zwar längst kein »Geheimtipp« innerhalb der Backpacker-Szene mehr, aber noch lange nicht so überlaufen und teuer wie so manch anderes Freakparadies. Die Atmosphäre ist relaxt und angenehm, und wenn japanische Kletterer mit kanadischen Späthippies oder thailändischen DJs über den letzten Film von Tarantino plaudern, ahnt man, was Begriffe wie »global village« meinen.
Neben mir lassen sich drei Langhaarige nieder, die ich schon gestern in der Bar gesehen habe. Sie unterhalten sich angeregt über die Klettertouren des heutigen Tages. Man spricht englisch, aber am Akzent ist unschwer zu erkennen, dass einer von ihnen aus Frankreich kommt und die beiden anderen aus Italien. Nach ein paar Minuten winkt der Franzose zwei Bekannten zu, die den Strand entlang spazieren und auf das Grüppchen zusteuern. »They are from Israel, very good climbers«, informiert er seine Begleiter. Der eine der beiden Italiener zischt wie aus der Pistole geschossen: »I don’t like these Zionazis«. Der Franzose ist sichtlich vor den Kopf geschlagen. Mehr als ein hilfloses »Oh, they’re not that kind of« weiß er nicht zu antworten. Die beiden Israelis begrüßen ihren Bekannten schulterklopfend, aber als sie die eisige, angespannte Stimmung bemerken, gehen sie schnell weiter.
Mein Bier schmeckt plötzlich abgestanden. Für einen Moment lang überlege ich, dem Italiener mal ordentlich die Meinung zu sagen, lasse es dann aber bleiben. Ich stehe auf, um diesen unfriedlichen Ort zu verlassen. Schockiert über die anderen – und über mich selber.
Der Platz auf der Dachterrasse ist perfekt. Hier finde ich meinen Seelenfrieden und inzwischen kann ich auch wieder länger als eine Stunde sitzen, ohne aufs Klo zu rennen. Schön auf dem Schlafsack, Bierchen daneben, an der frischen Luft hoch über dem Lärm der Innenstadt. Bei schönem Wetter Blick auf Kanchenzönga, heute allerdings wolkig. Nach der Zeit in Phodong bin ich nicht schlecht in Übung, die Kagyat Zeremonie gelingt mir immer besser. Das Kloster war echt eine abgefahrene experience. Keine Touristenhorden, die überall reinschlappen und Blitzlichtgewitter und hast du nicht gesehen. Tagelang war ich der einzige Westler und die Mönche waren super cool, freundlich und echt erleuchtet, die ganz anderen astralen vibrations. Hätte ich mir nicht diesen Scheiß-Virus geholt, wer weiß, vielleicht wäre ich immer noch da. Von Phodong kriegen die Touris im Normalfall nichts mit, fahren für `ne Woche nach Sikkim, besuchen 2 Klöster, buchen maximal noch ne Tour zur chinesischen Grenze, fotografieren ihre Postkartenansichten und schreiben die Erlebnisse ihrer Busfahrten ins Tagebuch, fahren wieder weg und sagen, »ich war in Sikkim«. Oh my god! Davon gibt’s hier im Guesthouse einige, wie zum Beispiel den Tagebuchschreiber hier neben mir, echt ein anderer Film als oben in Phodong. Aber egal, ein bisschen mehr Komfort ist nicht schlecht für mich und die Zeremonie, und ich glaube ich mache auch hier Fortschritte. Die Leute im Guesthouse sind nett und finden es klasse, wenn man sich für ihre Kultur interessiert, hab sogar einen Sonderpreis für das Zimmer raushandeln können. So jetzt aber los: Om mani padme hum Trommel om mani om mani padme hum Glocke om Trommel Glocke…
Tagebuch, 5. März: Ziemlich abenteuerliche Fahrt gestern von Darjeeling nach Sikkim. Immer diese Jeep-Fahrten bei denen man sich vierfach zusammenfalten muss und sich nachher wie eine Lottokugel fühlt, die aus dem Bottich heraus plumpst. Irgendwann ist man jedenfalls da. Aus dem Reiseführer haben wir die Adresse der Modern Central Lodge. Kategorie »Budget«, schöne Aussicht, Zimmer mit warmer Dusche, Fernsehraum, Billardraum und Dachterrasse. Bewertung im Lonely Planet: »sehr populär bei Travellern, obwohl berichtet wird, das Management sei manchmal etwas streitlustig....« Hmm, da scheint also Vorsicht angebracht! Immerhin, da sind wir jetzt, zahlen umgerechnet 10 Mark für ein Doppelzimmer und haben eine Woche für Sikkim. Bedauerlich, dass man noch nicht frei in Sikkim herumreisen kann sondern fast überall geführte Touren buchen muss. Aus dem Grund wollen wir unbedingt noch in den Westen, den man auf eigene Faust entdecken kann. Diese Dachterrasse ist jedenfalls ein angenehmer Ort zum Ankommen und Schreiben. Kanchenzönga hüllt sich zwar in Wolken, aber die Atmosphäre stimmt. Gangtok hatte ich mir eigentlich etwas spektakulärer vorgestellt, steile Straßen zwar, aber nicht so verwinkelte urige Ecken wie in Darjeeling und nicht so ein großer Basar, ziemlich viel Militär. Und trotzdem schon ziemlich touristisch. Wohlhabende Inder im Sommerurlaub und jede Menge Traveller. Sikkim ist zunehmend beliebt, trotz oder gerade wegen der Restriktionen, die zögerlich gelockert werden. Hier zum Beispiel wieder ein Prachtexemplar, direkt neben dran: ein Westler in buddhistischer Kutte, wahrscheinlich Ami, so wie’s aussieht, mit buddhistischem Gebetsbuch, Trommel und Glöckchen in entrücktem Einsatz, klingelnd, trommelnd und rezitierend. Trinkt dazu Bier und isst Schokolade. Glaubt mit Sicherheit, er kann seine Erleuchtung wie einen Löffel Nescafé ins heiße Wasser kippen. Immerhin: er kennt alle Leute aus dem Guesthouse, muss schon eine Weile hier sein. Vorhin kam sogar einer der Angestellten und nahm sich seinen Walkman ohne groß zu fragen und setzte sich auf einen Stuhl daneben mit Kopfhörer auf und wippte im Takt. Sah übrigens nicht nach tibetischer Gebetsmusik aus.
So ein Idiot! Ich sitze auf dem Dach der Welt und habe Glück gehabt noch eins der Dachterrassenzimmer in der Modern Central Lodge mit Blick auf Kanchenzönga zu erwischen, dafür zahle ich schließlich 100 Rupien mehr und jetzt sitzt dieser Typ da und schwingt seit mehr als einer halben Stunde sein Trömmelchen und seine Glöckchen und rezitiert buddhistische Verse in einer Lautstärke, dass alles zu spät ist. Aber, ruhig, nur ruhig! Dieser lärmende Mensch hat in meinen Gedanken nix verloren, und ich versuche mich ganz ungezwungen wieder auf meinen Atem und die Leere in meinem Gehirn zu fokussieren. Einatmen, ausatmen und dabei die Härchen der Oberlippe spüren und das Zwerchfell, das sich hebt und senkt... hebt und senkt. Keine Chance. Kann der nicht ein bisschen Rücksicht nehmen! Mir reicht’s! »Hey man, can you not do sät somewhere else? Sis is a guest-house not a monastery, you know? I cannot consentrate on my meditation! Can you stop sät, please!« Und der Typ macht einfach weiter ohne Antwort, so ein Vollarsch, glaubt, weil er aus Amerika kommt und hier auf Mönch in Kutte macht, braucht er überhaupt keine zwischenmenschlichen Kommunikationsregeln zu beachten.
Mal den anderen Typen mit seinem Tragebuch fragen, den muss das doch auch nerven, dieses ständige Gedengel und Geschepper. »Hey sis guy is not even answering, what can we do to stop sis horrible sound?« Aber der Tagebuch-Typ macht auf arrogant und tut, als ob er indische Gelassenheit gefrühstückt hätte. »You are not in Germany«, sagt er »noise doesn’t have to bother you here.« War ja klar, wieder einer von den Möchtegern-Coolen, die einem das Deutschsein reinreiben wollen. Ich hau ab, ihr könnt mich mal, ihr Affen. Außerdem ist es seit Tagen nur bewölkt, von Kanchenzönga keine Spur. Nieselregen kann ich zu Hause auch haben.
Ich brauche mal eine Pause. Oben auf der Terrasse findet mich der Chef bestimmt nicht, sonst gibt's wieder Stress. Zimmer putzen, Zimmer putzen, Zimmer putzen und das für kleines Geld. You have to do your duty. Auf der Dachterrasse sitzt wie immer Mr. Steve. Er lernt gerade die Kagyat Zeremonie, sagt er. Ein witziger Typ, eigentlich! Natürlich ist er verrückt wie alle anderen auch, die hier hinkommen, aber er hat einen Walkman, den er ausleiht, und ich mache es mir kurz mal gemütlich, Kopfhörer auf und mich wegträumen. Musik aus Amerika. Warum können sich die Westler eigentlich alle nicht leiden. Sie sind wie gleichgepolte Magneten. Je näher ihre Heimatorte aneinander liegen, desto mehr stoßen sie sich ab. Dabei könnten sie sich doch freuen! Wenn ich jemanden aus meiner Heimatstadt in Amerika treffen würde, würde ich mich freuen. Aber das tun sie nicht, sie gehen sich gegenseitig auf die Nerven, sie gehen sich selber auf die Nerven und alle anderen gehen ihnen auch auf die Nerven. Trotzdem hängen sie die ganze Zeit miteinander herum und buchen die Touren zusammen, damit sie Geld sparen. Sagen sie können nicht 200 Rs. für das Zimmer bezahlen, aber ein Banana Pancake zum Frühstück kostet 50 und sie essen zwei davon und buchen Touren, die sie in Dollar bezahlen müssen, mindestens 4000 Rs. die billigeren, zwei mal mein Monatsgehalt für einen halben Tag Jeep fahren. Die meisten können auch uns nicht leiden, sie denken immer, wir wollen ihnen was klauen, und wenn ich das Zimmer fege stehen sie daneben und gucken besorgt auf meine Finger, als ob ich ihren Geldbeutel oder Fotoapparat wegzaubern wollte. Ich glaube, es lohnt nicht, sich zu sehr den Kopf über sie zu zerbrechen, sie kommen und sie gehen und wenn man Glück hat, lassen sie ein Trinkgeld da.
What's your problem, sir? Der Deutsche aus dem Dachterrassenzimmer steht vor mir an der Rezeption und verlangt nach dem Geschäftsführer. Yes, sir! Can I do anything for you?
Er sieht ziemlich aufgebracht aus. Lärm durch ein buddhistisches Gebet auf der Dachterrasse stört ihn beim Meditieren, sagt er. Die sind nicht mehr ganz sauber die Leute. Er möchte sein Geld zurück, zumindest die 100 Rs. die er mehr gezahlt hat wegen der Dachterrasse. Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage. Sorry my friend, you see, the roof-top is not a private area, everyone is free to go there. And you are complaining a bit much these days, no? Yesterday the food was too spicy, today the ceremony is too loud. My dear sir, I'm very sorry, this is a Buddhist country, you don't like our culture? No way I can give you your money back. But don't worry, as for the noise, I'll see to it. Und wahrscheinlich finde ich noch einen von den Boys da oben beim Nixtun. Von diesen Leuten kriegt man wirklich Kopfschmerzen.
Der deutsche Beschwerdemeister ist gerade wütend die Treppe runtergerannt, veermutlich schnurstracks zur Rezeption. Der »Touri-Mönch« rezitiert weiter und trommelt was das Zeug hält, aber auf einmal quetscht er mitten im Getrommel einen Satz heraus: »Now I can speak: I need five more minutes«. Großartige Performance! Der Deutsche hört es jedenfalls nicht mehr. Und tatsächlich, nach fünf Minuten packt der »Mönch« sein Zeug zusammen, trinkt den letzten Schluck Bier aus und verschwindet. Als wenig später der Manager des Guesthouses um die Ecke schaut, ist es ruhig und der Boy hängt am anderen Ende der Terrasse Bettwäsche auf. Ich kritzle weiter vor mich hin und schreibe noch ein paar Postkarten. Als ich etwas später die Treppe runtergehe sehe ich den »Mönch« ohne Kutte, aber mit noch einem Bier im Fernsehraum vor einem Action-Movie. Ich muss ich grinsen über diesen Klassiker und gehe ins Restaurant ein paar Momos essen.