Hilfe leisten und solidarisch reisen – diese Motive scheinen treffend zu beschreiben, was man sich gemeinhin unter einem Workcamp vorstellt. Etwas Konkretes machen, selber mit anpacken, zusammen mit denen »vor Ort«. Die Anziehungskraft der Workcamps besteht aber auch darin, für eine gewisse Zeit in einem vororganisierten Rahmen – und somit in einem geschützten Raum – abenteuerliche Erfahrungen in Ländern der Dritten Welt machen zu können und dafür wenig bezahlen zu müssen. Das Workcamp ist immer auch eine Form von Alternativtourismus und der Spaßfaktor mindestens so ausschlaggebend wie die Ideen der Solidarität, Hilfe und des persönlichen Erfahrungsaustausches über Lebensstile und politische Weltbilder. Das zentrale Element der Workcampaufenthalte heute ist, folgt man den Selbstdarstellungen der Workcamporganisationen, das interkulturelle Lernen. Doch der gegenseitige Austausch läuft nicht immer wie erhofft. Hier findet Ihr einige Erfahrungsberichte von TeilnehmerInnen verschiedener Workcamps.
Die Teilnehmerinnen aus verschiedenen SEDEPAC (einer Partnerorganisation von Internationalen Jugendgemeinsschaftsdiensten - IJGD)-Dorfprojekten Mexikos erzählen sich auf einem gemeinsamen Treffen nach den siebenwöchigen Camps ihre Eindrücke und Erfahrungen:
Sabine: »Die Kinder sind als erste gekommen und waren auch wirklich hellauf begeistert, die hatten da eine gute Unterhaltung. Aber bei den Frauen war’s schwierig, da mussten wir andauernd bei denen zu Hause vorbeischauen, weil die auch den ganzen Tag meistens mit Kochen beschäftigt waren. Erst nach ein paar Wochen war der Kontakt dann wirklich so, dass die sich immer total gefreut haben, wenn wir kamen. Und auch selbst vorbeikamen und uns irgendwelche Salsas gebracht haben. Aber zu wem man gar keinen Kontakt hatte, oder nur sehr wenig, das waren die Männer. Die haben einfach auf dem Feld gearbeitet, sind frühmorgens losgezogen und erst spätabends zurückgekommen.« Johanna: »Gerade die Älteren, die haben ja nur Tenek gesprochen, also gar kein Spanisch. Die haben Spanisch nur verstanden, nicht geredet. Das mit der Verständigung lag auch sicher mit an der Sprache.«
Johanna: »Ich hatte insgesamt das Gefühl, dass die Frauen dort sehr wenig an Entscheidungen teilen, an Kommunikation überhaupt. Ich weiß natürlich nicht, wie das ist, wenn wir nicht dabei sind. Es kann ja sehr gut sein, dass das durchaus beeinflusst war. Keine Ahnung, wie das im normalen Leben war.« Sabine: »Ansonsten hab’ ich überhaupt nicht mitgekriegt, wie leben die überhaupt? Ich meine, wo kriegen die Nahrung her? Aber, was mich echt gewundert hat, wie sehr man den anderen Jugendlichen aus wirklich Tausenden von Kilometern entfernten Ländern gleicht, dass man über die gleichen Witze lacht, ja, sich so total verstanden hat, obwohl man aus einer ganz anderen Kultur kam, aus einem anderen Elternhaus, ganz anderen sozialen Zusammenhängen. Sobald man die gleiche Sprache spricht, so halt Spanisch, super miteinander klar kam und auch so die gleichen Träume hatte.« Johanna: »Also, ich denke, dass das Kennen lernen auf anderem Wege, also wenn ich nur rumgereist wäre, einfach nicht möglich gewesen wäre.«
Claudia Schülein: Könnten Sie mir einfach kurz das ASA-Programm vorstellen?
Elisabeth Mock-Biber: ASA ist ein entwicklungspolitisches Lernprogramm. Die TeilnehmerInnen sollen Perspektiven wechseln, in dem sie sich vor Ort mit eigenen und originären Erfahrungen konfrontieren. Die TeilnehmerInnen gehen für drei Monate zu Organisationen, Institutionen, Initiativen, in Stadtteilprogramme, in Projekte etc. und arbeiten da für drei Monate mit.
CS: Die Hauptsache ist die Begegnung vor Ort mit den Menschen durch die Arbeit?
EMB: Genau, und das ist etwas anderes als touristisches Dasein, weil die TeilnehmerInnen in ihren Berufszweigen eingesetzt werden oder so eingesetzt werden, dass sie in ihrem Studienfach etwas dazulernen können. Zwei bis drei Personen gehen in ein Projekt, manchmal aber auch eineR alleine. Man bewegt sich nicht in einer großen Gruppe, wie es in Workcamps üblich ist. Es gibt keinen Reiseleiter, man ist eigenverantwortlich, auch verantwortlich, wenn etwas aus welchen Gründen auch immer nicht klappt. Viele Organisationen sind inzwischen international vernetzt. Sie kommen durch unsere Homepage oder andere Kommunikatoren darauf, dass ein ASA-Stipendiat bei ihnen willkommen wäre und schreiben uns an.
CS: Ist das die Regel, dass Sie Anfragen von den Organisationen aus dem Süden bekommen oder gehen Sie auch auf die Suche nach Partnerorganisationen?
EMB: Beides. Wir bekommen viele Anfragen von Charity-Organisationen. Aber wir als programmführende Stelle bemühen uns natürlich auch, entwicklungspolitisch aktuelle und relevante Themen aufzunehmen. Wir suchen Kontakte zu Initiativen, die sich mit Konfliktprävention beschäftigen, zu Organisationen, die für Transparenz und gegen Korruption arbeiten.
CS: Die meisten Projekte, zu denen Sie TeilnehmerInnen schicken, sind eher grass root-Projekte. Es wird an der Basis, z. B. bei den Bauern auf dem Feld, gearbeitet. Ist das die entwicklungspolitische Einstellung von ASA?
EMB: Es gibt durchaus auch politische Fragen. Auf der anderen Seite kann man auch bei der Mitarbeit in einem kleinen Behindertenheim lokale Machtstrukturen erkennen. Zum Beispiel: wer kriegt vom Bürgermeisteramt welche Zuschüsse? Wie wird eine Städtepartnerschaft gemanagt, wo fließen Ressourcen hin? Das sind Fragen, die man nicht abstrakt beantworten muss. Das spannende am ASA-Programm ist, dass es den TeilnehmerInnen im Nachhinein ein Forum für Diskussion und die Verarbeitung der Prozesse bieten und die TeilnehmerInnen sich auch vorbereiten. Vorbereiten in dem Sinne, dass sie sich nicht von ersten Bildern erschlagen lassen und sagen: »Oh, was ich schon gewusst habe, tritt hier auch tatsächlich ein!«, sondern dass man auch wirklich mit offenen Augen hingeht und auch zweimal hinsieht, bevor man Schlussfolgerungen zieht.
CS: Ist das der wichtigste Inhalt der Vorbereitungsseminare? Dass man als TeilnehmerIn seine Bilder, die man im Kopf hat, reflektiert?
EMB: Genau, und dass es auch verschiedene Wahrnehmungen von Realität gibt. TeilnehmerInnen ecken häufig bei den Organisationen an, wenn zum Beispiel Finanzen berührt werden. Irgendwo hat alle Transparenz eine echte Grenze und oft wird sie auch prompt überschritten. Das geschieht nicht immer konfliktlos. Es ist aber eine wertvolle Erfahrung in einer Kommunikation zu scheitern. Es ist nicht negativ, wenn man seine kommunikativen Grenzen kennen lernt.
CS: Bisher haben wir die Sensibilisierungsaspekte in den Vorbereitungsseminaren gesprochen, gibt es auch konkrete Hinweise? Was zum Beispiel das Fotografieren in bestimmten Situationen oder allgemeines Verhalten in der Öffentlichkeit anbelangt?
EMB: Erstens: die Vorbereitung findet in kleinen Ländergruppen mit einem Tutor statt. Der Tutor war in der Regel ehemaligeR TeilnehmerIn oft kommt er/sie auch selbst aus dem Land. Ganz einfache Dinge, wann zum Beispiel ein Gastgeschenk angebracht ist, ob man eine Einladung zum Essen überhaupt annimmt oder ob man sie grundsätzlich ausschlägt. Das ist der Unterschied der ASA-TeilnehmerInnen zum normalen Touristen oder Rucksackreisenden, der nicht darauf angewiesen ist, an einem Ort innerhalb einer Aufgabe innerhalb eines Dorfes seine Beziehungen so zu gestalten, dass es funktioniert.
CS: Der Tourist ist nicht darauf angewiesen, im Sinne von: er kann jederzeit weiterreisen?
EMB: Er legt dem Schuhputzer beispielsweise kein ordentliches Trinkgeld hin. Er verhält sich anders, als jemand, der dem Schuhputzer jeden Morgen wieder in die Augen schauen muss. Insofern ist das genau die Herausforderung. Die ASA-TeilnehmerInnen nehmen sie ernst und versuchen in die Lebenssituation und die Alltagssituation hineinzutauchen.
CS: Was muss einE ASA-TeilnehmerIn an Qualifikationen mitbringen?
EMB: EinE ASA-BewerberIn muss nicht mit allen Wassern gewaschen sein. Man kann durchaus als Einsteiger im ASA-Programm mitmachen. Der/die KandidatIn sollte in seinem/ihrem Beruf praktische Erfahrung haben. Wir verlassen uns bei den Bewerbungen ganz auf die Eigendarstellung. Eine überqualifizierte Eigendarstellung führt nicht unbedingt zum Erfolg. Wenn man sich darauf konzentriert in seiner Bewerbung bekannt zu geben, motiviert zu sein, etwas zu lernen und offen zu sein, etwas zu lernen, ist das effizienter als irgendwelche formalen Dinge. Wichtig sind natürlich Sprachkenntnisse, eine gewisse Antenne für fremdsprachliche Kommunikation.
CS: Wir haben über die Vorbereitung der TeilnehmerInnen gesprochen. Werden die Partnerorganisationen auf die TeilnehmerInnen vorbereitet?
EMB: Nein, die TeilnehmerInnen korrespondieren in der Regel im Vorfeld intensiv mit den Partnern. Viele Partner schreiben nur sehr locker zurück, nach dem Motto: Kommt erst mal, dann seht Ihr schon! Umgekehrt gibt es auch Partnerorganisationen, die ihre Vorstellungen publizieren und auch über Arbeitsschwerpunkte und -zeiten konkrete Absprachen treffen. Das erleichtert natürlich den Einstieg und verkürzt die Phase der Orientierung. Die Kooperationspartner erhalten übrigens für die Betreuung der ASA-TeilnehmerInnen keine Gegenleistung, außer die, die der/die ASAtIn selbst erbringt.
CS: Woraus entstehen denn die häufigsten Probleme seitens der TeilnehmerInnen oder auch seitens der Partnerorganisationen, wenn dann das Projekt läuft?
EMB: Die meisten Probleme entstehen aus überhöhten Erwartungen der TeilnehmerInnen. Wenn ASAtInnen beim National Youth Council of Ghana, einer Jugendorganisation eine Fünf-Tage-Woche mit fünf Terminen verlangen, um Aids-Aufklärung zu machen, dann gibt es Konflikte wegen Fahrzeugen, um zu diesen Terminen zu kommen. Die konkreten Absprachen vor Ort sind kleine Kämpfe der ASA-TeilnehmerInnen. Die meisten Partnerorganisationen haben einen PC-Arbeitsplatz und ein Auto zur Verfügung. Man muss sorgfältig die Lücken nutzen, wann kann man den PC benutzen, man muss sich einfügen in den normalen Ablauf der Institutionen. Die ASA-TeilnehmerInnen sind oft nicht die erste Priorität. Der Alltagsfrust ist bei ASA-TeilnehmerInnen nicht zu unterschätzen.
CS: Wir haben jetzt von den Ressourcen vor Ort gesprochen, aber viele haben ja wahrscheinlich auch die hohe Erwartung, dass sie eine nachhaltige Wirkung hinterlassen, wenn sie wieder gehen. Stellt auch das ein Problem dar?
EMB: Die ASA-TeilnehmerInnen und ihre nachhaltige Wirkung kann man mit der großen Emanzipation der Menschheit von der Sklaverei vergleichen. Die Sklaverei hat auch niemand innerhalb von kürzester Zeit abgeschafft. Trotzdem gab es ganz bestimmte Durchbrüche, sowohl im Denken, als auch im internationalen Konsens, aber es gibt noch heute Inseln, wo Menschenhandel und Sklaverei und Unfreiheit auf persönliche Art vorherrschen. Ich ermuntere jedeN ASA-TeilnehmerIn an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu bohren, aber auch nicht zu erwarten, dass irgendwelche Dinge ein für alle Male so gelöst sind, wie in den Konzepten, die wir uns heute vorstellen. Es ist richtig, nicht damit zu leben, dass die Welt korrupt ist und Geld die Hauptrolle spielt.
CS: Was überwiegt denn? Kommen mehr TeilnehmerInnen zurück und sind frustriert, weil sie nichts verändern konnten und deshalb frustriert sind oder überwiegt der Teil der TeilnehmerInnen, der zufrieden zurückkommt und für sich selbst etwas gelernt hat und vor Ort einen kleinen Teil beigetragen hat?
EMB: Jeder kommt mit beiden Aspekten zurück. Jeder kommt mit Mosaiken wieder, keiner kann, wenn er nach Indien fährt, davor die Augen verschließen, dass dort immenser Reichtum und gleichzeitig immense Armut herrscht. Jedes Erfahren ist wichtig und die Nachfrage, wie die eigene Gesellschaft verfasst und gestrickt ist, wie es hier mit Respekt vor Fremden steht, ist die eigentliche Erfahrung und Rückmeldung, wenn man zurückkommt.
CS: Wie läuft die Nachbereitung der TeilnehmerInnen ab? Sie haben vorhin gesagt, da wird eine Diskussionsplattform bereitgestellt, in welcher Form ist die vorhanden?
EMB: Zum Einen treffen wir uns zu einem Auswertungsseminar. Wir ermuntern die TeilnehmerInnen auch, sich zu den verschiedenen Themen noch mal zu treffen, z. B. Stadtentwicklung und Architektur über die verschiedenen Kontinente und Länder und Jahre hinweg. Oder auch welche Erfahrung im Nahen Osten gemacht werden können, und was ASA dort überhaupt bewirken kann. Viele ASA-TeilnehmerInnen sind anschließend aktiv und werden auch durch die Teilnahme am Programm mit einem Energieschub versehen, was ihr gesellschaftliches, ihr politisches, ihr berufliches Engagement angeht. Ich denke sogar, der Blick auf Fair Trade wird anders. Wenn man zum Beispiel in Burkina Faso die Baumwollbauern besucht hat, wird der Baumwollkonsum mit Sicherheit anders. Und wenn man sich die Orangenplantagen in Israel angeschaut hat und daneben die nicht-bewässerten Felder der Palästinenser sieht, wird einem der Zusammenhang unmittelbar klar. Zu den Kaffeebauern nach Nicaragua zu fahren und anschließend bei Tchibo einkaufen zu gehen, das ist nicht möglich. Dieses kleine Konsumieren ist politisch und wird sehr, sehr greifbar.
»Mitunter stellt sich plötzlich die Erkenntnis ein, dass man die Welt nicht unbedingt so erfahren muss, wie man es gesagt bekommen hat.«
Von einem Plumpsklo und der nicht vorhandenen Dusche hatte uns auf dem Vorbereitungsseminar niemand etwas erzählt. Doch da klar war, dass wir für drei Wochen bei Familien im mexikanischen Dorf Tlaxcalancingo untergebracht werden, hatte ich mit so etwas schon gerechnet. Unser »Gästezimmer« machte die doch leichte Enttäuschung schnell wieder wett. Großes weiches Bett, Sofa und eigener Schrank. Gleich nach dem Einrichten unseres Zimmers werden Christina und ich von »unserer Familienmutter« Justina großzügig bekocht. Dass sie uns ein so großes Essen auftischen kann, ruft bei uns weder Erstaunen noch Unbehagen hervor. Wir sind schließlich informiert. Sie hat von der Workcamp-Organisation Geld dafür bekommen.
»Haben die Kinder keine Lust, mit uns zu essen?«, frage ich Justina. Mónica und Chio, sieben und drei Jahre alt, sitzen auf dem Sofa auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes und schauen ab und zu von ihren Bilderbüchern, unseren Gastgeschenken, zu uns hin. »Nein, sie haben keinen Hunger. Vorhin gab es für sie schon Abendessen«, sagt Justina mit einem schüchternen Lächeln. Sicherlich hätten die zwei doch gerne etwas von dem Hähnchen mit Reis und dem Obstsalat, denke ich mir, will aber Justina nicht in Verlegenheit bringen. Auch die nächsten Tage isst die Familie nicht mit uns zusammen. Christina und ich reden und spielen während der Mahlzeiten mit den beiden Töchtern, so dass nach einer Woche die zwei schließlich mit uns am Tisch sitzen dürfen. Justina hat wohl gesehen, dass die Anwesenheit ihrer Töchter bei den Gästen nicht als ärgerlich empfunden wird, sondern erwünscht ist. Mit der Zeit tauen auch Justina und ihr Ehemann etwas auf, wenngleich sie leider immer noch eher schüchtern und zurückhaltend bleiben. Wir beginnen, interessante Gespräche mit ihnen zu führen, Maistortillas gemeinsam herzustellen und haben sehr viel Spaß.
Als ich beim Backen zum ersten Mal die Küche betrete, irritiert mich eine große Matratze neben dem Küchenschrank. Meine Befürchtung bestätigt sich. Christina und ich übernachteten also tatsächlich im Schlafzimmer der Eltern. Ob es wohl Erfolg haben würde, mit Justina darüber zu reden? Leichte Annäherungsversuche zu diesem Thema scheitern. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und deshalb immer das Beste zu bekommen, gefällt mir gar nicht, auch wenn ich darauf irgendwie vorbereitet war. Als noch viel schwieriger empfinde ich die Tatsache, dass ich auch mit Gesprächen nicht allzu viel ausrichten kann. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. »Chio«, rufe ich erfreut, als die jüngere Tochter zur Schlafzimmertür hereinkommt, meine Stoffente schnappt und sich mit ihr unter dem Bett versteckt. »Wo bist du, ich kann dich nicht finden! Jetzt hab ich dich!« rufe ich triumphierend und ziehe Chio aus ihrem Versteck hervor.
Woran erkenne ich, dass ich in Afrika bin? An den warmen Nächten, die schon um 18 Uhr beginnen? Daran, dass die Frauen alle Lasten auf dem Kopf tragen? Alles erscheint mir kurz nach meiner Ankunft in der Hauptstadt Accra noch irreal. Was mich in Jankufa erwartet, kann ich mir nicht vorstellen. Jankufa liegt fernab einer größeren Stadt im mittleren Westen Ghanas. Es ist Regenzeit, das buschige Land erscheint grün und fruchtbar. Die nackte Erde auf Straßen, Wegen und Plätzen ist rot. Der rote Staub wird sich in Kleidern, Schuhen und Schlafsäcken festsetzen. Das Dorf wird von rund 2.000 Menschen bewohnt, erscheint mir aber kleiner. Es gibt Steinhäuser mit Wellblechdach sowie wenige Lehmhütten mit Strohdach. Zwei Pumpbrunnen stehen auf zentralen Plätzen, fließend Wasser sowie Strom gibt es nicht. Die BewohnerInnen leben hauptsächlich vom Ackerbau. Ihre Sprache heißt Akan, manche Männer und Schulkinder sprechen auch etwas Englisch. Die Sprachbarriere, die kurze Dauer des Aufenthaltes sowie die auslastenden Kontakte innerhalb des Camps werden mir es schwer machen, tiefere Einblicke in den Ort und den Alltag der Menschen zu bekommen.
Das Workcamp besteht aus 30 - 50 Personen, darunter ein Drittel Ghanaer, die mit einer Ausnahme alle männlich sind. Die ausländischen Camper kommen aus Nordamerika und Europa. Die ghanaischen Volunteers geben sich europäische oder selbsterfundene Campnamen, die ausländischen erhalten ghanaische Campnamen. In meinem Fall ist das Amma - ein Name für eine an einem Samstag geborene Frau. Es stellt sich heraus, dass diese Namen bei der Kontaktaufnahme mit den zumeist nicht englischsprechenden DorfbewohnerInnen hilfreich sind. Alle Volunteers sind auf engem Raum in den drei Klassenzimmern eines Schulgebäudes untergebracht. Unsere Aufgabe in den nächsten drei Wochen wird es sein, Teak-Setzlinge einzupflanzen. Doch zuvor findet eine Begrüßungszeremonie mit dem Dorfoberhaupt und den Dorfältesten statt. Ihre Ansprache wird ins Englische übersetzt. Jeder Camper stellt sich kurz vor und das Gesagte wird in Akan übersetzt. Ich fühle mich dabei sehr willkommen. Die Dorfältesten tragen farbenprächtige Gewänder. Mehr als die Hälfte der Camper fotografiert das feierliche Ereignis. Das irritiert mich.
Die ersten beiden Tage sind frei. Angekommen in einer fremden Welt, wünsche ich mir ungeduldig einen funktionierenden Alltag und beginne, meine Wäsche zu waschen. Ein Haufen Kinder reißt mir die Sachen aus der Hand, um mir zu helfen; andere Camper benutzen das wenige Wasser, das ich mir mit einigem Aufwand besorgt habe, ungefragt einfach mit - ich bin überfordert. Mit der Zeit freunde ich mich aber mit den teilweise aufwändigen Verrichtungen an, die ein Alltag unter einfachen Bedingungen erfordert. Zum Beispiel lerne ich, den gefüllten Wassereimer auf dem Kopf zu tragen, und freue mich darüber, mit einem halben Eimer Wasser zum Duschen auszukommen. Allein das Wäschewaschen bleibt mir ein Graus- wegen des hohen Arbeitsaufwandes und weil es unter den Blicken der Öffentlichkeit stattfindet. Auch in anderen Situationen wird mein Handeln mit großem Interesse beobachtet. So bleibt mir manchmal wenig Selbstsicherheit: Im örtlichen Laden möchte ich etwas einkaufen. Vor dem Laden sitzen etwa sechs Männer, die mich kommen sehen. Ich gehe auf den Laden zu, aber ich grüße die Männer nicht. Aufgrund meiner Gewohnheiten schätze ich die Situation so ein, dass ich cool bleiben muss, um nicht angemacht zu werden. Prompt fragen mich die Männer, warum ich sie nicht grüße, und geben mir gleich eine Antwort vor: »Hast Du es vergessen?« In meiner Aufregung bejahe ich dies, obwohl ich mein Verhalten lieber erklären würde.
Im Laufe der Zeit verändert der Ort sein Gesicht. Unsere Anwesenheit wird eine Spur selbstverständlicher. Wir werden weniger scharf beobachtet. Immer wieder besuchen uns dörfliche Gruppen oder Schulklassen. Auch Einzelpersonen fühlen sich vom bunten Treiben des Camps angezogen und kommen freundlich-neugierig vorbei.
Wir Volunteers lernen uns recht schnell kennen. Wir sind alle zwischen 20 und 30 Jahre alt, und das gemeinsame Leben und Arbeiten verbindet. Es entstehen allerlei Tratsch, Insider-Witze, offene und versteckte Paare. Meine Freundin Katrin und ich verbringen viel Zeit mit Richard und Mike, zwei ghanaischen Campern, beide angehende Lehrer aus Accra. Die beiden sind eifrig bemüht, uns ihr Land näher zu bringen. Ich begeistere mich für die ghanaische Art, Englisch zu reden, für Richards brilliante Art des Geschichtenerzählens. Wir erzählen uns gegenseitig von zu Hause. Wir vergleichen unseren Alltag als Studenten oder Arbeitende, die Beziehungen innerhalb der Familien, oder unsere Ansichten zu Liebe und Sexualität. Große Vertrautheit und trennendes Unverständnis wechseln sich oft unvermittelt ab. Manchmal ist es schwierig, etwas ohne Richard und Mike zu unternehmen, ohne das Gefühl zu haben, sie zu beleidigen. Hinzu kommt, dass manche Ghanaer, die anfangs sehr offen zu mir waren, mich nun fast ignorieren. Sind die Reviere nun anders abgesteckt? Zu viert gehen wir hin und wieder ins »Friend’s Corner«, eine der örtlichen Bars. In der Regel bezahlen Katrin und ich die Getränke von Richard und Mike. Das finde ich o.k. Es entsteht aber eine Situation, in der ich anfange, mich unwohl zu fühlen: Zu viert in der Bar angekommen, sorgen wir für uns vier. Viele andere Volunteers sind schon da, darunter zwei Ghanaer mit leerem Glas. Richard und Mike sagen in ernstem Ton: »Es ist nicht nett«, die beiden ohne Getränk da sitzen zu lassen. Es ist vor allem die Art, wie sie es sagen, die mich misstrauisch werden lässt. Plötzlich stören mich Kleinigkeiten, die mir anfangs nicht aufgefallen waren: Wenn z.B. ein Handel von ghanaischen Mitcampern für uns abgewickelt wird, sagen sie in der Regeln »Gib mir...« statt »Es kostet...«
Das Thema Geld wird auch im gesamten Camp aktuell, als ein Wochenendausflug in den Nationalpark geplant wird, der umgerechnet 6,- DM pro Person kosten soll. Viele Ghanaer sagen, sie hätten keine Lust mitzukommen. Sie scheinen aber eher kein Geld zu haben oder kein Geld ausgeben zu wollen. Diese Situation verursacht eine Spaltung in der Gruppe der ausländischen Camper. Die einen wollen nicht zur Mitfinanzierung der Ghanaer gezwungen werden. Die anderen finden es selbstverständlich, finanzschwächere Personen mitzutragen. Das Problem wird nicht offen diskutiert. Es entsteht viel übles Gerede im Camp. Möglicherweise würde aber den Ghanaern eine offene Diskussion noch unangenehmer sein. Es gibt noch andere zwischenmenschliche Unklarheiten, die mich beschäftigen: Zusammen mit Abirto, dem Sohn des Dorfoberhauptes, habe ich Küchendienst. Ich habe mich auf diese Abwechslung im Arbeitsalltag gefreut und bin ziemlich vor den Kopf gestoßen, als Abirto anfängt, mir Befehle zu erteilen. Ich schaffe es nicht, mich zu wehren; zum einen finde ich nicht den richtigen Ton, zum anderen denke ich, dass er wahrscheinlich besser weiß, wie man hier Nahrung zubereitet oder Geschirr abwäscht. Ich kann nicht erkennen, ob er mir etwas erklären will oder tatsächlich befiehlt, zumal es oft vorkommt, dass ghanaische Mitcamper eher »Tu dies« anstatt »Also, wir machen es so...« sagen. Unerwarteterweise sprechen mir in dieser Situation viele Mitcamper Mut zu, nachdem ich geklagt habe. Mike redet Abirto ins Gewissen, der aber nicht verstehen kann, was los ist. Schon vor der Reise habe ich damit gerechnet, dass mir der weitgehende Verlust an Privatsphäre zu schaffen macht. Aber was mache ich nun konkret, wenn ich mich morgens anziehen möchte, aber plötzlich ein ghanaischer Mitcamper auf meiner Isomatte steht und keine Anstalten macht, zu gehen? Meine Grenze ist so weit überschritten, dass mir nichts mehr einfällt. Oft fühle ich mich im Camp ohnmächtig und habe das Gefühl, mich nicht wehren zu können. Wenn ich Kritik übe oder einen Wunsch anderer nicht erfüllen möchte, scheine ich mit meinen Bedürfnissen nur wahrgenommen zu werden, wenn ich sie so direkt äußere, dass es für mein Gefühl fast verletzend ist. Andererseits werden Erwartungen an mein Verhalten und oft auch Kritik nur sehr indirekt an mich herangetragen.
Manchmal freue ich mich auf die Zeit nach dem Camp. Unter anderem wegen des Essens, das ich in der ersten Woche o.k. finde und gegen Ende eher zum Heulen. Es gibt wenig Obst und Gemüse, so dass man fast nur Kohlehydrate zu sich nimmt. Änderungen beim Essen können nicht erreicht werden, was auch daran liegt, dass es den meisten Ausländern unangebracht erscheint, sich in Afrika über das Essen zu beklagen.
Am Ende des Camps besucht uns ein Mitarbeiter von VOLU und fragt nach unseren Erfahrungen. Vor allen Volunteers sagt er, 85 Prozent der ghanaischen Campteilnehmer seien nicht da, weil sie an der Arbeit von VOLU interessiert seien, sondern weil sie nach Amerika oder Europa wollten. Sehr dramatisch erklärt er, dass sie auch Lügen erzählen würden, um dies zu erreichen. Niemand von uns weiß, wie wir mit dieser Information umgehen sollen. Eine ziemliche Missstimmung ist entstanden. In den letzten Tagen des Workcamps entdecke ich, dass es mir gut tut, mich tagsüber alleine in eine der drei Bars zu setzen. Nachdem ich eine Weile mit Tagebuchschreiben beschäftigt war, gesellt sich ein ghanaischer Bargast zu mir. Er möchte meine Adresse haben und will mir seine Schuhe, die er trägt, schenken. Ich solle sie meinem Vater mitbringen, damit dieser weiß, dass ich auch in Afrika an ihn denke. Ich möchte diesem Mann weder meine Adresse geben, noch sein freundliches Geschenk annehmen. Mir fällt nur der Rat einer Freundin ein: »Du musst reden, reden, reden.« So fange ich an, Geschichten zu erzählen und begründe umständlich, warum ich seine Wünsche nicht erfüllen kann. Zum Beispiel, dass ich meines Vaters Schuhgröße nicht wisse und im Flugzeug nur 20 Kilogramm Gepäck mitnehmen dürfe. Es scheint den Mann nicht zu stören, dass ich mich wiederhole. Wir haben beide großen Spaß und sind am Ende zufrieden, obwohl seine ursprünglichen Wünsche nicht erfüllt sind. Jankufa ist ein winziger Teil unserer enger zusammenrückenden Welt. Ich habe einen drei Wochen währenden Augenblick dort verbracht. Abstrakte Vorstellungen und trügerische Bilder sind durch eine Prise eigener Wahrnehmung... unverändert?
Der ehrenamtlich arbeitende Berliner Verein Internationaler Arbeitskreis www.iak-net.de organisiert internationale Gruppenreisen, die unter die Rubrik Alternativtourismus fallen. Doch geht es dem IAK nicht in erster Linie um spektakuläre Reiseerlebnisse, klassische Solidaritätsarbeit oder alternativen Kulturtourismus, der zwar hinter die Kulissen blicken will, aber doch mehr konsumorientiert ist. Dem Anspruch nach sollen bei IAK-Reisen auf der Basis eines gleichberechtigten Austausches ein internationaler politischer Dialog und gesellschaftskritische Debatten geführt werden. Das IAK-Spektrum der Länder und Themen reicht von Geschichtspolitik in Chile, islamistischer Organisierung in Bangladesch bis zu Nationalismus in Serbien oder Antisemitismus in Deutschland. Bei den meist zweiwöchigen Reisen werden neben dem Austausch mit der jeweiligen Partnerorganisation Treffen mit Menschenrechtsorganisationen, Theoriezirkeln, feministischen oder antirassistischen Gruppen organisiert.
Zur Förderung eines wirklichen Austausches soll in den bereisten Ländern auch über die theoretische und praktische Verortung der Reiseteilnehmenden sowie über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland informiert und diskutiert werden. Doch wie lässt sich dies angesichts von Unterschieden in der politischen Kultur, sprachlichen Hürden und ökonomischen Gefällen zwischen Reisenden und Bereisten erreichen?
iz3w: Der IAK hat bereits viele politische Reisen organisiert. Gibt es interkulturelle Probleme, die dabei immer wieder auftauchen?
Helen Schwenken: Probleme können auf mehreren Ebenen entstehen. Erschreckend fand ich beispielsweise, wie die Sensibilität für den politisch-historischen Kontext trotz Vorbereitung ausgeschaltet werden kann. In Chile sprangen abends einmal vier Soldaten mit Gewehr im Anschlag aus einem verdunkelten Militärauto und sicherten die Tankstelle ab, vor der wir standen. Eine Teilnehmerin hat das einfach fotografiert. Das war leichtsinnig und erinnert an politischen Abenteuertourismus. Es zeigt, dass die bis heute nachwirkenden Folgen der Militärdiktatur und wie man sich zu verhalten hat, nicht reflektiert wurden. Ein anderes Problem besteht darin, dass wir alle mehr oder weniger unhinterfragt von der eigenen Theorie und politischen Praxis ausgehen, etwa der hiesigen Kritik an nationaler Befreiung oder am Sexismus. Das kann dazu führen, sich in eine überlegene Kritikposition zu begeben, anstatt den eigenen Hintergrund erst einmal verständlich zu erklären. Schließlich fragen wir unser Gegenüber aus dessen Sicht auch zum Teil völlig abwegige Dinge und erwarten Antworten, mit denen wir etwas anfangen können.
iz3w: Wie wird diese Einsicht praktisch umgesetzt?
HS: Wir versuchen bei bestimmten Fragen (»Wie steht ihr zum Krieg im Irak?«) die zugrunde liegende Fragemotivation und den Kontext transparent zu machen (»Bei uns gibt es die Debatte...«). Sonst können sie allzu leicht in einem ‘Abchecken’ von Positionen enden. Der Austausch von Argumenten, an deren Ende sich ja nicht alle einig sein müssen, würde dann unmöglich. Während des Vorbereitungsseminars sensibilisieren wir dafür, etwa durch das Verteilen von Kurzbeiträgen über bestimmte politische Fragen in Deutschland. Alle müssen sich dann Gedanken machen, wie etwas am besten zu vermitteln ist. Leider konnten wir ein Projekt nicht zu Ende bringen, das die Vermittlung spezifischer linker ‚deutscher’ Positionen zum Ziel hatte und aus den Erfahrungen unserer Reisen entstanden ist: ein Buch, in dem wir auf Englisch in verständlicher Sprache historische und politische Aspekte aufgreifen und Positionen erklären, die bei Linken im Ausland oft Kopfschütteln auslösen.
iz3w: Politische Debatten sind abgesehen von den sehr unterschiedlichen Sprechpositionen doch auch von konträren inhaltlichen Ansichten geprägt. Es wäre ein falscher Umkehrschluss der Reisenden, gegenüber allem, was ‚die Subalternen’ sagen, mit der eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten. Wird dieses Problem thematisiert?
HS: Die Erfahrung zeigt, dass sowohl harsches Fragen wie auch die (Nicht-)Thematisierung von Kritik an den Positionen unserer GesprächspartnerInnen häufig zu Konflikten innerhalb der deutschen Gruppe führen. Es gibt immer TeilnehmerInnen, die in das ein oder andere Extrem verfallen: kompromisslose Kritik oder Nichtthematisierung von Dissens. Wenn die Diskussion mit besuchten Gruppen oder auch Einzelnen über den formellen Rahmen hinausgeht, ist die Verständigung über Kontroversen und deren Hintergründe meist differenzierter möglich. Das ist für uns die Motivation, politische Reisen in der Form zu organisieren. Auf den Reisen versuchen wir durch Vor- und Nachbereitung der Gespräche zu reflektieren, ob uns das gelingt und zugleich den sehr unterschiedlichen Wissensstand der Teilnehmenden etwas auszugleichen, damit Gespräche nicht nur von SpezialistInnen geführt werden.
iz3w: Das hört sich zeitintensiv an.
HS: Häufig wollen die Reisenden tatsächlich lieber noch eine Organisation mehr treffen oder an einer Demonstration teilnehmen, als mehr Zeit für Reflexionen zu verwenden. Manchmal entwickeln sich jedoch aus dem Vorwurf von Eurozentrismus oder falschem Verhalten intensive Diskussionen. Es kann nicht immer alles geklärt werden, aber es fordert dazu heraus, die eigene Position zu artikulieren und zu überdenken.
iz3w: Wie ist das Verhältnis zwischen organisiertem Programm und touristischer Freizeitgestaltung?
HS: Das letztendliche Programm wird von der Gruppe beschlossen. Der Freizeitanteil ist meist relativ gering, jeder kann aber auch mal ein Treffen aussetzen, wenn es zu viel wird. Wir sagen vorher klar, dass es besser ist, für die touristischen Bedürfnisse länger zu bleiben. Der Tag ist meist voll mit Treffen, Diskussionen und die Fortbewegung als Gruppe ist zeitintensiv. Wir bringen aber immer auch (alternativ-)touristische Elemente ein, etwa eine Stadtführung durch einen Journalisten zu den wichtigsten Orten sozialer Proteste in Buenos Aires. Oder wir fahren mit unserem kirgisischen Partner zum Ysyk-Köl-See und diskutieren dort weiter.
iz3w: Aus welchem Spektrum kommen die TeilnehmerInnen?
HS: Es sind junge Erwachsene, die in verschiedenen politischen Gruppen arbeiten oder zumindest politisch interessiert sind. Sie haben unterschiedliche Positionen und auch Motivationen für die Reise. Viele interessieren sich schon länger für die Politik oder soziale Bewegungen in einem Land und freuen sich, dass sie über unsere Reise einen intensiven Einblick bekommen, der TouristInnen oder politischen Einzelreisenden versperrt ist. Andere haben kaum Vorkenntnisse und lassen sich einfach auf die Reise ein. Es ist aber klar, dass sexistische, antisemitische und rassistische Positionen nicht geduldet werden.
iz3w: Wie wirken sich die Differenzen innerhalb der Reisegruppe auf die Kommunikation mit den besuchten Gruppen aus?
HS: Es ist oft schwierig, den Gruppen und Projekten, mit denen wir uns neben unserer Partnerorganisation treffen, zu erklären, wer wir sind und was unser Interesse ist. Wir sind eben keine Delegation einer Stiftung, die Geld verteilt, und kein Uniseminar mit Dozentin. Es wird zwar schon deutlich, dass der IAK die Reise verantwortlich organisiert. Die IAK-TeamerInnen sind aber nicht diejenigen, die immer die Gespräche führen, die Gesprächsleitung rotiert. Manchmal entwickeln sich bereits im Gespräch Kontroversen unter den deutschen Teilnehmenden, die bei unserem Gegenüber für Irritationen sorgen und nicht so leicht zu übersetzen oder zu erklären sind.
iz3w: Welche Motivation haben die Gruppen vor Ort, sich mit den Reisenden zu treffen?
HS: Bei den meisten besteht das Interesse, die eigene Arbeit international bekannt zu machen. Bestimmte Projekte empfangen Polit-TouristInnen nur noch aus Höflichkeit. Wir machen aber meistens die Erfahrung, dass uns als BesucherInnen auch inhaltliche Neugierde entgegengebracht wird. Die Gruppen bekommen vom IAK kein Geld für die Treffen. Zudem achten wir darauf, dass vor Ort keine falschen Versprechungen von den TeilnehmerInnen gemacht werden. Selbst wenn die Situation in einer selbstorganisierten Bildungseinrichtung in einem Vorort noch so desolat ist: Computer zu versprechen und diese nicht zu besorgen, ist fahrlässig.
iz3w: Zwischen Besuchenden und Besuchten bestehen große Ungleichgewichte, die Rollen sind selten austauschbar. Um dies abzumildern, organisiert Ihr teilweise Gegenbesuche, deren Finanzierung Ihr besorgt.
HS: Die Rückaustausche können natürlich auch eine Motivation sein, sich mit uns zu treffen. Doch wer entscheidet, wer fahren darf? Überlassen wir das ganz unseren Partnern oder mischen wir uns ein und sagen, dass nur besonders Interessierte und zur Hälfte Frauen kommen sollen? Wir versuchen das Dilemma im Dialog zu lösen. Es kommt aber vor, dass nicht diejenigen fahren dürfen, die sich bei unserem Besuch am engagiertesten gezeigt haben.
iz3w: Welche Erfahrungen gab es mit den unterschiedlichen politischen Kulturen in den bereisten Ländern?
HS: Da lassen sich klare Unterschiede erkennen. Chile oder Argentinien haben beispielsweise eine lebendige und selbstorganisierte politische Szene und Tradition. Dort gibt es schnell Anschlusspunkte und gemeinsame politisch-kulturelle Aktivitäten. Ein anderer Schwerpunkt des IAK liegt auf dem Austausch mit postsozialistischen Ländern wie Rumänien oder Bulgarien. Dort wird die unterschiedliche politische Sozialisation schnell deutlich. Bei einer unserer langjährigen Partnerorganisationen aus einem postsozialistischen Land mussten wir ein – für uns befremdliches – hierarchisches Gruppenverständnis feststellen. Obwohl das alles junge Leute Anfang zwanzig sind, wurde beim Gegenbesuch in Berlin deutlich, dass einige, die nicht zu den ChefInnen der Organisation gehörten, zurechtgewiesen wurden, als sie zu viel inhaltliche Eigeninitiative zeigten. Das für beide Seiten akzeptabel zu thematisieren, ist nicht einfach.
iz3w: Unter welchen Bedingungen schaffen es Reisende und Bereiste am Besten, sich auf den jeweils anderen Kontext einzulassen?
HS: Wir machen vor allem dort gute Erfahrungen, wo der Austausch mit Partnerorganisationen über Jahre hinweg stattfindet. So interessierte sich in Chile auf unserer ersten Reise 1999 niemand für das, was gerade in Deutschland passiert. Nachdem der Austausch – nicht immer mit ganzen Gruppen, sondern auch mit Einzelpersonen – an Kontinuität gewann, gab es auf chilenischer Seite aber vermehrt interessierte Rückfragen, Vergleiche und Bezugnahmen. Das betrifft z.B. antifaschistische Politik oder polit-ökonomische Fragen. Wir organisierten dann eine Rundreise politischer AktivistInnen in Deutschland und waren an Publikationen in Deutschland und Chile beteiligt. Dem formulierten Anspruch ist jedoch immer schwer gerecht zu werden. Nicht zuletzt weil hier wie dort aus SchülerInnen und Studierenden, die Zeit für politische Arbeit haben, prekär Beschäftigte werden, weil solche Reisen zum Teil als beruflich wichtige Auslandserfahrung gesehen werden oder weil sich die politische Szene generell verändert. Ich denke aber, dass gerade die Kontraste sehr anregend sind, egal ob der Kontakt oder die Beschäftigung mit dem bereisten Land von den TeilnehmerInnen aufrechterhalten wird oder nicht. Wir erwarten also nicht, dass im Anschluss an eine Reise nach Bangladesch alle Teilnehmenden zu Bangladesch arbeiten.
Wenn eine(r) eine Forschungsreise tut, dann kann er/sie was erzählen. So etwa könnte das Motto all der WissenschaftlerInnen lauten, die Lebensbedingungen und Alltagsprobleme fernab ihres Heimatlandes studieren. Inzwischen zieht es StädtebauerInnen und BiologInnen, SozialpädagogInnen und SoziologInnen zu Forschungszwecken in die weite Welt. Kritische TourismusforscherInnen haben in den letzten Jahren zunehmend ihre reisenden Ko1legInnen aufs Korn genommen und sich die Frage nach den Zielen und Motiven der wissenschaftlichen Fernreisen erlaubt. Das böse Wort vom ›Projekttourismus‹ fing an, die Runde zu machen. Auf den nächsten Seiten kommen VertreterInnen aus Entwicklungs- und Selbsthilfeprojekten in Indien zu Wort. Beispielhaft werden dabei Organisationen vorgestellt, die sich in ihren ‘Strategien’ im Umgang mit ausländischen BesucherInnen stark unterscheiden und so verschiedene Aspekte des Phänomens ›Projekttourismus‹ darstellen.
SIRD, die Society for Integrated Rural Development, hat 1989 beschlossen, keine ausländischen ProjektbesucherInnen mehr aufzunehmen. Vorausgegangen waren diverse negative Erfahrungen mit dem ›Projekttourismus‹, die zu diesem Entschluss führten. Für die Organisatoren von SIRD bedeuten BesucherInnen erst einmal eine zusätzliche Arbeitsbelastung. Viele BesucherInnen kommen allerdings gerade dann, wenn es in den indischen Rhythmus des Dorflebens am wenigsten passt: In der Pflanzzeit (Oktober/November) oder in der Erntezeit (Januar/Februar) - also dann, wenn es in den kalten Industrieländern gerade so richtig ungemütlich wird. In dieser Zeit ist es für die Vertreter von SIRD dann besonders schwer, Gesprächsrunden mit den DorfbewohnerInnen zu organisieren, da diese vollauf mit der Feldarbeit, beschäftigt sind. Außerdem sind sie daran gewöhnt, nur abends zusammen zu sitzen und zu diskutieren - die meisten BesucherInnen wollen jedoch ein Tagesprogramm geboten bekommen. Ein anderes Kapitel ist die Reaktion der Dorfbevölkerung auf die BesucherInnen. Ganz allgemein werden Europäer immer mit starker Finanzkraft assoziiert - das Auftauchen von weißen AusländerInnen bedeutet daher für die meisten DorfbewohnerInnen, dass gleichzeitig auch kräftig die Devisen fließen. Der Besuch der weißen ›Weihnachtsmänner‹ beeinträchtigt die Motivation, selbst etwas auf die Beine zu stellen.
Am schwersten wogen jedoch bei dem Beschluss zur Besuchereindämmung die zunehmenden politischen Schwierigkeiten, die der Selbsthilfeorganisation durch den wachsenden Touristenstrom bereitet wurden. Die generelle Haltung gegenüber AusländerInnen ist seit der indischen Unabhängigkeit von tiefem Misstrauen geprägt. Gedankengänge, die M. Vasudevan, eines der Gründungsmitglieder von SIRD, nachvollzieht: »Warum besuchen sie diese Organisation? Sie geben Geld, und für dieses Geld bekommen sie dann Berichte. Diese Berichte gehen ins Ausland, und dort wissen sie dann, was hier vor sich geht. Und eines Tages kommen sie dann und besetzen wieder unser Land«. Die Angst, Ausländern all zuviel preiszugeben, wird auch von der Regierungsseite geteilt. Die Folgen für die Projektarbeit schildert wiederum M. Vasudevan: »Am Anfang fragte uns die Regierung nach einem Report in 6 Monaten. Später kamen viele Geldspenden herein. Danach forderten sie einen Rechnungsbericht. Und jetzt verlangen sie Kurzzeitreporte, z.B. über einzelne Dinge, die hier passieren. Heute sind Sie drei (die ASA-Gruppe) da. Morgen kommen dann einige Polizisten und fragen: Wer waren diese drei Leute? Dann müssen wir darüber auch einen Bericht schreiben«. Die Selbsthilfeorganisation erscheint den offiziellen Stellen dabei als »trouble maker«, als Störenfried, der mit Hilfe von ausländischem Geld die Landbevölkerung zum Massenprotest aufwiegelt und Demonstrationen anführt.
Zum Abschluss wollen wir noch wissen, ob es denn nur Schlechtes von den Besuchen zu berichten gäbe. Nein, durchaus nicht, kommt der vereinte Protest, rein persönlich freue man sich natürlich über ausländischen Besuch, und die indische Gastfreundschaft sei sozusagen eine heilige Pflicht. Nur eins wünschen sich die indischen Sozialarbeiter: Dass die ›friends‹ aus Übersee nicht nur gerne nach Indien kommen, sondern auch sie einmal nach Deutschland oder Holland oder Schweden einladen würden. Aber diese Möglichkeit wird ihnen so gut wie nie angeboten. Etwas resigniert meint M. Vasudevan, das sei eben nur eine Einbahnstraße.
SEARCH ist eine Partnerorganisation der Evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, die im Gefüge der indischen Nichtregierungsorganisationen auf einer Metaebene angesiedelt ist. SEARCH veranstaltet Weiterbildungsseminare für VertreterInnen von privaten (entwicklungspolitischen) Organisationen in Indien, sowohl auf der unteren Ebene der Dorfarbeit als auch im Managementbereich. Der Sitz von SEARCH ist Bangalore. Besucher bekommt SEARCH vor allem von VertreterInnen geldgebender Organisationen sowie von ForscherInnen. Nach eigener Aussage ist SEARCH den Projektbesuchen gegenüber aufgeschlossen. Wie der Executive Director von SEARCH, F. Stephen, erläutert, geht die Organisation bei der Auswahl der BesucherInnen jedoch sehr selektiv vor. Zwar werde niemand abgelehnt, aber man lege den ausländischen Gästen nahe, ihren geplanten Projektbesuch noch einmal selbst zu »überdenken«.
Schwierigkeiten sieht Mr. Stephen zum Beispiel darin, dass die BesucherInnen den NGOs Probleme mit der lokalen Polizeibehörde verursachen könnten. Dahinter stehe ein generelles Misstrauen, das Ausländern von Seiten der indischen Regierung entgegengebracht wird. Doch nicht nur mit der Polizei treten Schwierigkeiten auf, sondern auch mit den Einheimischen. Zum Eklat kam es beispielsweise, als eine Gruppe Europäer, die, vermittelt von SEARCH, in einem Projekt mitarbeiten sollten, mittags im Dorfteich nackt baden ging. Freiwillige, die gerne bei SEARCH für eine begrenzte Zeit mitarbeiten wollen, sind der Organisation nicht willkommen. Der Grund: die Arbeit von SEARCH ist politisch, und dabei möchte man AusländerInnen nicht involvieren. In diesem Zusammenhang formulierte der Executive Director auch ganz klar, dass er das Konzept des »Kommens und Helfen-Wollens nicht für sinnvoll« halte.
Ganz anders als bei SEARCH sieht man die Dinge bei der Großorganisation PREPARE im Bundesstaat Tamil Nadu. Der Name ›PREPARE‹ steht für ›Prepare the people to a change‹. Nach eigenen Aussagen leistet PREPARE Hilfe bei Naturkatastrophen und ökologischen Krisen, vor allem aber werde versucht, die Lebenssituation der indischen unteren Bevölkerungsklassen zu verbessern. Der Sitz der Organisation PREPARE ist die Stadt Madras.
Befragt zu den Erfahrungen mit ProjekttouristInnen, erläuterte Jacob D. Raj, der Kopf von PREPARE, dass die Organisation in erster Linie Interesse an BesucherInnen habe, die über Berufserfahrungen verfügen, d.h. für die Organisation »verwertbar« sind. Dies könne im medizinischen, landwirtschaftlichen oder aber im EDV-Bereich sein. Die ProjekttouristInnen sucht PREPARE weitgehend selbst aus, im Durchschnitt kämen 8-12 BesucherInnen pro Jahr, die dann zwischen ein und sechs Monaten mitarbeiten. Langfristig, so PREPARE, würde man gerne noch mehr westliche StudentInnen einladen, um sie für die schwierige Lebenssituation und ungerechte Behandlung der indischen Unberührbaren zu sensibilisieren. Dies solle bewirken, dass weltweit auf diese Problematik aufmerksam gemacht wird und somit langfristig internationaler Druck auf Indien ausgeübt werde, um eine positive Veränderung bezüglich der unteren Gesellschaftsklassen durchzusetzen. Beklagt wurde aber das häufige Desinteresse auf Seiten der BesucherInnen. So gehören die Projektbesuche zum Beispiel für StudentInnen zum Teil ihres Studiums, nach dem Besuch erlischt jedoch in den meisten Fällen das Interesse für eine weitere Zusammenarbeit. Nach Aussage von PREPARE seien nur 10% der Besuche »erfolgreich«, d.h. es entwickelte sich auch nach dem Besuch eine Solidaritätsarbeit im Heimatland oder eine langfristige beruflich bedingte positive Einflussmöglichkeit.
Eine besondere Form des Projekttourismus sind die Workcamps, die (meist jugendlichen) Freiwilligen einen Aufenthalt im Gastland ermöglichen sollen, bei denen sie nicht nur ›reine‹ TouristInnen sind, sondern für eine begrenzte Zeit selbst in einem Projekt mitarbeiten. Den TeilnehmerInnen wird dabei ein vorgefertigtes Programm angeboten, der Projekttourismus ist also hier wesentlich stärker von den OrganisatorInnen vor Ort vorgeprägt, als dies bei Einzelbesuchen möglich ist.
Seit drei Jahren werden in Phalodi, im Nordwesten des Bundesstaates Rajasthan, Workcamps abgehalten. Phalodi ist eine Stadt mit 80.000 EinwohnerInnen am Rande der Wüste Thar. Die Camps dauern in der Regel zehn Tage und finden im Winterhalbjahr statt. Die Arbeit der CampteilnehmerInnen besteht darin, Pflanzungsarbeiten in einer Baumschule zu leisten. Die Kontakte zu den WorkcampteilnehmerInnen werden über das Joint Assistant Center in Delhi hergestellt. Inwiefern und in welcher Weise die einzelnen WorkcamperInnen sich auf ihren Arbeitsaufenthalt vorbereiten, war dem örtlichen Organisator, Prakash Chhangani, unbekannt. Seine Erfahrungen waren jedoch, dass von insgesamt sieben Camps sechs gescheitert sind. Im Durchschnitt blieben die TeilnehmerInnen nur 12 bis 24 Stunden. Meistens waren ihnen die Arbeitsbedingungen zu hart oder das unspektakuläre Wüstendorf zu langweilig oder das Verbot von Alkohol und Zigaretten in der Unterbringung unangenehm. Das Fazit von Chhangani war deswegen auch, dass die meisten AusländerInnen doch nur aus touristischem Interesse und aus Abenteuerlust kommen würden und im Grunde keine Lust hätten zu arbeiten. Er persönlich hätte kein Interesse mehr daran, weitere Camps zu veranstalten.
Genauso wenig wie es möglich ist, zu behaupten, dass die Organisationen Projekttourismus vollständig ablehnen oder befürworten, ist es unmöglich, ein pauschales Urteil über den/die ProjekttouristIn und über deren/dessen Verhalten zu fällen. Das soll hier auch gar nicht versucht werden. Dieser Bericht soll vielmehr zeigen, welche Situationen bei einem Projektbesuch möglich sind und welche Erwartungen von indischer Seite an die westlichen BesucherInnen gestellt werden. In vielen Fällen erhoffen sich die indischen Organisationen (berechtigterweise) ein ›Feedback‹ von ihren BesucherInnen, seien es nun Gegenleistungen finanzieller Art, eine langfristige ideelle Unterstützung, Werbewirkung für die Projektarbeit oder auch ganz einfach nur eine Gegeneinladung. Meist werden diese vagen Hoffnungen jedoch nicht erfüllt. Das Verhältnis zwischen BesucherInnen und Besuchten ist solange von einem Ungleichgewicht geprägt, solange die VertreterInnen der Dritten Welt nicht in gleicher Anzahl als (Projekt-) TouristInnen zu uns kommen können. Der so genannte Projekttourismus unterliegt damit letztlich denselben Gesetzmäßigkeiten wie jede andere Form von ›Dritte Welt‹-Tourismus.
In diesem Zusammenhang sind auch die Thesen unserer Partnerorganisation EQUATIONS (Equitable Tourism Options) interessant. Für die ForscherInnen aus Bangalore ist der ›Dritte Welt‹-Tourismus nicht nur mit den problematischen Beziehungen zwischen Industrie- und den so genannten Entwicklungsländern verknüpft, sondern auch mit transnationalen Kapitalinteressen, mit Militarismus, einem Neo-Kolonialismus und nicht zuletzt auch mit Fragen der Ökologie und des Umweltschutzes. Der touristischen Einbahnstraße von den reichen zu den ärmeren Ländern (mit oft verheerenden Folgen für letztere) versucht die kleine Organisation in Bangalore Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit gegenüberzustellen und die nationale sowie internationale Zusammenarbeit kritischer Tourismusgruppen zu fördern.
Paul S. Gonsalves, die treibende Kraft von EQUATIONS, wollte früher noch selbst das Konzept eines neuen ›alternativen Tourismus‹ fördern und sah das ›angepasste Reisen‹ als Ausweg aus den Problemen des Massentourismus an. Heute ist er wesentlich desillusionierter. »Massenhafter Alternativ- Tourismus«, so sagt er inzwischen, »ist schlimmer als der herkömmliche Tourismus«. Er vertritt die provozierende These, jede(r) TouristIn bestätige sich im Ausland nur seine mitgebrachten Vorurteile. Je differenzierter das Weltbild eines/r Besuchers/in, um so größer sei dabei in der Regel der Wunsch nach intensivem Kontakt zu den Einheimischen. Möglicherweise sind jedoch die Auswirkungen eines solchen Reisestils störender für Land und Leute als die der abgeschirmten Ferienenklaven ä la Club Mediterranee und ähnlicher Tourismusprofis. Der Standpunkt von EQUATIONS macht klar, dass es nicht unbedingt bessere und schlechtere Reisende gibt. Jede(r) WestlerIn, der/die sich die Rückzugsmöglichkeit in sein/ihr ›sicheres‹ Heimatland offen hält, ist TouristIn, mag er/sie sich auch noch so ›angepasst‹ benehmen.
»Die neuen militanten TouristInnen haben in Argentinien ein Motiv für ihre Hoffnung entdeckt (und für eine billige Reise). Sie fühlen sich als Teil der Anti-Globalisierungsbewegung, deren Kraft man von Außen besser sieht als von Innen«, schreiben Javier Brailovsky und Romina Ruffato in der argentinischen Tageszeitung pagina12 über den ‚Piquetero-Tourismus’ in Argentinien, der seit der Krise und der Abwertung des Peso geradezu boomt. Mit leicht ironischem Ton stellen sie die Aussagen der von ihnen befragten TouristInnen in den Rahmen der Situation der lokalen sozialen Bewegungen und halten den ‚anders Reisenden’ einen argentinischen Spiegel vor.
Nach dem Modell der Zapatours in Chiapas sprießen mittlerweile auch in Argentinien Angebote für »Besichtigungstouren des urbanen Widerstands« aus dem Boden. »Die besetzte Textilfabrik Brukman wurde schon von mehr als 500 Leuten besucht, einige andere Streikposten (piquetes) bekommen 5-6 »Gringo-Besuche« in der Woche. Dabei sind ein Großteil der BesucherInnen nicht etwa Touristen, die sowieso im Land umherreisen und sich auch dort einmal umschauen wollen. Die meisten kommen ausschließlich, um die Piqueteros zu besuchen. Sie sehen sich als AktivistInnen und haben häufig den Hintergedanken eine wissenschaftliche Arbeit darüber zu schreiben oder einen Film zu machen. Es gibt die Leute, die nur Kurzzeitbesuche machen und diejenigen, die als dauerhafte Freiwillige in Versammlungen und Volksküchen anwesend sind. Und es gibt solche, die Selbstorganisierungsprojekte durchführen wollen und sich in billigen Hotels einquartieren oder in den Häusern der Piqueteroviertel mitwohnen.« In den Asembleas (Versammlungen) sorgt das zum Teil für amüsierte Verwunderung: »Da kommen die Fremden in eine Versammlung, in der gerade die konkreten Probleme eines Stadtviertels der Mittelklasse diskutiert werden, photographieren wie wild, sprechen mit der Versammlung, steigen in den Mini-Bus und zerstreuen sich wieder in alle Himmelsrichtungen.« Carlos, ein Mitglied der Asemblea del Cid Campeador (einer ehemaligen Bank, die nun besetzt ist) berichtet:
»Eines Nachmittags kam ein Bus an, aus dem 40 Deutsche im Altersdurchschnitt von 60 Jahren ausstiegen. Sie kamen vom Weltsozialforum in Porto Alegre, hatten Bolivien, Peru und Chile bereist und studierten soziale Bewegungen. Sie kannten die Asemblea aus Indymedia und kamen unangekündigt. Sie bezeichneten die Asembleas als einzigartiges Phänomen, als mögliche Zukunft, spendeten bei einer Schulspeisung Säfte und Lebensmittel und sagten, dass sie es gut gefunden hätten, wenn noch viel mehr Banken in Asembleas transformiert worden wären.«
Von zu Hause mitgebracht werden die unterschiedlichsten Erwartungen und Bilder: »Ich kam hierher um die Explosion eines Modells zu sehen, das sich in den letzten Dekaden durchgesetzt hatte«, beschreibt eine Aktivistin ihre Reisemotivation. »Ich bin mit dem Kapitalismus nicht einverstanden, ich glaube, man kann von Argentinien viel lernen. Die Leute hier haben mehr Ahnung von wirklicher Demokratie. In der schlimmsten Krise waren die Leute am solidarischsten. Wenn ich mit meinen Artikeln dazu beitrage, dass jemand weiß, dass Buenos Aires nicht die Hauptstadt von Brasilien ist, ist das schon etwas. Ich kam mit einer Anti-Konsumhaltung, aber heute versuche ich mit der argentinischen Ökonomie zusammenzuarbeiten: z.B. in kleinen Läden kaufen anstelle von großen Supermärkten.«
Dem Enthusiasmus der Reisenden wird das facettenreiche und zuweilen ambivalente Bild von VertreterInnen der Versammlungen gegenübergestellt. Es erscheint dabei durchaus wohlwollend, auch wenn die naive Überheblichkeit der TouristInnen kritisiert wird und es spiegelt eine Mischung aus Stolz auf das Eigene wieder auch wenn die Idealisierung aus der Außenperspektive ironisch gebrochen wird. »Die reisenden Durchschnitts-Militanten haben ihre Charakteristika, sie haben zweifellos Zeit, sind engagiert, interessiert und haben auf jede Frage eine Antwort. Und Argentinien ruft in ihren Gehirnen die gewagtesten Thesen hervor.« Ezequiel von Cid Campeador beschreibt, dass ihm in Porto Alegre »von einem Südafrikaner ein überhöhtes Bild entgegengehalten« worden sei. Er habe sich gefühlt, als ob sie (die Asemblea) »eine Kolonne Che Guevaras« sei. Natürlich sei das auch reizvoll: »Wenn du etwas Gutes machst, dann kommen die Leute deshalb und wollen das anschauen. Cid Campeador gefällt das, aber es gibt auch Asembleas denen das auf die Nerven geht. Manchmal sei es so übertrieben, dass eine Versammlung von 15 Leuten von außen betrachtet als etwas Großartiges erscheint.« Celia Martinez von Brukman erzählt, dass die »Kolleginnen manchmal murrten, weil sie kein Privatleben mehr hätten bei den ganzen Besuchern, »aber ich sage ihnen dann, dass das gut ist, denn so sind wir mit der Welt verbunden. Wir müssen weiterkämpfen, denn die Leute schauen unserem Kampf zu und hoffen, dass wir gewinnen.«
Um dem Ansturm der Besucher gerecht zu werden, organisieren sich die Bewegungen mittlerweile. Durch den Tod von Darío Santillán, der dort aktiv war, bekam die Bewegung Movimiento de Trabajadores Desocupados de Lanús (MTD) soviel Aufmerksamkeit, dass »Delegierte für Internationale Beziehungen« abgestellt wurden, die sich um die Besucher kümmerten und ihnen während des Besuchs einiges erklärten. Ebenfalls bei MTD aus Lanús haben zwei italienische Indymedia-Journalisten ein Kommunikationszentrum eingerichtet, damit dass Viertel Anschluss ans Internet und somit an den globalen Widerstand bekommt. Vernetzung ist das Zauberwort. Der Widerstand allerdings bleibt doch eher sehr lokal (in diesem Fall auf Argentinien konzentriert). »Zwar werden AktivistInnen nach Europa eingeladen um dort Reden zu halten, die Idee einiger AktivistInnen, den Widerstand auszuweiten, einen globalen Piquete zu organisieren und die Flughäfen der wichtigsten europäischen Städte zu blockieren, wurde jedoch als unpraktikabel abgelehnt.« Diese Spitze an die Adresse der AktivistInnen, doch erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren, gerät dann allerdings ebenfalls in die Gefahr, die systemverändernde Kraft von Besetzungen zu idealisieren.