Bulgarien: Sammeln, Jagen, Tauschen
Kosovo: Protegierte Provinz
Russland: Wem der Rubel rollt
Türkei: (K)ein Urlaubsland wie jedes andere; Verdunkelte Spiegel der Gesellschaft
Allgemeines Osteuropa: Der Süden im Osten; Ausbeutung als Chance?
Der bulgarische Transformationsprozess seit 1989 wird als einer der erfolglosesten angesehen. Die Reformstrategien wechselten wie die Regierungen. Bulgarien ist darin allerdings kein Einzelfall in Südosteuropa. Der ganzen Region ist es nicht gelungen, ihre früheren sozialistischen in funktionierende kapitalistische Ökonomien zu transformieren, nicht zuletzt, weil neoliberale Schocktherapien angewandt wurden.
Die wirtschaftlichen Verschlechterungen verringerten in den südosteuropäischen Ländern nicht nur die reale Beschäftigung, sondern auch die Fähigkeit der Staaten, ihre früheren, relativ generösen und extensiven Sozialsysteme aufrecht zu erhalten. Der Druck auf staatliche Unternehmen, wettbewerbsfähig zu werden, zwang sie zur Abschaffung ihrer sozialen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Erholungsheime, die ein wesentlicher Teil des sozialistischen Wohlfahrtssystems waren. Frühere allgemein anerkannte soziale Rechte wie die Beschäftigung auf Lebenszeit, ein stabiles und sicheres (wenn auch niedriges) Einkommen, subventionierte Grundkonsumgüter und Dienstleistungen, freier Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, gesicherte Renten und andere Formen der sozialen Sicherung fielen nach und nach weg. Der Transitionsprozess verursachte hohe soziale Kosten.
Übereinstimmend stellen alle Beobachter fest, dass die wachsende Armut in Südosteuropa auf die anhaltende ökonomische Krise, auf den Zusammenbruch der Sozialsysteme und auf die wachsende Einkommensschere zurückgeht. Besonders hart getroffen von der Verarmung sind RentnerInnen, Arbeitslose, Behinderte, MigrantInnen, Flüchtlinge, Frauen und Kinder. Auch ethnische Minderheiten haben besonders darunter zu leiden - etwa die Roma, deren niedriger Bildungsgrad und hohe Arbeitslosigkeit allerdings auch auf die allgemeine gesellschaftliche Diskriminierung zurückgeht.
Im Allgemeinen ist in Südosteuropa die Armut auf dem Land stärker ausgeprägt als in den Städten. Dies lassen die offiziellen Statistiken vermuten, in denen jedoch das bargeldlose Einkommen in ländlichen Gegenden meist nicht vorkommt. Außerdem gibt es bedeutende regionale Einkommensunterschiede. Ein weiteres Merkmal ist, dass größere Haushalte ärmer sind als kleinere. Die Zahl der »working poor« steigt mit dem deutlichen Fall des Realeinkommens und den beträchtlich höheren Lebenshaltungskosten. All das ergibt ein trostloses Bild. Trotzdem sind die südosteuropäischen Länder im Vergleich zu vielen anderen Ländern dieser Welt mit einem ähnlichen oder sogar höheren Pro-Kopf-Einkommen immer noch relativ höher entwickelt. Das kann einerseits auf die Restbestände des sozialistischen Wohlfahrtssystems und andererseits auf die vergleichsweise immer noch einigermaßen egalitäre Einkommensverteilung zurückgeführt werden. Aber das könnte sich schnell ändern, wenn die öffentlichen Sozialausgaben weiter zurück gehen und die Einkommensunterschiede weiter wachsen.
Die sozialen und ökonomischen Probleme Bulgariens sind in dieser Umgebung keine Ausnahme, wenngleich der dortige Übergangskurs einige auffällige Eigenheiten hatte: Hinsichtlich des politischen Transitionsprozesses galt Bulgarien als Vorzeigemodell für die erfolgreiche Errichtung demokratischer Institutionen in einer instabilen und unsicheren Region. Die Regierungen wurden (und werden) von den WählerInnen mit steter Regelmäßigkeit als Hoffnungsträger gewählt und nach ausbleibendem Erfolg wieder abgewählt. Dass die Machtwechsel relativ friedlich und geordnet erfolgen, zeigt die Festigkeit des neuen Institutionengefüges. Bei der ökonomischen Restrukturierung sieht es jedoch schlechter aus. Nach einer anfänglichen Rezession unter der konservativen Regierung zwischen 1991 und 1992, die von einer Preisliberalisierung und starken Einschnitten bei staatlichen Subventionen begleitet war, verlangsamte die aus parteilosen »Experten« bestehende und als Übergangskabinett konzipierte Regierung nach 1992 das Tempo der Reformen. Augenscheinliche strukturelle Probleme wie die Verschuldung der Unternehmen und die Insolvenz vieler Banken wurden nicht in Angriff genommen.
Die negativen Folgen der aufgeschobenen Reformen zeigten sich nicht sofort. Mit der 1994 gewählten sozialistischen Regierung kam es 1994 und 1995 in Bulgarien sogar zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser erwies sich aber als trügerisch, weil die Wirtschaft in dieser Zeit auf Kosten zunehmender Verschuldung wuchs und eine ernste Krise des Banksektors am Horizont aufschien. Faktisch bankrotte Firmen wurden von der Regierung künstlich am Leben gehalten. Obendrein breitete sich die Korruption selbst in höchsten Regierungskreisen aus. Der ökonomische Kollaps Ende 1996 / Anfang 1997 belegte die Mängel der Reformstrategie. Die Antwort der internationalen Finanzinstitutionen auf den Crash war abzusehen. Jede neue Regierung, die Kredite wollte, sollte gezwungen werden, radikale Wirtschaftsreformen durchzuführen. Kredite wurden dann tatsächlich vergeben, um das Land aus dem ökonomischen Tief zu holen. Die im April 1997 gewählte und von Ivan Kostov geführte konservative Regierung startete ein neoliberales Reformprogramm. Die Privatisierung wurde beschleunigt, der Bankensektor reformiert, schwache Unternehmen geschlossen. Doch trotz höherer Wachstumsraten seit 1998 und makroökonomischer Stabilität blieb der erhoffte Wohlstandszuwachs aus. Vielmehr wuchs die Armut stark an, nicht zuletzt aufgrund der extrem restriktiven Budgetpolitik der Regierung, über die ein vom IWF kontrollierter Währungsrat wachte. Der Währungsrat hatte weniger sozialpolitische Maßnahmen als vielmehr die Zahlungsfähigkeit des im Ausland hoch verschuldeten Landes im Auge.
Einige Beispiele veranschaulichen diesen Trend: Nach einem Bericht der »Agency of Social Research« betrachtet sich mittlerweile fast die Hälfte der Bevölkerung als arm. 33 Prozent geben an, dass sie am Rande der Armut leben. 30 Prozent verfügen über weniger als einen US-Dollar pro Tag, die von UN und Weltbank definierte absolute Armutsgrenze. Viele Menschen in Bulgarien geben den Großteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Der Rest wird für Wasser, Heizung und Elektrizität benötigt. Löhne, soziale Leistungen und Renten liegen unter jedem erträglichen Standard. Die realen Renten lagen im Jahr 1999 auf gerade mal einem Viertel des Niveaus von 1989. Die Mindestrente lag bei umgerechnet 19 Euro im Monat, der Mindestlohn bei 35 Euro, während die offizielle Armutsgrenze im Jahr 1999 bei 39 Euro lag. Die Gewerkschaften kalkulieren die Mindest-Lebenshaltungskosten demgegenüber bei 115 Euro im Monat. Allein die Heizkosten für eine durchschnittliche Wohnung betragen 65 Euro pro Monat. Ein von der Regierung angekündigter Anstieg der Mindestlöhne auf 50 Euro im Monat wurde vom IWF im Jahr 2000 abgelehnt. Die Mindestlöhne wurden schließlich nur auf 37,50 Euro erhöht.
Mittlerweile werden gerade noch 3,4 Prozent des Bruttosozialprodukts der Gesundheitsversorgung zugeführt, was deutlich unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Wer in öffentlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden will, muss Bestechungsgelder bezahlen. Die Arbeitslosigkeit wächst parallel zur Schließung maroder Unternehmen. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 13 bis 14 Prozent, die Gewerkschaften sprechen von über 20 Prozent. Ungefähr 50.000 Schulkinder, meistens Roma, besuchen die Schule unregelmäßig. Laut UNICEF ist die Hälfte der bulgarischen Kinder schlecht ernährt.
Wie gelingt es den Menschen, trotz dieser Situation zu überleben? Diese Frage führt weg von der Makroebene der Transitionsprozesse hin zur Mikroebene der Lebenswelten und Alltagspraxen der einfachen Menschen, ein noch wenig beackertes Forschungsfeld. Allerdings wurden die »kleinen Transitionsprozesse« in den letzten Jahren immer mehr zum Thema von soziologischen Forschungen. Die Weltbank begann im Interesse der Absicherung ihrer Förderprogramme, qualitative Untersuchungen darüber anzustellen, wie sich die Menschen mit der Armut arrangieren.
Eine der wichtigsten alltäglichen Überlebensstrategien im postsozialistischen Zeitalter ist die Beschäftigung im informellen Sektor. Schätzungen zufolge werden dort zwischen 20 und 30 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet. Die Beschäftigung im informellen Sektor hat aber viele negative Folgen: die dort Beschäftigten erhalten keine sozialen Leistungen, die Arbeitsbedingungen sind schlecht und der Gesamtverdienst ist gering. Diese Schwierigkeiten werden oft dadurch abgepuffert, dass die Beschäftigung im informellen Sektor auf verwandtschaftlichen oder ähnlich engen Beziehungen basiert. Der Staat verliert in jedem Fall Steuergelder. Nach Studien der Universität Graz waren verwandtschaftliche und informelle Netzwerke schon während der kommunistischen Herrschaft ein bestimmendes Muster der sozialen Interaktion und blieben dies auch während der Transitionsperiode. Für die Lebensbedingungen der Individuen innerhalb des dominierenden Klimas der Unsicherheit spielt die vorhandene oder nicht vorhandene familiäre Unterstützung eine wachsende, zentrale Rolle. Die verwandtschaftlichen Bezüge sind bedeutsam bei der Arbeitssuche oder beim Tauschen von Waren. Und, noch wichtiger, sie ermöglichen den Zugang zu Ackerland und somit zu Nahrung.
Die durch die Re-Privatisierung der Landwirtschaft möglich gewordene Subsistenzwirtschaft ist ein wichtiges Standbein der Überlebensstrategien, nicht zuletzt, weil die Arbeitslosigkeit auf dem Land durch die Schließung von dort niedergelassenen Fabriken enorm anstieg. Subsistenzwirtschaft und Verwandtschaftsbeziehungen hängen eng miteinander zusammen und schaffen starke Verbindungen zwischen Stadt und Land. Das führt oft zu Stadt-Land-Haushalten: Es entstehen Familienstrukturen, in denen der auf dem Land lebende Teil der Familie - meistens die Eltern - ihren erwachsenen Nachwuchs mit Nahrung versorgt. Die in der Stadt lebenden Familienmitglieder helfen mit Bargeld und ermöglichen den Zugang zu medizinischer Versorgung oder bürokratischen Leistungen. Diese, bereits im Sozialismus wichtigen Verbindungen, geraten nun unter starken Druck, weil die in der Stadt lebenden Familienangehörigen immer weniger zu bieten haben und immer häufiger selbst aufs Land gehen müssen.
Die Subsistenzwirtschaft ist oft auch mit informellem Tauschhandel verbunden. In bulgarischen Bergdörfern kann man vor allem in Zeiten der Hyperinflation fast alles mit Kartoffeln kaufen. Soziale Beziehungen spielen beim Tauschhandel eine wichtige Rolle, obwohl es mit den Kartoffeln als anerkannter Währung auch recht geregelt zugehen kann. Der Tauschhandel ist eine Anpassung an ein unzureichendes Marktsystem und an den Bargeldmangel. Er speist sich aber auch aus den Erfahrungen mit informellem Austausch während des Sozialismus.
Eine andere, stärker marktorientierte Anpassungsstrategie besteht im Sammeln verbunden mit Kleinhandel. Das Sammeln ist vor allem in Bergregionen verbreitet und umfasst das Pflücken von Pilzen und Wildkräutern sowie das Jagen von Schlangen und anderen Wildtieren. In den Rhodopen-Bergen beispielsweise verbringt ein großer Teil der männlichen Bevölkerung die meiste Zeit des Tages im Sommer mit dem Sammeln von Pilzen in den nahegelegenen Wäldern. Die Pilze werden an meist auswärtige Zwischenhändler verkauft, die sie dann an häufig italienische Händler zur Auslandsvermarktung weiter verkaufen. Das Sammeln wird auf einer familiären Basis organisiert und die Haushalte können mit der Ernte eines Tages deutlich mehr als einen durchschnittlichen Tageslohn erwirtschaften. In anderen Teilen des Landes reisen landlose Roma durch die Berge und sammeln Lindenblüten und Früchte.
Der Kleinhandel war während der ersten Transitionsjahre besonders wichtig. Es brauchte meistens nicht mehr als einen Händler und seinen Koffer. Die Händler fuhren beispielsweise mit Bussen nach Istanbul und kamen zurück mit Waren wie Sportschuhen, Kleidung und Lederwaren, die sie in Bulgarien mit einer guten Gewinnspanne verkaufen konnten. Ähnliche marginale Handelsformen gibt es im Landesinnern, zum Beispiel mit Schafwolle und -fellen. Weil diese Formen des Handels hauptsächlich von Roma praktiziert werden, halten sich die »ethnischen« BulgarInnen jedoch davor zurück, um nicht als »zigeunerisch« betrachtet zu werden.
Der Geldmangel zwingt viele Menschen, ihren Konsum auf ein Minimum zu reduzieren. In ländlichen Gegenden führte das zu einer Aufgabe moderner Annehmlichkeiten, wie aus einem Bericht über verarmte RentnerInnen hervorgeht: »Auf dem Land lebende Rentner... sind fast vollständig zu einer traditionellen Lebensweise zurück gekehrt. Sie benutzen Holz und Kohlen zum Heizen und Kochen, machen ihren Abwasch von Hand mit selbstgemachter Seife und bauen den Großteil ihrer Nahrung auf ihren privaten Höfen an.« Viele StadtbewohnerInnen sind gezwungen, ihre Zentralheizungen wegen der hohen Kosten abzustellen. Die Heizkosten für eine mittelgroße Wohnung in Sofia betragen einen durchschnittlichen halben Monatslohn.
Eine weitere Bewältigungsstrategie ist die Auswanderung. Zwischen 1990 (dem Höhepunkt der Auswanderungswelle) und 1996 emigrierten rund 550.000 Menschen aus Bulgarien. Hauptsächlich wandern türkischstämmige BulgarInnen und höher gebildete junge Leute aus der Gruppe der »ethnischen« Bulgaren aus. Letztere machten zwischen 1989 und 1995 11,5 Prozent der AuswanderInnen aus - ein massives Brain Drain, denn viele von ihnen waren hochqualifiziert. All diese Bewältigungsstrategien können nicht nur mit ökonomischen Rationalitäten erklärt werden. Die Antworten der Menschen auf den Druck ebenso wie die Möglichkeiten der Transition sind eingebettet in soziale Beziehungen, kulturelle Traditionen und lokales Wissen. Ein Grund, warum die Reformen nicht die erhofften Ergebnisse brachten, liegt gerade in der Nichtberücksichtigung dieses lokalen Wissens. Die Menschen sind eben nicht nur passive Opfer äußerer Mächte, sondern sie (re)agieren aktiv, indem sie versuchen, die Strukturen sowie die Schreibtischpläne ökonomischer Strategen zu ihrem eigenen Nutzen zu manipulieren.
Ein besseres Verständnis der sozialistischen Phase hätte den Ideologen der radikalen Schocktherapie zeigen können, dass Konzepte »von oben« notwendigerweise widersprüchliche Konsequenzen haben. Wie die Menschen während des Sozialismus die Vorgaben des Parteienstaates für ihre eigenen Zwecke nutzten, so versuchen sie nun, die Transition zu ihrem Vorteil umzugestalten; nicht nur, um physisch zu überleben, sondern auch, um ihnen wichtige kulturelle Werte zu erhalten. Mehr als ein Jahrzehnt nach 1989 ist offenkundig, dass die offizielle Rhetorik der kapitalistischen Transformation die Erfahrungen der meisten einfachen Menschen nicht widerspiegeln kann. Die ökonomischen und sozialen Aussichten in Bulgarien sind finster. Nach einem halben Jahrhundert forcierter sozialistischer Modernisierung sind die Regierungen Bulgariens und anderer südosteuropäischer Staaten wieder in einer Situation, in der sich ihre Rolle darauf reduziert, gute Bedingungen für die Anwerbung ausländischen Kapitals zu schaffen, das die einzige Quelle für neuen ökonomischen Fortschritt zu sein scheint. Bulgarien ist wie vor 1945 Teil eines zurückgebliebenen Europas, in dem die Armut groß und der Fortschritt zweifelhaft ist.
Die NATO-Intervention und die Errichtung eines UNO-Protektorates im Kosovo gaben vor, die »ethnischen Säuberungen« zu beenden und durch einen an die militärische Intervention angeschlossenen Demokratisierungs- und Modernisierungsprozess die ethnische Fragmentierung der kosovarischen Gesellschaft aufzulösen. Doch diese ist heute zementierter denn je. Einerseits war der Krieg das Produkt lokaler Eliten, die vor, während und auch nach dem Krieg von ihm profitiert haben. Die Tendenz zur Informalisierung der Gesellschaft sowie zu Klientelismus und Korruption bestand bereits lange vor Ausbruch des Krieges. Andererseits ist der Kosovo durch das Protektorat und den Balkan-Stabilitätspakt internationalisiert wie kaum ein anderes Land. Wie in anderen Protektoraten mangelt es der extern eingesetzten Regierung und Verwaltung an Legitimität; staatliche Gewalt und eine nicht-ethnische Politik lassen sich kaum durchsetzten. Die UNO-Resolution 1244 fordert substanzielle Autonomie und Selbstverwaltung für den Kosovo. Doch aufgrund der ausufernden Gewalthandlungen zwischen den lokalen Akteuren erschien es den Interventionsmächten ratsam, diese von den politischen Kernfunktionen und Ämtern der neu errichteten demokratischen Ordnung erst einmal fern zu halten. Regierung und Parlament, die seit dem Jahr 2000 unter Aufsicht der OSZE gewählt werden, können nicht einmal über die Steuereinnahmen verfügen. Der UNO-Mission im Kosovo (UNMIK) ist es bisher auch auf kommunaler Ebene nicht gelungen, die von ihr errichteten Strukturen in Selbstverwaltung zu übergeben. Solange alle wichtigen Hoheitsbereiche als Reserved Powers in den Händen der UNMIK bleiben, erinnert dieses Vorgehen (unter gewollter Offenhaltung des völkerrechtlichen Status des Kosovo) an koloniale Zeiten. Die politische Ordnung und die - bis heute nur schwache - formelle Ökonomie wurden nach westeuropäischem Muster »aufgepfropft«.
Unter der UN-Übergangsverwaltung werden Jahrzehnte alte ethnische Ordnungsprinzipien weiter verfestigt. Deutlicher Ausdruck ist zum einen die Parteienlandschaft des Kosovo. Die Parteien haben sich primär nicht etwa unterschiedliche politische Programme auf die Fahnen geschrieben, sondern sind in erster Linie »albanisch« oder »serbisch«. Zum anderen drückt sich die Ethnisierung auch in der Siedlungspolitik aus. Die wenigen Serben, die trotz der groß angelegten Vertreibungen nach Einmarsch der NATO verblieben sind, siedeln in von der KFOR (Kosovo Force der NATO) streng bewachten Enklaven, an deren Grenzen es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Serben und Albanern kommt. Ethnische Rechte werden auch unter KFOR und UNMIK offensichtlich höher bewertet als individuelle Menschenrechte, denn wie im »alten Jugoslawien« werden die öffentlichen Ämter auch unter UN-Verwaltung nach ethnischem Proporz besetzt. So ist das angeblich demokratische Mehrparteiensystem von vornherein in ein klientelistisches Netzwerk entlang ethnischer Zugehörigkeiten und Partikularinteressen verformt worden (Riedel 2002: 56). Durch die politische Entmündigung werden die Konfliktparteien dazu ermutigt, ihre »ethnopolitischen« Rivalitäten zu pflegen. Anstatt Kompromisse einzugehen, können sie sich am besten positionieren, indem sie sich gegenseitig in Demagogie übertreffen (vgl. Derens 2002). Die Isolation oder Auswanderung der jeweiligen ethnischen Minoritäten (vornehmlich Serben und Roma), die sich diskriminiert fühlten, ist das Resultat dieser Entwicklung. Sie drückt sich u.a. in dem Wahlboykott der kosovarischen Serben bei den Kommunalwahlen im Jahre 2002 aus.
Die Justiz des Protektorates ist kaum funktionstüchtig. Ihr mangelt es an materiellen wie personellen Kapazitäten und sie findet kaum Akzeptanz in der Bevölkerung. Doch es gibt auch ein primär politisches Problem: die mangelnde Verfolgung von Kriegsverbrechen. Während sich Vertreter Serbiens vor dem Den Haager UNO-Kriegsverbrechertribunal verantworten müssen, kommt die kosovo-albanische Seite bis dato fast völlig ungestraft davon. Die internationale Verwaltung hat sich weitgehend mit der ethnisch fragmentierten Gesellschaft wie mit den »ethnischen Säuberungen« unter umgekehrtem Vorzeichen nach dem Einmarsch der KFOR abgefunden. Die Ausnahme bildet die Verurteilung des ehemaligen Kommandeurs der UCK (Kosovo-Befreiungsarmee), Rustem Mustafa, der im Juli 2003 wegen Kriegsverbrechen 17 Jahre Gefängnis erhielt. Unterdessen finden sich im offiziellen Kosovo Protection Corps (KPC), das nach Ansicht der kosovo-albanischen Eliten die Nationalgarde eines unabhängigen Kosovo werden soll, eine große Zahl nach wie vor unbehelligter Kriegsverbrecher. Bereits ihr Chef, Agim Ceku, war an den »ethnischen Säuberungen« der kroatischen Krajina 1995 beteiligt.
Jahrelang gab es eine Dichotomie zwischen der offiziellen »serbischen« und der »kosovo-albanischen« Gesellschaft. Heute leben die Menschen zum einen in einer offiziellen Protektoratsgesellschaft, die sich formal an liberaler Demokratie und Minderheitenschutz orientiert, zum anderen in einer informellen Gesellschaft, die von politisch-mafiösen Untergrundnetzwerken geprägt ist. Letztere, aus der UCK hervorgegangene Strukturen kontrollieren längst Politik und Wirtschaft der Provinz. Mittlerweile hat bei westlichen Sicherheitsexperten ein Paradigmenwechsel vom früher als »gefährlich« gedeuteten serbischen Nationalismus zum kosovo-albanischen Nationalismus stattgefunden. Denn sowohl in Südserbien, Mazedonien wie auch in Nordgriechenland fordern albanische Nationalisten ein »Großalbanien«. Die UNMIK sieht sich einer zementierten Konfliktsituation gegenüber, die in Teilen Produkt ihrer eigenen Politik ist. Die Europäische Union will heute eine erneute Destabilisierung der Balkan-Region durch den Ausbruch von weiteren »ethnischen« Krisen verhindern. Dank militärischer Mithilfe bei der Zerschlagung des serbischen »Schurkenstaates« durfte die EU die politische Führungsrolle beim Balkan-Stabilitätspakt übernehmen, wenn auch nicht ohne jedwede Kontrolle durch die USA. Die US-Interessen bestanden im Kosovo in der Statuierung eines Exempels am jugoslawischen Präsidenten Milosevic und der Wahrung ihrer machtpolitischen Dominanz in Europa. Gemeinsam mit ihren europäischen Partnern ist ihnen ein stabiles, wirtschaftlich prosperierendes Südosteuropa von Interesse, dessen Märkte für Investitionen und Exporte geöffnet sind. Die europäischen Partner wollen darüber hinaus insbesondere die strategisch wichtigen Transitrouten für den Personen- und Güterverkehr kontrollieren, die Europa mit Griechenland, der Türkei und dem Mittleren Osten verbinden.
Doch all dies liegt in weiter Ferne, denn das Ausmaß der Peripherisierung und Verarmung ist nach wie vor erschreckend. Zwar konnten in einigen Bereichen, wie der Versorgung Not leidender Bevölkerungsgruppen und im Gesundheitswesen, Fortschritte erzielt werden. Doch ist z.B. die Stromversorgung selbst in den großen Städten noch weit von westeuropäischen Standards entfernt. Strom gibt es maximal drei Stunden, danach ist die Versorgung wieder für etwa drei Stunden unterbrochen. Zwar wurden mit Hilfe von EU-Geldern und der Arbeit diverser NGOs fast alle zerstörten Häuser wieder aufgebaut und Tausende kleiner Betriebe eröffnet. Aber dieser Aufschwung ist vor allem den Spenden-Milliarden zu verdanken, welche nun zu versiegen drohen. Seit Juni 2002 werden keinerlei Nahrungsmittelhilfen mehr ausgegeben. Dies hat in einer Region, in der die offizielle Arbeitslosigkeit 49 Prozent und die Sozialhilfe für eine fünfköpfige Familie 65 Euro beträgt, dramatische Auswirkungen auf die Versorgung. Im besonderen Maße von Armut und Perspektivlosigkeit betroffen sind Minderheiten (insbesondere Roma) sowie Rückkehrer.
Im Kosovo werden gut 85 % aller Produkte importiert, es wird aber faktisch nichts exportiert. Die vor Ort produzierten Güter weisen bislang eine so geringe Qualität auf, dass selbst die eigene Bevölkerung Produkte aus Griechenland oder anderen Balkanländern bevorzugt. Viele neue Unternehmen steuern daher auf den Bankrott zu. Um die Lücke schließen zu können, die durch zurückgehende Spenden und Diasporagelder in den nächsten Jahren entstehen wird, müsste das Wirtschaftswachstum im Kosovo auf 15 Prozent jährlich steigen - eine Illusion schon allein im Hinblick auf die weltweite Rezession. Die desolate ökonomische Situation ist diversen inneren Faktoren wie Missmanagement und Korruption geschuldet und vordergründig nicht auf mangelndes Engagement des Westens zurückzuführen. Für die Entwicklung der gesamten Region im Rahmen des Balkan-Stabilitätspaktes werden enorme Summen (über 6 Milliarden Euro für alle Empfängerländer) aufgewendet. Dennoch haben sowohl der Stabilitätspakt als auch das UNO-Protektorat negative Auswirkungen vor allem struktureller Art auf die soziale und wirtschaftliche Situation des Kosovo.
Der Balkan-Stabilitätspakt wurde im Juni 1999 von 40 Staaten und internationalen Organisationen (wie Nato, OECD, IWF) geschlossen. Die deutsche Bundesregierung war maßgeblich an der Gründung beteiligt und stellte mit Bodo Hombach auch den ersten Chef (Sonderbeauftragten). Abgesehen von regulären BMZ-Mitteln der bilateralen Entwicklungshilfe stellte Deutschland für die Jahre 2000 bis 2003 etwa 615 Millionen Euro Sondermittel bereit und belegt mit der Übernahme von 7 Prozent der Kosten nach den USA (19 Prozent) den zweiten Platz unter den Geldgebern (www.bmz.de ). Die Mitgliedsstaaten bekunden in Artikel 9 ihren Willen, bei der Stärkung von Frieden, Stabilität, Demokratie und wirtschaftlichem Wohlstand für die südosteuropäischen Länder zusammenzuarbeiten. Im Rahmen des sogenannten »Regionaltisches« treffen sich regelmäßig Entscheidungsträger der Region unter Vorsitz des Sonderbeauftragten. Weiter gibt es drei »Arbeitstische«, also thematische Kernbereiche: Demokratisierung & Menschenrechte, wirtschaftlicher Wiederaufbau, Entwicklung & Zusammenarbeit sowie innere und militärische Sicherheit.
Die Ergebnisse der ersten Geberkonferenz machten die Dominanz des Kernbereichs Wirtschaft gegenüber Demokratie und Sicherheit deutlich. So sollen dafür 1,8 Milliarden Euro aufgewendet werden - gegenüber 430 Millionen Euro für Demokratie und 81 Millionen Euro für die Sicherheit in der gesamten Balkanregion (Deimel 2001: 179). Die Europäische Entwicklungsbank und die Weltbank setzen die Rahmenbedingungen der ökonomischen und politischen Reformen. Ziel ist die Liberalisierung der Ökonomien Südosteuropas, d.h. Öffnung für Exporte und Investitionen aus dem Westen, das Primat des Investitionsschutzes und Privatisierungen (vgl. Becker/Jurkeit 2001). Die Lösung massiver Probleme wie Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und fehlende Einrichtungen der sozialen Sicherung ist dagegen nicht zentral. Dass dieses (neoliberale) »Modernisierungskonzept« seit 1989 auf dem Balkan mit zur Entstehung der diversen Kriege geführt hat, ignorieren die Verantwortlichen. Das Hochhalten vermehrter intraregionaler Zusammenarbeit erscheint zynisch, waren doch gerade Deutschland und die EU seit 1991 durch »Volksgruppenförderung« und staatliche Anerkennung sezessionistischer Teilrepubliken an der Zerschlagung überregionaler Strukturen beteiligt (zur deutschen Rolle vgl. iz3w 238).
Es sollen Freihandelszonen nach dem Vorbild der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA geschaffen werden, um den seit 1990 am Boden liegenden intraregionalen Handel anzukurbeln. Doch eine Stärkung des Binnenmarktes ist definitiv nicht Ziel des Stabilitätspaktes. Denn wäre er an den Produktions- und Konsumptionsmöglichkeiten der Region orientiert, müsste er die schwache Ökonomie vor den billigen Waren aus dem Westen und Südostasien schützen. Es ist abzusehen, dass die projektierte Liberalisierung und die Privatisierung staatlicher Betriebe zu Massenentlassungen und somit zur Verschärfung der sozialen Krise führen werden. Außerdem wandern die aufgewandten öffentlichen Gelder zu wichtigen Teilen in die Taschen westlicher Firmen, die mit dem Wiederaufbau des Kosovo beauftragt wurden (Hofbauer 2001: 287). Auch in politischer Hinsicht wurde das Ziel der Heranführung des Balkans an die »euro-atlantischen Strukturen und Wertesysteme« von der Realität überholt. Die europäische Peripherie im Südosten, speziell der Kosovo, erlebte weniger die »gemeinsam koordinierte Aktion« als vielmehr die Ausübung hegemonialer Macht und Interessenwahrung durch NATO, UNO, EU sowie IWF und Weltbank. Die viel gelobte koordinierte Aktion mit Bevölkerung und Autoritäten des Kosovo findet offenbar nur in kleinen lokalen Projekten ohne politischen oder wirtschaftlichen Einfluss statt (Dempsey 2001). Nicht nur strukturelle Defizite verhindern einen Aufbau demokratischer Strukturen im Kosovo. Die 144 »Quick-Start-Projekte« des Bereichs Demokratisierung, die eine kurzfristige Stärkung demokratischer Entscheidungsprozesse und die Verständigung und Aussöhnung zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen zum Ziel hatten, erscheinen zwar als überaus sinnvoll. Allerdings ist - gemessen an den weitreichenden Zielen - bislang wenig erreicht worden. Dies ist insbesondere auf die mangelnde personelle Ausstattung vieler Projekte zurückzuführen. Die meisten sind von internationalen Organisationen wie der OSZE lanciert worden, lokale Partner der Quick-Start-Projekte waren zumeist Behörden. Der angestrebte Demokratisierungseffekt durch Einbindung der Bevölkerung und Zivilgesellschaft ist ausgeblieben. Dies verdeutlicht den Paternalismus der angestrebten Demokratisierung. Ein Großteil der Gelder für Demokratisierung wird bezeichnenderweise für die Rückführung der Flüchtlinge in ihre jeweilige »Heimat« bereitgestellt (über 303 Millionen Euro). Dabei verpflichtet der Stabilitätspakt die Länder zwar zur Anerkennung der Eigentumsrechte von Vertriebenen. Doch z.B. in Kroatien steht das Nutzungsrecht über dem Eigentumsrecht; die Rückkehr der Vertriebenen gestaltet sich so mehr als schwierig. In der Folge müssen Hunderttausende von Flüchtlingen seit Jahren in »Repatriierungslagern« in Bosnien leben.
Neben der Re-Ethnisierung der Gesellschaft und den Folgen der neoliberalen Rezepte ist es die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung einer »Kolonie« ohne politische und ökonomische Selbstverwaltung, die eine »nachhaltige Entwicklung« blockiert. Diese Faktoren machen eine dauerhafte Verlängerung externer Finanzhilfen nötig. Ausreichende Perspektiven für die Menschen im Kosovo schafft diese Form der »Entwicklungshilfe« allerdings nicht.
In Russland leben 17 der 497 weltweit registrierten Dollarmilliardäre. Den Berufsoptimisten in der Russischen Regierung und westlichen Beraterstäben zufolge ist der Reichtum der russischen Geldelite - unter der sich keine Frau befindet - nur das Extrem eines unaufhörlichen Aufstiegs der gesamten russischen Wirtschaft seit fünf Jahren. Und wer in Moskaus Innenstadt flaniert, kann auch durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich hier schon westliches Konsumniveau zu westlichen Preisen durchgesetzt hat.
Doch in Russland leben außer den wenigen superreichen noch etwa 144 Millionen weitere Menschen, viele von ihnen in Armut. Dies wird zwar als Problem anerkannt. Aber mit seiner Ankündigung, das Sozialprodukt von heute etwa 2.000 US-Dollar pro Kopf innerhalb von zehn Jahren zu verdoppeln, will Präsident Putin den Eindruck erwecken, alle könnten über kurz oder lang am Aufschwung teilhaben. Die meisten RussInnen sind jedoch nicht davon überzeugt: Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ROMIR Monitoring vom August 2003 glauben 78 Prozent, dass eine neue Krise wie die von 1998 jederzeit möglich sei. Damals erklärte die Regierung die Zahlungsunfähigkeit und wertete den Rubel ab. Das Resultat war eine extreme Verteuerung von Importwaren und ein erheblicher Einbruch der Reallöhne, der erst ganz allmählich wieder aufgeholt wird. Zudem glauben die Leute nicht mehr daran, dass der Aufschwung ihre eigenen Lebensumstände verbessert. 68 Prozent erwarten, dass sie niemals »viel Geld« haben werden. Und das, obwohl für die meisten »viel« bei 5.000 Rubeln (ca. 170 US-Dollar) Einkommen anfängt. Die soziale Schere in Russland ist weit geöffnet, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie sich in naher Zukunft schließen könnte.
Es ist vor allem diese extreme Verarmung und gesellschaftliche Spaltung, die viele kritische BeobachterInnen der Entwicklung seit Mitte der 90er Jahre von "Third-Worldization" als Ergebnis neoliberaler Transformation sprechen ließ. Aber die Situation in Russland unterscheidet sich aus zwei Gründen vom Modell eines "traditionellen Entwicklungslandes". Zum einen gibt es - historisch bedingt - viele Elemente einer modernen industrialisierten Gesellschaft mit einem ausgebauten Staatswesen, das zu Sowjet-Zeiten viele gesellschaftliche Grundfunktionen übernommen hatte. Das heißt einerseits, dass es eine ausgebaute, wenn auch zerfallende Infrastruktur gibt; andererseits, dass viele (zivil-)gesellschaftliche Strukturen eher schwach entwickelt bzw. nur informell im Rahmen dieser staatszentrierten Formation ausgebildet waren.
Zum zweiten unterscheidet sich der globale Kontext gesellschaftlicher Entwicklung in einem peripheren Land Anfang des 21. Jahrhunderts erheblich von der postkolonialen Situation der 60er und 70er Jahre, auf die sich der Begriff Entwicklungsland gemeinhin bezieht. Das betrifft Zugangsmöglichkeiten zum Weltmarkt, zu modernen Technologien, aber auch zum hegemonialen Modell neoliberaler Entwicklungspolitik (weniger Staat, mehr Markt, mehr soziale Ungleichheit). Ein Grundmuster peripherer Gesellschaften aber ist erkennbar: die extreme soziale Fragmentierung. Weil die Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen jedoch unübersichtlicher wurden, sind sie mit traditionell marxistisch-imperialismustheoretischem Vokabular, das bei russischen »Linken« oftmals noch überwiegt, schwer einzufangen. Dies trägt dazu bei, dass der Widerstand gegen die extremen Umverteilungsprozesse von unten nach oben sich bisher nur langsam entwickelt.
Verschiedene Reaktionsmuster auf die anhaltende gesellschaftliche Krise werden in der politischen (Parteien-)Landschaft im Hinblick auf die Duma-Wahlen im Dezember deutlich. Die »Partei der Macht«, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie den Präsidenten und die Politik von Premierminister Kasjanov unterstützt, heißt dieses Mal Jedinaja Rossija (Vereintes Russland). Ob das Projekt gelingt, mittels administrativer und finanzieller Ressourcen dem Kreml die Hausmacht zu sichern, ist jedoch unklar. Angesichts der ungelösten sozialen und ökonomischen Probleme und nicht zuletzt des Tschetschenienkrieges reicht auch das positive persönliche Image Putins möglicherweise nicht mehr aus, die Zustimmung zu sichern.
In zweiter Reihe stehen traditionell die Kommunisten, doch eine klare Alternative, außer Rhetorik gegen die »Politik gegen das Volk« der Regierung Kasjanov, haben sie kaum zu bieten. Nicht einmal eine Allianz mit den Kräften um den linkspatriotischen Ökonomen Sergej Glaziev, der als Vertreter einer staatsorientierten sozialverträglichen Entwicklungsstrategie auftritt und eine Art Shooting Star der »Linken« ist, haben sie bisher zustande gebracht. Der Rechtspopulist Vladimir Zhirinovskij scheint die Welle der Xenophobie - nach mehreren verheerenden Bombenanschlägen auf zivile Ziele in Moskau - für sich nutzen zu können. Liberale Parteien verschiedener Ausrichtung, wie SPS von Boris Nemtsov oder Yabloko von Grigorij Yavslinksij dagegen kommen in Umfragen über fünf Prozent meist nicht hinaus - zu sehr verbinden viele Leute mit ihnen die fatale wirtschaftliche Schocktherapie. Bürgerlicher Liberalismus ohne soziale Verantwortung hat in Russland wenig Chancen.
Insgesamt bringen die RussInnen allen diesen Parteien sehr wenig Vertrauen entgegen - das trifft auch für die meisten anderen gesellschaftlichen Institutionen zu. Die traditionellen Gewerkschaften, obwohl immer noch mit millionenfacher Mitgliedschaft, spielen im öffentlichen Leben kaum eine Rolle. Neue unabhängige Gewerkschaften bestehen meist aus einem kleinen Kern von AktivistInnen - sie können an einzelnen Stellen Achtungserfolge erzielen, sind bisher jedoch kein Kristallisationspunkt größerer gesellschaftlicher Gegenbewegungen. So bleiben Armut und Marginalisierung meist private Themen, auch wenn sie offiziell bekannt sind. Nach Angaben des staatlichen Statistikkomitees Goskomstat sinkt die Armut im Lande: Offiziell befinden sich jetzt »nur noch« 36 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, ein Viertel der Bevölkerung. Allerdings wird als offizielles Existenzminimum heute ein Einkommen definiert, das nur halb so hoch ist wie das von 1991. Das rasante Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, gestützt auf den hohen Ölpreis und das Wiederaufleben des Binnenkonsums nach der Rubelkrise von 1998, ist an diesen Bevölkerungsgruppen praktisch vorbeigegangen. Und das, obwohl es sich nicht nur um so genannte Randgruppen handelt: während bisher RentnerInnen als die Hauptgruppe der Armen galten, zeigen neuere Zahlen, dass auch viele Lohnarbeitende mit Einkommen auskommen müssen, die unter den Lebenshaltungskosten liegen: ArbeiterInnen, aber auch Leute mit Hochschulabschluss.
Insbesondere im öffentlichen Sektor werden weiterhin Spottgehälter bezahlt: Lehrende an Schulen und Hochschulen, ÄrztInnen und Angehörige der öffentlichen Verwaltungen reicht ein normaler Job nicht aus. Um ihnen das Leben zu erleichtern, wurde kürzlich erlaubt, dass sie an ihrer Institution auch zusätzliche Vertretungsjobs machen dürfen. Eine Praxis, die freilich seit Jahren üblich ist; 60-70 Prozent der LehrerInnen, ÄrztInnen und Krankenschwestern übernehmen zusätzliche Stunden und Schichten. Dass sowohl an Schulen als auch im Gesundheitssektor überwiegend Frauen arbeiten, ist ein Grund für die zunehmende Feminisierung von Armut. Insgesamt verdienen Männer mindestens ein Drittel mehr als Frauen. Speziell alleinerziehende Frauen und alleinstehende ältere Frauen sind einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt. Die regionalen Unterschiede zeigen sich am deutlichsten zwischen Moskau und der Provinz. Aber auch innerhalb der »Global City« wachsen die sozialen Unterschiede: illegalisierte Migranten schuften auf dem Bau, ziehen neue Wohnblöcke mit eigener Infrastruktur hoch (oft inklusive Heizkraftwerk, Schönheitssalon und Sicherheitsdienst mit Videoüberwachung), in die dann diejenigen einziehen, die es geschafft haben. »Luxuriöses Leben in einem Haus« nennt sich das in Anspielung auf den »Sozialismus in einem Land«.
Die soziale Spaltung betrifft auch die grundlegenden gesellschaftlichen Dienste und den Zugang zur Infrastruktur. Nach wie vor gilt in vielen russischen Städten das Propiska-System, das Wohnrecht nur Alteingesessenen oder Personen mit einem festen Arbeitsvertrag zugesteht. Folgerichtig leben in Moskau Millionen Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, die meisten sind russische StaatsbürgerInnen. Das öffnet nicht nur repressiven Maßnahmen des Staates und der Willkür von ArbeitgeberInnen Tür und Tor, sondern schließt sie auch aus den sozialen Sicherungssystemen aus. Während in der Sowjetunion kostenlose Gesundheitsversorgung (auf niedrigem Niveau) und Renten garantiert waren, sind diese sozialen Sicherungssysteme inzwischen auf kaltem Wege privatisiert worden. Das Gesundheitssystem ist für offiziell Beschäftigte zwar nach wie vor kostenlos. Doch viele arbeiten ohne das obligatorische »Arbeitsbuch« und fallen damit aus der offiziellen Krankenversicherung heraus. Medikamente sind selbst zu bezahlen, ebenso kompliziertere Behandlungen. Nur wenige haben das Glück, in einem der prosperierenden Unternehmen zu arbeiten, die aus wohl verstandenem Eigeninteresse ihren MitarbeiterInnen eine private Krankenversicherung finanzieren.
Die Rentenversicherung wird schrittweise vom Generationen übergreifenden auf ein Mehrsäulensystem umgestellt, das zum Teil auf Kapitalbasis funktioniert. Ein Teil der Rentenabgaben soll ab diesem Jahr an private Rentenfonds abgeführt werden. Wie viel Rente dabei für die einzelnen herauskommt, weiß niemand. Was mit den Fonds im Zuge einer weiteren Krise passieren wird, wahrscheinlich auch nicht. Aktuell müssen RentnerInnen mit lächerlich kleinen Renten zwischen 600 und knapp 2000 Rubeln, d.h. 20-70 Euro, über die Runden kommen. Viele müssen dazuverdienen oder Gemüse auf der eigenen Datscha anbauen. Sie müssen sich mit alten Möbeln und Kleidern begnügen; manche haben das Glück, in der aus sowjetischen Zeiten vorhandenen Wohnung (noch) einigermaßen billig leben zu können. Was aber früher für viele selbstverständlich war, z.B. die Möglichkeit, in gewissen Grenzen zu reisen, scheitert heute für viele bereits an den Preisen für Eisenbahntickets oder Flüge.
Natalja Rimashevskaja, Direktorin des Instituts für Sozioökonomische Probleme der Russischen Bevölkerung an der Akademie der Wissenschaften, konstatierte, es hätten sich zwei Welten entwickelt, die sich gegenseitig nicht mehr verstünden. Nicht nur ökonomisch klaffe die Schere auseinander, auch kulturelle Bezugsmuster entwickelten sich voneinander weg. Die Einen reisen und übernehmen globale Konsummuster, während die Anderen an Überlebensstrategien in eng begrenzten lokalen Räumen basteln und dabei von globalen Informationsflüssen weitgehend abgekoppelt bleiben.
Die Netzwerke aus vielfältigen Freundschafts- und vor allem Verwandtschaftsbeziehungen sind es, die vielen Leuten das Überleben ermöglichen. Diese Strukturen bieten zwar ein soziales Netz für ihre Mitglieder, sind eben darum aber auch extrem exklusiv. Wer keine Familie hat, ist den Gefahren des real existierenden Kapitalismus ausgeliefert. Zwar existiert in Form der öffentlichen Verwaltungen und medizinischen, sozialen und Bildungs-Einrichtungen ein gesellschaftlicher Grundstandard an öffentlicher Versorgung - vom Seuchendienst bis zur Müllabfuhr. Durch das Engagement Einzelner funktioniert es auch mehr oder weniger. Ein tragfähiges soziales Netz jenseits persönlicher Beziehungen ist damit aber dennoch nicht gegeben.
Die viel gerühmte »Zivilgesellschaft« kann diese Lücken nicht schließen. Mancherorts fangen wohl NGOs und private Initiativen an, sich in den krassesten Lücken des Sozialsystems zu engagieren. Es gibt inzwischen mehr als 70.000 »soziale und nichtkommerzielle« Vereine und Assoziationen, die sich mit irgendeiner Form sozialer Wohlfahrt befassen. Zwischen einer und zweieinhalb Millionen Menschen erbringen so Hilfeleistungen für ca. 20-30 Millionen. Doch die finanziellen und personellen Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Und weil der Staat die Zivilgesellschaft von oben organisiert, etwa durch hochoffizielle Bürgerforen, und damit eine halbstaatliche öffentliche Sphäre aufbaut, wird diese von der Mehrheit der Bevölkerung mit erheblicher Skepsis betrachtet. Viele vermuten, der Staat wolle nichtstaatliche Aktivitäten in geregelte Bahnen lenken und die NGO-FunktionärInnen sicherten sich dabei einen Platz an der Sonne.
So bleibt der Ruf nach einem starken, handlungsfähigen Staat laut, der wahlweise die wildgewordenen Casino-Kapitalisten, die Kriminellen, die Terroristen und andere Störenfriede zur Räson bringen soll. Nicht zuletzt ist es der Präsident selbst, der diese Ideologie vertritt und symbolisiert. Mit ihrer nationalistischen Rhetorik schaffen es die Staatsvertreter immer wieder, die soziale Spaltung zu übertünchen. Vom gemeinsamen Ziel, einem großen und starken Russland, würden alle profitieren. Die Regierung, die sich als modern, rational und dem Westen gegenüber aufgeschlossen präsentieren will, verzichtet dabei im allgemeinen auf martialische Töne - mit Ausnahme des mitunter sehr drastischen antitschetschenischen Rassismus.
Radikale nationalbolschewistische Strömungen pflegen einen aggressiven Nationalismus, der sich immer stärker über die Abgrenzung, mal zum US-Imperialismus, mal zu den Oligarchen und mal zu den Juden formiert. Antisemitische Ressentiments sind nicht zuletzt dadurch relativ leicht zu mobilisieren, dass die »Nationalität« öffentlicher Personen in Russland immer mitgedacht wird. Denn wie in der Sowjetunion wird auch im heutigen Russland neben der Staatsangehörigkeit auch eine »Nationalität« in den Pass eingetragen. Auch »jüdisch« gilt als Nationalität. Die Konstruktion äußerer und vor allem innerer Bedrohung, insbesondere in Form des tschetschenischen »Terrorismus«, rechtfertigt immer wieder die erheblichen Repressionspotentiale, die im Zweifel aber auch gegen alle Formen sozialen Protests eingesetzt werden. Auch gegen gewerkschaftliche Organisation von unten gibt es immer wieder Einschüchterungsversuche. Die Gefährdung der einzelnen BürgerInnen durch die Repressionsorgane wird durch die zunehmende Brutalisierung von Polizei und Militär im Zuge des sich hinziehenden Tschetschenienkrieges erhöht - viele Milizionäre und Soldaten haben in Tschetschenien erfahren, dass Willkür gegen die Bevölkerung straflos bleibt, und tragen diese Erfahrung zurück in ihre Heimatregionen.
Doch auch bei »linken« und gemäßigten Politikern ist der Bezug auf die Nation üblich, um gesamtgesellschaftliche Ansprüche gegen die Partikularinteressen der Eliten anzumelden: der Staat soll die Naturalrenten aus dem Rohstoffexport gerecht umverteilen und gilt als einzig möglicher Garant für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Grundfunktionen. Paradoxerweise hält sich der Bezug auf den Staat damit weiter, obwohl der eben diese Funktionen in weiten Strecken nicht mehr erfüllt. Neue Strukturen bilden sich bislang meist nur als Reaktion auf private Not. Sie in eine gesellschaftliche Strategie zu übersetzen, bleibt eine Zukunftsaufgabe der Linken.
Heute leben ca. 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland. Als 1961 das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei abgeschlossen wurde, war noch von einigen tausend Arbeitskräften die Rede, die vor allem in der (Berg-)Bau- und Textilindustrie temporär malochen sollten. Da auch die »Gastarbeiter« selbst nur von einem zeitlich begrenzten Aufenthalt ausgingen, machten sie sich jedes Jahr in den Sommerferien auf. Sie besuchten die Familie und ehemalige Nachbarn und bedachten sie mit Geschenken. Viele investierten in Unternehmen oder bauten Häuser, um ein Fundament für die spätere Rückkehr zu legen. Noch 1980 wollten zwei Drittel aller türkischen MigrantInnen Deutschland wieder verlassen. Der von schwerer Arbeit, Diskriminierung und sozialen Härten geprägte Alltag in Deutschland schien nur Zwischenstation für einen erfüllten Lebensabend in der Türkei.
Viele der RemigrantInnen kehrten allerdings nicht in ihre Heimatdörfer zurück, sondern in Großstädte wie Istanbul und Ankara, wo sich ein Mittelschichtsleben leichter verwirklichen lässt als auf dem Land. Viele andere MigrantInnen blieben in Deutschland, manche entschieden sich für eine »halbe« Rückkehr: Frühjahr und Sommer in Deutschland, danach ein halbes Jahr Türkei im eigenen Häuschen. Andere Familien fuhren nur noch einmal im Jahr in die Türkei.
Während in Deutschland aus »Gastarbeitern« »ausländische Mitbürger« und noch später »Deutsch-TürkInnen« wurden, setzte bei diesen eine Entfremdung zur vermeintlichen Heimat ein. Denn in der Türkei wurden die Familienmitglieder oder früheren Nachbarn zu »Almancilar« - Deutschländern, ein keineswegs nur positives Label. Viele EinwanderInnen der ersten Generation berichten von ablehnenden Reaktionen der Einheimischen, unfreundlichen Grenzbeamten und neidischen Nachbarn. Auch für diejenigen, die dauerhaft in die Türkei zurückkehrten, war die Umstellung nicht einfach, hatte man doch viele Gewohnheiten des Exils übernommen. Ein Deutsch-Türke berichtet über seinen nach Istanbul gezogenen Vater: »Wenn er Auto fährt, merkt man, dass er fast sein ganzes Leben in Deutschland lebte. Er gibt Vorfahrt, hält am Zebrastreifen und regt sich über alle anderen Autofahrer in Istanbul auf, weil die anders fahren als er. Er findet diese Form der Gesetzlosigkeit auf der Straße empörend.« Diese Empörung und das Beharren auf Gewohnheiten oder Rechten zeigen ein Verhältnis auf, das auch für touristische Begegnungen typisch ist: Es wird letztendlich ein ökonomisches Machtverhältnis auf Formen des Zusammenlebens, wie hier auf die Ordnung im Straßenverkehr, ausgedehnt. Dies wird von den »Bereisten« oft als »Überlegenheitskomplex« erlebt.
Plötzlich mussten die »HeimaturlauberInnen« in der Türkei wie gewöhnliche TouristInnen höhere Preise zahlen, sobald klar war, dass sie aus Deutschland kamen. Sie kannten die Gepflogenheiten nicht mehr, und vielen erschien der Alltag in der Türkei im Vergleich zum »neuen« Zuhause Deutschland immer fremder. Einige berichten gar von Strategien wie etwa sich landestypisch zu kleiden, um nicht als DeutschländerInnen identifizierbar zu sein. Doch scheitert dies häufig schon an den Kindern, die schon von weitem als Almanci zu erkennen sind. Diese »Fremdheitserfahrung« kann für die Betroffenen, besonders aus der ersten Generation türkischer MigrantInnen, schmerzhaft sein, da der Bezug auf die türkische Identität in Frage gestellt wird. Die zunehmende Abgrenzung von »Wir Einheimischen« und »Die Fremden« lässt die Begegnung touristischer und hierarchischer werden. Hinzu kommt, dass der Verwandtenbesuch oftmals kein erholsames Freizeiterlebnis ist. Da die Entspannung im touristischen Dienstleistungsverhältnis jedoch für das in Deutschland existierende Konzept von Urlaub maßgeblich ist, bekommt es auch für viele Deutsch-TürkInnen wachsende Bedeutung.
Befördert durch die Werbekampagne ›Ich verbringe meinen Urlaub in der Türkei - Kommen Sie mit!‹ von türkischen Reisebüros in Deutschland und des türkischen Tourismusministeriums verstärkte sich ab 1994 ein Trend: Deutsch-TürkInnen begannen, die Türkei auch als PauschaltouristInnen zu besuchen. Eine wichtige Ausgangsbedingung dafür war der Preisverfall in der Tourismusbranche, der den Aufenthalt in Hotelanlagen auch für Familien erschwinglich machte. Zunehmend wurden auch andere Reiseziele attraktiv. Ende der 90er Jahre buchten Deutsch-Türkinnen vermehrt all-inclusive Angebote in der Dominikanischen Republik, Kuba und Tunesien. Gerade junge Menschen empfinden die ständigen Türkeiurlaube als langweilig und wollen eher zu "fun"-orientierten Zielen wie Mallorca oder Ibiza. Schon 1993 verbrachten ca. 100.000 türkischstämmige Jugendliche ihren Urlaub nicht in der Türkei.
Anhand der Veränderung des Urlaubsverhaltens von Deutsch-TürkInnen lässt sich folgender Prozess nachzeichnen: zunehmende Prägung durch die Sozialisation in Deutschland bei gleichzeitiger Abkehr vom Beziehungsgeflecht und traditionellen gesellschaftlichen Strukturen in der Türkei. Deutschland wird von den Deutsch-TürkInnen der zweiten und dritten Generation nicht mehr als Exil gesehen und die Rückkehrorientierung der Eltern wird verworfen. Andererseits bleibt die Türkei kulturell prägend, was den Herkunfts- und Life-Style-Bezug betrifft. In deutschen Großstädten eröffnen immer mehr Clubs und Kneipen, die sich auf Läden in den Amüsiervierteln Istanbuls beziehen. Dabei handelt es sich nicht um ethnisch besetzte Kopien aus dem Urlaubsland Türkei, sondern eher um Orte, die schon in der Türkei Offenheit gegenüber Differenz symbolisierten. Junge Deutsch-TürkInnen beziehen sich also durchaus auf die Türkei, zwar nicht mehr als Heimat, aber immer noch als Land, in das man im Notfall migrieren kann, und als Land der Herkunft der Familie, zu dem man den Kontakt nicht verlieren will.
Deshalb ist es grotesk, wenn in den deutschen Debatten über Integration usw. von einer Re-ethnisierung bzw. Islamisierung der türkischen Community die Rede ist und diese an kulturellen Praktiken von MigrantInnen der dritten Generation festgemacht werden. Denn das, was als rückwärtsgewandte Heimatverbundenheit interpretiert wird, ist eher Ausdruck einer Hybridisierung kultureller Vorlieben. Auch der multikulturalistische Blick verkennt den Kern der Sache. Deutsch-Türkinnen sitzen nicht unbedingt »zwischen den Stühlen«, haben nicht automatisch Probleme in der Wahl zwischen deutsch oder türkisch. Nationale Kategorien lassen sich hier, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr anlegen, im Gegensatz zu Begrifflichkeiten wie kosmopolitisch, hybrid oder als Patchwork-Identitäten. Dem Assimilierungsdruck der »deutschen Gesellschaft« bei gleichzeitiger Chancenungleichheit wird mit ihnen wenigstens ein bisschen Widerstand geleistet. Die als Beispiel für Hybridisierung gelobte Entwicklung des Gastarbeiter-Transport-Unternehmens Öger-Tours in einen global tätigen Reisekonzern lässt die Parallele von Hybridität und Widerstand jedoch brüchig erscheinen. Denn dieser »Wandel« vollzog sich nicht nur unter kapitalistischen Bedingungen, sondern hat auch die hierarchischen Muster des Tourismus zur Voraussetzung.
Am 19. Dezember 2000, fast genau ein Jahr nach der in Helsinki eröffneten Perspektive der Aufnahme in die EU, hat der türkische Staat »auf den Knopf gedrückt«, wie es Ministerpräsident Ecevit formulierte. Mit einem brutalen Einsatz der Spezialeinheiten der Polizei und der Armee sollte die sogenannte "Gefängnisrevolte" beendet werden. Mit Panzern und Bulldozern stürmten die Soldaten und Polizisten 18 Gefängnisse, in denen zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerer Zeit viele Gefangene sich im Hungerstreik gegen die Einführung neuer Isolationsgefängnisse befanden. Der offizielle Titel der Aktion verwies auf den zynischen Vorwand: »Operation zur Rettung von Leben.« Das Ergebnis war ein staatskriminelles Massaker: Mindestens 29 Häftlinge und zwei Soldaten wurden getötet, Unzählige schwer verletzt, in Krankenhäuser verlegt und an Betten gekettet. Viele der Überlebenden wurden in Isolationszellen der neuen F-Typ-Gefängnisse verlegt. Trotz der Polizeiaktion setzten hunderte Inhaftierte in verschiedenen Gefängnissen ihre Proteste fort.1
In einem medizinischen Gutachten, das sie nach Besuchen des Sincan-Gefängnisses (Typ F) und des Musterkrankenhauses Numune Hastanesi in Ankara angefertigt haben, berichten die Beauftragten der Ankaraer Ärztekammer Erschreckendes über den Gesundheitszustand der von der Polizei angeblich »geretteten« Gefangenen. Bei fast allen Untersuchten seien allgemeine körperliche Schwäche, starke Diarrhöe, Steifheit und Schwerfälligkeit der Arme und Beine, der Hände und Füße, starke Schwindelgefühle, extreme Schlaf- und Sehstörungen, Gewichtsverluste zwischen 15 und 33 Prozent oder extreme Hauttrockenheit zu diagnostizieren. Und weiter: »Alle 28 Häftlinge und Untersuchungshäftlinge, die ins Krankenhaus verlegt wurden, waren ans Krankenbett gekettet. Bei den meisten fanden sich zahlreiche blutunterlaufene Körperstellen und blaue Flecke, Hieb- und Stichwunden, Atem- und Sprachstörungen infolge von Gaseinwirkung.« Des weiteren berichteten die Ärzte von Arm- und Beinbrüchen, amputierten Fingern, Verbrennungen bei vier Personen und Schrotwunden bei zwei Personen. Zwei Häftlinge seien mit Knüppeln vergewaltigt worden. Hinzu komme, dass »nicht geheizt« werde, Wasser »kaum vorhanden« sei und die Gefangenen »keinen Hofgang« hätten. All diese Foltermethoden und systematischen Menschenrechtsverletzungen sind auch aus anderen Gefängnissen teilweise in verschärfter Form berichtet worden.
Ausführlich zitiert aus dem Gutachten der Ärztekommission wurde nicht nur, weil darin die lebensgefährlichen Folgen der Polizeioperation gegen die Gefangenen sowie die zum Teil tödlichen Folgen langer Hungerstreiks deutlich werden, sondern auch deshalb, weil die aufgezählten Erscheinungen seit dem Militärputsch von 1980 zur »Normalität« der Türkei gehören, also bekannt sind. Insofern sind sie auch vom herrschenden Regime und seinen Funktionsträgern erwünscht und systematisch herbeigeführt. Wem dieses Urteil zu einseitig und hart klingen mag, der schaue sich den Verlauf der jüngsten Hungerstreiks an, die in der Massakrierung bereits festgesetzter Menschen gipfelten.
Seit Mitte Oktober vergangenen Jahres hatten etwa zweitausend politische Gefangene einen unbefristeten Hungerstreik begonnen, davon ca. 240 Gefangene ein sogenanntes Todesfasten, um die Verlegung in die neuen F-Typ-Isolationsgefängnisse zu verhindern. Die Forderungen der Hungerstreikenden waren unter anderem die Schließung dieser Gefängnisse, die Aufhebung der die Rechte der Verteidigung beschneidenden Erlasse vom Januar 2000, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Bestrafung der Folterer und die ärztliche Behandlung erkrankter Gefangener. Die elf Gefängnisse vom Typ F wurden von der türkischen Regierung in Auftrag gegeben, um die herkömmlichen Schlaf- und Aufenthaltssäle, in denen bis zu 60 und mehr Gefangene in einem Kollektiv leben, aufzulösen. Die Gefangenen sollten nunmehr in Isolationszellen für eine bzw. drei Personen untergebracht werden, da nur so ein »Hochsicherheitsgefängnis« geschaffen werden könne, verlautbarte das Justizministerium. Durch das Zellensystem könne man »die Organisationsmitglieder und -kader von Hilfspersonen, die Leitenden von den Sympathisanten trennen.« Tatsächlich überspielt der Staat mit dieser Scheinlegitimation die von seiner eigenen Gefängnispolitik geschaffenen eigentlichen Probleme des Gefängnissystems. Nach allen bisher geäußerten unabhängigen Expertenmeinungen bleibt das türkische Gefängnissystem aus vielfältigen Gründen weit hinter internationalen Standards zurück: bauliche Mängel, chronische Haushaltsdefizite, doppelte Zuständigkeit für die Gefängnissicherheit (Außensicherung durch Militär, Binnensicherung durch Wachpersonal des Justizministeriums), gesetzliche Ungeschütztheit der Rechte der Gefangenen, die fast zur Selbstverständlichkeit erstarrte Neigung der Judikative zur Verurteilung von Angeklagten, willkürliche Anwendung von Disziplinarstrafen, mangelnde Lebenssicherheit der Gefangenen, Verhinderung jeglicher gewerkschaftlicher Organisationsformen des Personals sowie fehlende Transparenz und Kontrolle durch Organisationen der Zivilgesellschaft. Diese Probleme wurden und werden staatlicherseits systematisch vertuscht. Stattdessen wird die Lösung aller Schwierigkeiten in der Errichtung von Hochsicherheitsgefängnissen gesehen, deren Vorbilder Stammheim in Deutschland und die Sicherheitstrakte in den USA bilden, wie türkische Verantwortliche offen zugeben. Ohne sich um die Folgen der Isolationszellen von Stammheim und der US-Gefängnispolitik zu scheren, die die Gefangenen mehr und mehr als »zivile Tote« zu betrachten begann, verbohrte sich die türkische Gefängnispolitik in die Vorstellung total isolierter Gefangener, auf die nur noch der Staat Zugriff haben sollte einschließlich der Möglichkeit der totalen Überwachung.
Die Gefängnisse vom Typ F ähneln dem Panopticon, das der französische Philosoph Michel Foucault in seinem Buch »Überwachen und Strafen«2 so glänzend darstellte. Dessen Prinzipien setzen sich zusammen aus den Kontrollmechanismen der »Disziplinargesellschaft«, aus totaler Überwachung und aus einer jegliche Autonomie verunmöglichenden Transparenz. Um in ein Gefängnis des neuen Typs hineingelangen zu können, müssen die Fingerabdrücke der Besucher vom Computer erkannt werden. Computergesteuert wird auch eine Durchsuchung des Körpers vorgenommen. In welchen Gängen das Wachpersonal an welchen Tagen Dienst hat, wird ebenfalls von Computern nach dem Zufallsprinzip bestimmt. Die Überwachungsstationen an den Korridorkreuzungen sind so angelegt, dass alle Flure unter Kontrolle sind. Überwachungskameras gibt es an allen denkbaren Stellen. Deren Aufnahmen möchte man nicht nur in den einzelnen Gefängnissen, sondern künftig möglichst auch von einer Zentrale im Justizministerium aus ständig kontrollieren können. In den Höfen darf und kann auch kein Baum gepflanzt werden, da der Boden aus einem gegen jeglichen Fluchtversuch gefeiten Beton gegossen wird. Das entspricht dem, was man aus modernen Panopticons wie Marion und Lexington in den USA, Stammheim in Deutschland, den berüchtigten H-Blocks in Großbritannien und von den Tirani in Italien kennt. Dass die Einführung eines solchen Gefängnissystems scharfe Reaktionen der Gefangenen hervorbringen würde, musste dem türkischen Staat klar sein, denn bereits die Einführung des Vorläufers vom Typ E wie z. B. in Eskisehir hatte zu Aktionen mit tödlichem Ausgang geführt. Doch wie damals wurden auch diesmal die Proteste der Gefangenen von den Verantwortlichen und in der Öffentlichkeit kaum beachtet. Erst als klar wurde, dass aufgrund des Todesfastens mancher Gefangener bald die ersten Toten zu erwarten waren und in der Öffentlichkeit der politisch-moralische Druck wuchs, versprach der Justizminister Anfang Dezember 2000, die Inbetriebnahme von Gefängnissen des Typs F vorerst auszusetzen. Zumindest solange, bis eine Konsensgruppe, die aus Mitgliedern der parlamentarischen Menschenrechtskommission und Vertretern bestimmter Berufsgruppen gebildet werden sollte, mit den politischen Gefangenen einen Kompromiss ausgehandelt hätte und die rechtlichen und verwaltungstechnischen Erfordernisse dieser Übereinkunft umgesetzt seien. Die daraufhin zustande gekommene halboffizielle Verhandlungskommission ist in der türkischen Geschichte einmalig, da sie in einer sehr heiklen Frage der Ausdruck der tendenziellen Umkehr des türkischen Staates von seiner traditionellen Falkenpolitik hin zu einer Politik des gesellschaftlichen Konsens zu sein schien.
Die begonnenen Gespräche wurden jedoch auf Wunsch des Justizministers bereits am 15. Dezember abrupt beendet. Die Kommission wurde trotz ihres erklärten Willens, nachdrücklicher Forderungen breiter gesellschaftlicher Kräfte und schließlich auch der hungerstreikenden Gefangenen nicht mehr in die Gefängnisse gelassen. Erst nach der blutigen Gefängniserstürmung wurde klar, warum der Justizminister weitere Gespräche verhinderte: Der Innenminister gab bekannt, dass man sich auf die Aktion seit zehn Monaten vorbereitet hatte. Daraus geht klar hervor, dass die Einrichtung der Konsensgruppe ein taktisches Manöver war, um zu demonstrieren, dass der Staat zu Gesprächen bereit sei. Da abzusehen war, dass die Hungerstreikenden den Vorschlägen des Staates nicht sofort zustimmen würden, konnten sie letztlich als allein verantwortlich für die brutale Operation hingestellt werden.
So geschah es: Der Staat erklärte mit Unterstützung der regierungsfreundlichen Presse die Gefangenen zu den derzeit gefährlichsten inneren Feinden, die von im Ausland befindlichen Zentralen ferngesteuert würden. Die blutige Gefängniserstürmung wurde unter Abschirmung von jeglicher Öffentlichkeit durchgeführt und von dröhnender Marschmusik begleitet - eine neue Taktik der Folterung von Menschen, die die türkischen Behörden von den USA gelernt hatten: Als US-Soldaten Panamas Präsidenten Noriega bis in seine Villa gejagt hatten, aus der er nicht mehr herauskommen wollte, zermürbten sie ihn über Wochen mit einer riesigen Lautsprecheranlage. Ähnlich berichten die bereits verlegten Gefangenen aus den Gefängnissen vom Typ F, dass sie »durch das ständige Abspielen von Pop- und Arabeskmusik gefoltert« werden.
Die Entscheidung zur Erstürmung der Gefängnisse geht nicht zuletzt auf eine Polizeidemonstration im Dezember 2000 zurück, deren Parolen die politische Stimmung im Lande verschärften. Ausgelöst wurde der illegale Demonstrationszug von 3000 Mitgliedern der Schnellen Eingreiftruppen quer durch Istanbul zum Gouverneurssitz von einem Anschlag auf ein Polizeifahrzeug, zu dem sich die maoistische TKP-ML bekannt haben soll. 14 Polizisten wurden verletzt, von denen zwei schließlich starben. Die demonstrierenden Polizisten konnten weder vom Polizeichef noch vom Gouverneur oder vom Innenminister beschwichtigt werden. Gleichzeitig kam es auch in anderen Städten zu Polizeidemonstrationen mit mehreren tausend Beteiligten. Diese Organisiertheit und die gemeinsamen Interessen der Spezialeinheiten sind umso bemerkenswerter, als es in der Türkei keine Polizeigewerkschaft gibt. Beobachter sprachen - an das Osmanische Reich erinnernd - gar von einem neuen Janitscharenaufstand. In der Tat waren diese Demonstrationen die größten Unmutsäußerungen der Polizei in der türkischen Geschichte. Die Polizisten demonstrierten aber nicht nur für ihre Sicherheit und die Verbesserung ihrer ökonomischen Lage. Ihre Aufmärsche waren eine offene Drohung an die Adresse der demokratischen Kräfte sowie eine Warnung an die Regierung, das rigide Konzept des polizeilich-militärischen Sicherheitsstaates nicht durch Verhandlungen mit politischen Gefangenen aufzulockern.
Denn obwohl sich die Regierung in den vergangenen Jahren nicht zu einer Generalamnestie zugunsten der politischen Gefangenen durchringen konnte, wurde immerhin ein »Gesetz zur Freilassung unter Bedingungen und zur Strafaussetzung« verabschiedet, durch das bisher ca. 30.000 Gefangene entlassen werden konnten. Dieses Gesetz ist als »Rahsan-Amnestie« bekannt geworden, weil es vor allem von Rahsan - der Frau des Ministerpräsidenten Ecevit - betrieben wurde. Die nationalistischen Parolen der mit in die Luft gestreckten Pistolen demonstrierenden Polizisten zeigten unzweideutig, was sie davon hielten: »Regierung, steck dir die Amnestie in den Arsch«, »Rahsans Amnestie hat die Polizisten erschossen«, »Alles für's Vaterland« oder »Keine Verhandlungen mit den Verrätern.« Nicht nur an solchen Parolen wurde deutlich, wie groß der Einfluss der türkischen Faschisten innerhalb der Polizeikräfte noch immer ist.
Das Thema »Gefängnisse in der Türkei« wäre nicht annähernd vollständig behandelt, wenn ein anderer unangenehmer Aspekt keine Erwähnung finden würde: der Umgang der ML-Parteien und -Sekten mit den politischen Gefangenen und ihren Protestaktionen. Deren sogenannte »Bestrafungsaktionen«, bei denen sie Polizisten töten oder verletzen, um damit scheinbar das Todesfasten der politischen Gefangenen zu unterstützen, führen zur Reduktion politischer Auseinandersetzungen auf einen nicht enden wollenden bewaffneten Kampf. In ihrer unmittelbaren politischen Wirkung richten sich solche Aktionen gegen die Hungerstreikenden, weil ihre berechtigten Forderungen mit sinnlosem »Terror« in Verbindung gebracht werden können.
Ein ebenfalls sehr problematischer Aspekt sind die Beziehungen der Gefangenen untereinander. Es gab und gibt scharfe Hierarchien sowie Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse unter den Gefangenen. Nicht wenige Gefangene sind dem Willen der politischen Organisationen unterworfen, denen sie angehören, und von denen sie nicht als autonome politische Subjekte akzeptiert werden. Diese Unterwerfung hat manchmal so erschreckende Ausmaße angenommen, dass der Gefängnisaufenthalt in manchen Gruppen zum einzigen Beweis der politischen Zuverlässigkeit geworden ist. Das Bewusstsein für soziale Emanzipation wird vielfach ersetzt durch Bekenntnisse zu Treue oder Mut. Im Dienste der Propaganda wird mit den im politischen Kampf »Gefallenen« ein lebensfeindlicher Totenkult betrieben. Kritik an diesen und anderen Praktiken führt in der Regel zum Ausschluss der Kritiker aus den Kommunen im Gefängnis. Die riesigen Schlafsäle der bisherigen Gefängnistypen haben neben dem Vorzug eines kollektiven und solidarischen Lebens auch den Nachteil der Einschränkung jeglicher individuellen Freiheit, die bis hin zu Menschenrechtsverletzungen von Gefangenen an anderen Gefangenen führt. In Einzelfällen wurden Gefangene unter dem Vorwurf des »Verrats« sogar erstochen. Nicht selten werden Gefangene moralischem Druck ausgesetzt, weil sie während der Besuchszeit ihre Frau geküsst haben und sie dies in aller Öffentlichkeit nach Ansicht des politischen Leiters nicht hätten tun dürfen. In einigen Gefängnissen wurden Fernsehen, Radio hören oder Schreiben als "bürgerliche Gewohnheiten" verboten. Viele Gefangene leiden darunter, ihre sexuelle Identität nicht offenbaren zu dürfen. In manchen Entscheidungsgremien der Gefängniskommunen sind Beschlüsse gefasst worden, wonach Homosexuelle in den gemeinsamen Schlaf- und Aufenthaltssälen nichts zu suchen hätten. Die Brutalität der Gefängnispolitik des türkischen Regimes kann kein Vorwand dafür sein, all diese selbstverschuldeten Züge der Grausamkeit in den Gefängnissen nicht zu diskutieren. Gerade jene, die sich sozialer Emanzipation verpflichtet fühlen, müssen endlich in einen Prozess der Reflexion eintreten, an dessen Anfang die Parole »Trotz der Massaker« ersetzt werden muss durch »Stoppt die Massaker«. Die aktivistische Linke wird erkennen müssen, dass sie in der Nacht gegen die Nacht kämpft, dass die Gefängnisse nur die dunkle Seite einer Gesellschaft sind, die nicht mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen ist. Doch bis es auf Seiten des Staates und in Teilen der türkischen Linken zu der dringend notwendigen Wende kommt, werden wohl noch zahlreiche »urgent actions« von amnesty international notwendig sein.
Im Osten Europas finden sich relativ reiche Regionen um Prag, Bratislava oder Budapest, umgeben von einem Meer wirtschaftlicher Krisengebiete. Will man sich ein grobes Bild von der wirtschaftlichen Seite der Transformationen in Osteuropa machen, hilft - bei aller nötigen Vorsicht gegenüber der Aussagekraft von Statistiken - ein Blick auf die Entwicklung der Bruttoinlandsprodukte (BIP). Die 90er Jahre waren von äußerst tiefen wirtschaftlichen Einbrüchen gekennzeichnet. Trotz zuvor teilweise wieder positiver Wachstumsraten hatten im Jahr 2002 von 27 Ländern1 nur sieben ihr BIP-Niveau von 1989 wieder erreicht oder übertroffen. In Moldawien, Georgien, der Ukraine sowie Serbien & Montenegro liegt das Niveau heute lediglich bei 50 Prozent oder weit darunter. Insbesondere die Situation der GUS-Länder und Südosteuropas hat sich gegenüber den EU-Beitrittsländern dramatisch verschlechtert. Daran zeigt sich, dass regionale Durchschnittswerte kaum Aussagekraft für die Entwicklung in einzelnen Ländern haben. Die Spannbreite reicht von der großen Ausnahme Slowenien, das mittlerweile nach OECD-Standard als reiches Industrieland gilt, über Länder "mittleren Einkommens" wie Kroatien und Polen bis zu Moldawien, wo das statistische durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen unter 400 US-Dollar im Jahr liegt.
Die 90er Jahre brachten entsprechend auch die Einordnung vieler osteuropäischer Länder in die OECD-Kategorie »Entwicklungsland« mit sich. Lediglich die Indices Bildung und Gesundheit sind in Osteuropa und vielen GUS-Länder derzeitig noch besser als in den meisten Ländern des globalen Südens. Dies liegt in weiten Teilen allerdings an der nachwirkenden Sozial- und Bildungspolitik der ancien regimes. Die Region erhält heute die höchsten staatlichen Netto-Entwicklungshilfe-Zahlungen pro Kopf weltweit. An erster Stelle stehen Albanien und Mazedonien, während Weißrussland, Turkmenistan und Usbekistan kaum ins Gewicht fallen.
Für die postsozialistischen Länder insgesamt ergibt sich im Zeitraum von 1991 bis 2003 ein gewichtetes Durchschnittswachstum von -0,77 Prozent und somit alles andere als eine »nachholende Entwicklung« im Sinne der Modernisierungstheoretiker. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt heute im Schnitt deutlich unter dem Lateinamerikas (bei Vergleich der Kaufkraftparitäten fällt die Differenz geringer aus). Zwischen 1990 und 1998 verdoppelte sich die Auslandsverschuldung der postsozialistischen Länder. Der Anteil des Schuldendienstes am BIP verdreifachte sich. Vor allem der Schuldenberg Russlands ist riesig. Einzig Polen wurde 1991 als erstes Transformationsland von den Gläubigern substanziell entschuldet, um der eingeforderten Schocktherapie zum Erfolg zu verhelfen. Allerdings hat sich auch Polens Außenverschuldung gegenüber 1989 wieder um zwei Drittel erhöht - trotz aller Privatisierungserlöse. Innerhalb der einzelnen Länder nimmt die soziale Spaltung zu. Die Verteilung des so genannten Nationaleinkommens ist in Osteuropa und Zentralasien zwar nicht so extrem ungleich wie in Lateinamerika oder Südasien, doch ist eine drastische Verschiebung zu verzeichnen. Während 1989 noch 7,5 Prozent der Bevölkerung von einem Einkommen leben mussten, das weniger als ein Drittel des Durchschnitts betrug, lag diese Rate 1998 bei etwa 25,6 Prozent.
Und gegen den globalen Trend ist die Lebenserwartung in Osteuropa und Zentralasien gesunken. Sie liegt bereits, vor allem aufgrund des Abfallens der GUS-Länder, unter der in Lateinamerika. Angesichts des Scheiterns einer »nachholenden Entwicklung« wird immer wieder die Frage gestellt, ob statt der viel zitierten "Europäisierung" nicht von einer »Lateinamerikanisierung« Osteuropas zu sprechen ist. Katharina Müller verweist darauf, dass ein regionaler Vergleich aufgrund der extremen Unterschiede kaum sinnvoll sei. Es ließen sich allenfalls zwei grobe geografische Metaphern bemühen, zwischen denen die Transformationsdynamiken anzusiedeln seien: »Europäisierung« im östlichen Mitteleuropa und »Afrikanisierung« in den meisten GUS-Ländern und Teilen Südosteuropas. Doch auch diese Kategorisierung erweist sich als hilfloser Versuch, die vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede der auch in sich schon extrem heterogenen Regionen »Afrika« oder »Europa« zu nivellieren.
Die zunehmende Integration der so genannten Transformationsländer in den EU- und Weltmarkt erfolgt auf der Grundlage meist schlechter Ausgangsbedingungen. Daher stellt sich die Frage, was für Konsequenzen dies einerseits für die bald integrierten und andererseits für die außen vor bleibenden Staaten hat. Denn insbesondere mit der EU-Integration werden große Hoffnungen auf Wohlstand und funktionierende bürgerliche Zivilgesellschaften verbunden. Schon die Integration selbst verläuft nicht gerade demokratisch, die Bedingungen werden ziemlich einseitig von der EU vorgegeben. Die Erfüllung wird in Form von Länder-Bewertungen und finanziellen Hilfen sanktioniert. Auf dem Kopenhagener EU-Gipfel 1993 wurden zunächst drei grundlegende Beitrittskriterien definiert: institutionelle Stabilität, eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Verpflichtung, sich die politischen Ziele der Union zu eigen zu machen. Dabei hat die EU (im Verbund mit anderen internationalen Institutionen) wesentlich marktradikalere Reformen gen Osten exportiert, als sie sich selbst auferlegt hat.2 Und im Gegensatz zu den südlichen wird von den östlichen Kandidaten verlangt, dass sie diese Reformen bereits vor EU-Beitritt durchführen, über lange Zeiträume hinweg ohne jegliche Beitrittsgarantie. Rumänien und Bulgarien sind, weil sie diese Bedingungen nicht erfüllen können, aus der Beitrittsrunde 2004 herausgefallen.
Die so genannten »Beitrittspartnerschaften« betreffen Geld- und Haushaltspolitik, Verwaltungs- ebenso wie Sozialversicherungsreformen und natürlich Fortschritte in der Übernahme des rechtlichen Besitzstandes der EU (acquis communautaire). Eine substanzielle Abfederung über größere finanzielle Hilfen oder die Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen wurde von Seiten der EU nicht geleistet bzw. immer weiter hinausgezögert. Und in den Assoziierungsabkommen Anfang der 90er Jahre - die grundlegende Weichenstellungen für die ökonomischen Austauschbeziehungen waren - schützte sie ihre Märkte gerade in den Bereichen, in denen die Beitrittsländer Exportmöglichkeiten hatten: Stahl, Textilien, Chemie und Agrarprodukte. Die Öffnung erfolgte dann zwar schrittweise, schlussendlich allerdings erst, nachdem die östliche Konkurrenz übernommen oder zusammengebrochen war.
Unter den Beitrittsländern gab es kaum Versuche, durch gemeinsame Verhandlungspositionen das Machtgefälle gegenüber der EU zu verringern. Vielmehr versuchten alle einzeln, aufgrund des Regatta-Prinzips (alle haben die »gleichen« Startchancen, das Beitrittsdatum jedes Kandidaten wird von seinem individuellen Fortschritt abhängig gemacht) einen möglichst guten Platz zu ergattern. Die suprastaatliche Integration in die EU, begleitet von nationalstaatlichen Auflösungsprozessen in Ex-Jugoslawien, der Tschechoslowakei und dem Baltikum, wurde somit als nationalistisches Projekt definiert. Die Reformeliten konnten mit der von Reichtum und Stabilität geprägten Utopie einer »Rückkehr nach Europa« eine realitätsmächtige Leitvorstellung mobilisieren. Die harten Anpassungsmaßnahmen - etwa Rentenkürzungen, die Abschaffung von Lebensmittelsubventionen oder staatlichen Gesundheitsleistungen sowie die massenhafte Schließung staatlicher Betriebe - wurden dabei als notwendiges Übel auf dem Weg zur Westintegration dargestellt und die Verantwortung damit nach außen delegiert.
Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus gewannen neoliberale Positionen an Attraktivität, weil sie unter dem Motto »weniger Staat« die scheinbar radikalste Kritik des alten Systems lieferten. Deren Eigendynamik mündete u.a. darin, dass der konservative tschechische Präsident Vaclav Klaus die EU scharf kritisierte, weil diese »zu kommunistisch« sei. Auf wirtschaftspolitischer Ebene wurden teilweise so radikale Maßnahmen ergriffen, dass sie wiederum zum Hindernis für den Beitritt wurden. So gewährt der polnische Staat in den Anfang der 90er Jahre errichteten »Freien Produktionszonen« transnationalen Konzernen ganz besondere Freiheiten. Mit Fiat wurden beispielsweise Verträge geschlossen, die den Konzern u.a. für zehn Jahre von Körperschaftssteuer und Importzöllen befreien.3 Da die EU-Kommission dies nun als wettbewerbsverzerrend ansieht, wird der Staat Kompensationen zahlen müssen. Auch Ungarn hat sich durch großzügige Steuerbefreiungen hervorgetan. Es bekommt in der Auseinandersetzung mit dem EU-Wettbewerbskommissar Unterstützung durch den European Roundtable of Industrialists (ERT), der sich gleichzeitig für die Osterweiterung und für die Erhaltung der Privilegien seiner Mitglieder stark macht.
Im Zuge der ökonomischen Transformation in den Beitrittsländern seit Anfang der 90er Jahre haben vor allem westeuropäische Konzerne ganze Sektoren übernommen. In Tschechien, Polen, der Slowakei und Bulgarien kontrollieren ausländische Unternehmen zwischen 70 und 80 Prozent des Bankgeschäfts. Die alten RGW-Verbindungen Richtung Osten und untereinander wurden gekappt und der Handel auf die EU ausgerichtet. Gingen 1990 nur 31 Prozent der tschechischen Exporte in die EU, waren es 2000 bereits 69 Prozent. Deutsches Kapital spielt dabei eine herausragende Rolle. Durch die Übernahme von 70 Prozent der Anteile von Skoda in Tschechien ist VW dort nicht nur zu einem der größten Unternehmen geworden, sondern bestreitet allein auch fast 10 Prozent der gesamten Exporte. Dabei gibt es unterschiedliche Formen der Einbindung. In Tschechien spielt der intraindustrielle Handel eine wichtige Rolle bei der Integration in transnationale Produktionsketten. Dies wird im allgemeinen als ein Entwicklungsweg angesehen, der mehr Erfolg verspricht als die so genannte Lohnveredelung. Diese ist in Rumänien stark ausgeprägt. Die deutsche Textilindustrie hat in den vergangenen Jahren rund 300.000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Gerade in Rumänien lässt sie nun zu extremen Billiglöhnen und unter hohem Arbeitsdruck produzieren. Textilien wurden so zum Hauptexportartikel Rumäniens. Die internationalisierte Textilbranche, in der fast nur Frauen arbeiten, zahlt mit durchschnittlich 78 Euro Monatslohn besonders schlecht. Häufig gelangten ehemalige staatliche Manager in den Besitz der Betriebe, die sich heute ihre Beschäftigten aus einem riesigen Heer an Arbeitslosen aussuchen können. Doch selbst unter diesen Bedingungen unterliegen die rumänischen Betriebe einem enormen Konkurrenzdruck asiatischer Textilbetriebe.
Die Landwirtschaft der Beitrittsländer befindet sich in einer schweren Krise. Durchschnittlich 20 Prozent der Beschäftigten (zwischen über 40 Prozent in Rumänien und 5 Prozent in Tschechien) sind hier tätig. Doch die Preise subventionierter deutscher Schweinehälften oder französischer Milch lagen in den 90er Jahren teilweise weit unter den inländischen Produktionskosten. Dies geht sowohl auf die vielfach niedrigere Produktivität meist kleinerer Betriebe als auch auf das Niveau staatlicher Förderung zurück, das dort erheblich niedriger als in der EU ist. Gleichzeitig wurden Ostprodukte durch den Agrarprotektionismus der bilateralen Europaabkommen vom Absatzmarkt EU ferngehalten - sarkastischerweise mit der Begründung, die Produktionskosten seien zu unterschiedlich. Die Realität der Handelsbeziehungen zeichnet das klassische Bild von Zentrum-Peripherie-Beziehungen: Die Beitrittsländer im- und exportieren etwa 50 Prozent ihrer gesamten Agrar- und Ernährungsgüter aus der bzw. in die EU, während der Anteil bei der EU nur etwa 10 Prozent beträgt. Dabei schaffte es die EU, jährliche Handelsüberschüsse von 2 Milliarden Euro einzufahren.4 Die Folge ist ein massives »Bauernsterben«.
Mathias Berninger, Grüner parlamentarischer Staatssekretär im deutschen Landwirtschaftsministerium, drückt das moderater aus: Den älteren osteuropäischen Landwirten müsse »ein sozialverträglicher Ausstieg aus der Landwirtschaft ermöglicht werden«. Es zeige sich bereits jetzt, dass es bei der Erweiterung "sowohl unter den neuen wie auch den alten Mitgliedsstaaten per saldo nur Gewinner und keine Verlierer gibt"5. Semisubsistenzbetrieben werde mittels Beihilfen die Chance gegeben, »sich in einer längeren Anpassungsphase auf die Wettbewerbsbedingungen in Europa einzustellen oder den Ausstieg aus der Landwirtschaft zu wählen«. Was sich hinter der Rede von Bei- und Ausstiegshilfen verbirgt, aber nicht ausgesprochen wird: »Millionen von in der Landwirtschaft unbrauchbar Gewordenen werden bei Arbeitslosenraten, die zwischen 13 und 18 Prozent schwanken, auch in der Industrie oder dem Dienstleistungssektor keine Arbeit finden.« (Hofbauer). Fakt ist, dass die Höhe der Direktzahlungen der EU nach dem Beitritt über zehn Jahre an die Höhe des Standards für Altmitglieder angeglichen werden, beginnend mit 25 Prozent im Jahr 2004.
Manche Länder, die 2004 "draußen" bleiben, streben die Aufnahme später an (Rumänien und Bulgarien), andere kommen - trotz gelegentlich anderslautender Rhetorik - gar nicht in Betracht (GUS-Länder). Russland nimmt wegen seiner Größe, Rohstoffvorkommen und Militärmacht eine eigenständigere Rolle ein. Doch auch in Russland herrschen die Zwänge des Weltmarktes und auch dort intervenieren IWF, Weltbank und EU (letztere z.B. über das TACIS-Programm) im Sinne von monetärer Stabilisierung, Liberalisierung und Privatisierung. Der von Russland angestrebte Beitritt zur WTO mit ihren diversen Freihandelsabkommen würde diesen Weg langfristig festlegen und weiter vorantreiben. Diese Integration in den Weltmarkt nimmt jedoch eine »offenere« Form an, da sie nicht so breit und tiefenwirksam wie das Projekt der EU-Integration ist.6 Schließlich hat die EU weit mehr souveräne Kompetenzen politischer wie ökonomischer Art. Die meisten neuen EU-Mitglieder werden aufgrund von Übergangsfristen bei der Freizügigkeit, Agrar-, Regional- und Strukturbeihilfen sowie wegen des immensen Gefälles in Einkommen und Produktivität erst einmal Mitglieder zweiter Klasse sein. Anders gesagt: die Peripherie im Zentrum. Die »äußere« Peripherie hingegen ist eher Peripherie im klassischen Sinn, geprägt durch Rohstoffexport und Import von Industriegütern, durch »failed states«, korrupte Eliten (in Zentralasien und Transkaukasien noch drastischer als in Russland), der Rückkehr zu Subsistenz, aber auch durch wenige extrem moderne Inseln.
Die marktliberale »nachholende« oder »aufholende Modernisierung« zum Umbau der ex-sozialistischen Gesellschaften erweist sich nach gut dreizehn Jahre in den meisten osteuropäischen Ländern als sozial desaströs. Obwohl die Transformation in Osteuropa wissenschaftlich ausführlich begleitet wird, bleiben die sozialen Folgen eher unterbelichtet. Im Gegenteil: Die neu aufgelegten Modernisierungstheorien sichern die Entwicklung ideologisch ab und arbeiten den politökonomischen Konzepten der großen Akteure wie der EU oder der Europäischen Bank für Wiederaufbau in die Hand.
Die Ursachen für Rückschritte in dem Transformationsprozess bzw. für das Scheitern der Masterpläne werden weniger in den Konzepten selbst, sondern in den Ländern, die sie anwenden, gesucht. Dabei tritt ein westlicher Eurozentrismus zutage, der »Osteuropa« seit gut dreihundert Jahren Aufklärung als sein vor- oder anti-modernes Gegenbild schuf. In diesem Sinne ist das ganze - wissenschaftlich abgestützte - Gerede um Beitrittsfähigkeit, Anpassungsleistung, Entwicklungsstand der postsozialistischen Länder auch als Aktualisierung einer alten, kolonialen symbolischen Wissensordnung zu verstehen, die heute von neuem westliche Herrschafts- und Deutungsansprüche in Osteuropa zu legitimieren versucht. Mit diesem herrschenden Diskursuniversum war ich konfrontiert, als ich 1999 zu meiner Feldforschung in die Slowakei aufbrach - auf den Spuren von Frauen, die in den Westen migrieren wollten. Dabei musste ich schnell erkennen, dass die Überlebensstrategien der Frauen ursächlich mit den geschlechtsspezifischen Logiken des marktinduzierten Umbaus zu tun hatten. Doch die sich als "Transformationsforschung" neu konstituierenden modernisierungstheoretischen Analysen zu Osteuropa sind auf diesem Auge blind.
Und genau hier liegt ein zentraler innerer Widerspruch der modernisierungstheoretischen Ansätze. Denn der diskursive Ausschluss von Gender auf der Ebene der Analyse und Theorie wie andererseits die Reinszenierung von traditionellen Frauenbildern und femininer Identität im politisch-öffentlichen Terrain sind gerade Vorbedingung des verstärkten sozioökonomischen Einschlusses von Frauen und ihrer Verwertbarkeit. So ist die Refeminisierung begleitet von einer massiven Abwertung von Frauen in der Arbeitswelt. Gerade dies schafft jedoch die Voraussetzungen für ihre prekäre Reintegration in die Transformationsprozesse. Denn die neu konzipierte Rolle - die der zuverdienenden Hausfrau - scheint dazu bestens geeignet zu sein.
Was viele feministische Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen befürchteten, der totale Ausschluss von Frauen aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Vielmehr bewirkt die Logik der Privatisierungspolitik gerade das Gegenteil: eine Feminisierung von Arbeit und Verantwortung. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der extrem niedrigen Löhne bedeutet dies jedoch für viele, mehrere Jobs miteinander verbinden und eine formale Anstellung durch informelle Tätigkeiten ergänzen zu müssen. Diese Bedingungen führen auch dazu, dass viele Frauen Arbeit und Glück zunehmend im westlichen Ausland suchen. Von einer Feminisierung der Migration aus Osteuropa ist in diesem Zusammenhang die Rede. Dies beschreibt nicht nur die Tendenz, dass mehr Frauen alleine oder mit Familienangehörigen in den Westen migrieren. Sondern auch, dass strukturelle Faktoren gerade die Migration von Frauen nahe legen, die oftmals über eine Anstellung als Hausarbeiterin in Westeuropa nicht nur ihr eigenes Überleben sichern, sondern auch das ihrer zurückgebliebenen Angehörigen. Lateinamerikanische Länder oder die Philippinen haben diese Art der individualisierten "Entwicklungspolitik" schon längst zum offiziellen staatlichen Programm erhoben. Die Modernisierungstheorien haben die Stufen zum Erfolg der Systemumwandlung klar definiert: Privatisierung, Marktöffnung und Austeritätspolitik begleitet von einer liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Zur Feminisierung von Arbeit und Migration haben sie dabei nichts zu sagen. Diese Erklärungslücke liegt jedoch weniger am Primat der Ökonomie in dieser - vorherrschenden - Art der Transformationsforschung. Vielmehr basieren diese Ansätze auf kulturalistischen Annahmen, die in ihren Vorstellungen von Wandel, dessen Richtung, erforderlichen Primärtugenden, Praktiken und Akteursgruppen eingeschrieben sind.
Das Akteursprofil der Träger einer nachholenden kapitalistischen Modernisierung sieht wie folgt aus: individualisiert, rational, risikobereit, rechtsstaatlich und »sozial verantwortlich«. Dabei sind zwei Punkte interessant. Zum einen sind die Zuschreibungen des Transformationssubjekts durch und durch männlich konnotiert. Zum anderen tritt hier ein modernisierungstheoretischer Kulturalismus zu Tage, den ich an einigen Beispielen ausführen will. So vermutet Edward A. Tiryakian »Einstellungen und Dispositionen (oder Mentalitäten)« als bedeutende Variable im Modernisierungsprozess1. Er konstatiert: »Ein großes Problem oder Hindernis der Modernisierung liegt darin, jene kollektiven Mentalitäten abzubauen, die durch Generationen einer de facto autokratischen, obrigkeitsstaatlichen Herrschaft genährt worden sind.« Tiryakian nennt hier vor allem die »geförderten Mentalitäten des Sicherheitsstrebens und der Risikovermeidung«. Andererseits konstatiert er einen weiteren »großen Mangel« im »Fehlen jener sozial verantwortlichen Unternehmer, die einen wesentlichen Aspekt der Modernisierung bilden«.
Diesen Mangel führt er auch auf die »Ideologie des Kollektivismus« zurück, der »Individualität« sanktionierte und »den Nutzen von Profitstreben und unternehmerischen Engagement und Verdienst« degradierte. Daher kommt er zu dem Schluss: »Aber eine Werthaltung, die sich zum Vorteil des ganzen Landes für wirtschaftliche Neuerung engagiert und nicht lediglich mit dem Ziel des persönlichen Gewinns und eines aufwendigen Lebensstils, muß ihnen noch beigebracht werden«. Auch osteuropäische Wissenschaftler, wie der slowakischen Kulturwissenschaftler Jurja Podoba, sehen hinter den Problemen der Transformationsprozesse einen Konflikt zwischen »Modernismus und Traditionalismus«2. Podoba beklagt das Fehlen individueller und marktwirtschaftlicher Strategien, welche einer gelungenen Modernisierung im Wege stünden: »Ausdruck der sozialen Dimension der überwiegend nationalen Mentalität ist vor allem das starke Bewusstsein der sozialen Solidarität, die vom Paternalismus des sozialistischen Staates und völligen Fehlen einer individualistisch fundierten Lebensphilosophie mit einem hyper Wert der sozialen Gleichheit. Das Ergebnis ist der Widerstand gegen alles, was die Konstanten der Lebensstereotype des normalen Menschen bedroht... und die Unfähigkeit, offensivere Lebensstrategien zu entwickeln«.
Deutlich wird die kulturalistisch-dichotomische Konstruktion eines rückständigen »Osteuropas« und eines voranschreitenden universellen »Westens«. Wie Larry Wolff3 zu zeigen vermag, kann diese auf einen reichhaltigen Fundus aus drei Jahrhunderten Aufklärung zurückgreifen, wobei sich der selbstpositionierende »Westen« sein komplementäres Gegenüber in der »Idee Osteuropa« schuf. Dabei entstand »Osteuropa« vor allem über den Diskurs der Rückständigkeit, welche weniger in essentiell ökonomischen Kategorien, als vielmehr kulturell definiert wurde. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Modernisierungsvariante scheinen diese Bilder wieder zum neuen Maßstab der Selbst- und Fremdpositionierung im Ost-West-Verhältnis geworden zu sein. In Anlehnung an Edward Saids Begriff Orientalismus bezeichnet dann auch Maria Todorova den neuaufgelegten Rückständigkeitsdiskurs als »Balkanismus«, als »orientalist variation project for the Balkans«4.
Vor allem bezüglich der Geschlechterrollen lässt sich zeigen, wie sich diese kulturellen Zuschreibungen im Modernisierungsprozess wiederfinden. Globalisierungstheoretische Genderforschungen machen deutlich, wie die scheinbar ausgeschlossenen Akteure und als vormodern abgewertete informelle Praktiken - das »Andere der Modernisierung« - zu einer wichtigen Entwicklungsressource spätmoderner peripherer Kapitalisierung werden. »Auch wenn der Sozialismus Frauen sichtlich nicht befreite«, ist kurz an das sozialistische Genderregime zu erinnern. Im Unterschied zum westlich-kapitalistischen Ernährer-Hausfrauen-Modell verfolgte es eine einseitige Emanzipation der Frauen über Lohnarbeit in der »öffentlichen Sphäre«5, verbunden mit einem hohen Qualifizierungsgrad von Frauen und einer hohe Frauenerwerbsquote. Davon blieb jedoch die häusliche geschlechtshierarchische Arbeitsteilung weitgehend unangetastet. Die Familie galt im Realsozialismus darüber hinaus als Rückzugsort vor den Zugriffen des Staates und stellte angesichts der »Knappheitswirtschaft« auch eine wichtige ökonomische Einheit dar. In vielen postsozialistischen Texten wird diese Ambivalenz als »Doppelbelastung« stark negativ diskutiert. Alle Mütter der von mir interviewten Frauen waren weiterhin in den 90er Jahren berufstätig, selbst wenn ihnen der formale Arbeitsmarkt dazu immer weniger Chancen bot. Auch ihre Töchter dachten nicht daran, ein Leben als Nur-Hausfrau zu führen. So verbanden die jungen Frauen mit ihrer Migration nicht nur den Wunsch, eigenes Geld zu verdienen, sondern sich während ihres Aufenthaltes in Westeuropa zusätzliches Wissenskapital für einen qualifizierten Beruf in der Slowakei anzueignen.
Unterdessen führte die Transformation in der Slowakei zu einer Refeminisierung, einer Neuinszenierung von geschlechterdifferenten Symboliken in der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt, insbesondere im expandierenden Privatsektor. Trotz hohen Qualifikationsgrades von Frauen und ihrem Vordringen in männlich definierte Berufsfelder folgte eine massive geschlechtsspezifische Abwertung und Neukonstituierung des Arbeitsmarktes. Außerdem nahmen die Lohnunterschiede zwischen öffentlichem und Privatsektor zu. Der durchschnittliche Lohn im von Frauen dominierten Gesundheitswesen ist z.B. um ein Viertel niedriger als im Banken- und Versicherungswesen.
Gender-Studien heben hervor, dass die Logik der Transformation auf eine Privatisierung der Kosten des wirtschaftlichen, staatlichen und sozialen Umbaus zu Lasten der Familien hinausläuft. Das heißt: zu Lasten von Frauen. Entgegen den prognostizierten Auswirkungen - Ausschluss und Hausfrauisierung - nimmt die Transformation Frauen jedoch noch stärker in die Pflicht, zum Familienauskommen beizutragen. Den »Luxus«, sich hinter den Herd zurückzuziehen, kann sich kaum eine Frau erlauben. Dagegen traf ich in nicht wenigen Familien auf verrentete oder arbeitslose Männer, die in den stillgelegten Fabrikanlagen nicht mehr gebraucht wurden.
Eine derartige, den Mythos vom männlichen Ernährer sprengende Tendenz kann auch Marina Blagojevic für die Transformationsprozesse in Serbien feststellen6. Vor allem die Deindustrialisierungsprozesse in den 90er Jahren hätten massive Auswirkungen auf die kulturellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und auf die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern gehabt. Während die traditionellen männlichen Rollen völlig an gesellschaftlicher Bedeutung verloren hätten, hätten sich Frauen aufgrund ihrer Sozialisation schneller und flexibler als "aufopferungsvolle Versorgerin" an die neue ökonomische Situation anpassen können und wohl auch müssen. So sei der informelle Sektor zu einer weiblichen Domäne geworden. Diese Situation eines "aus den Fugen geratenen Patriarchats" führe viel eher zu einem Problem hegemonialer Männlichkeit als zu einem Frauenproblem.
Die Entwicklungen legen - nicht nur - für die Slowakei nahe, dass Versorgungsnetzwerke, Qualifikationen und Kreativität von Frauen entscheidend für den sozialen Status und Lebensstandard der ganzen Familie werden. Dies muss sich nicht unbedingt in offiziellen Arbeitslosenstatistiken niederschlagen, da die formelle Anstellung nur eine von diversen Einkommensmöglichkeiten darstellt. Doch ein Blick in die Arbeitslosenstatistiken zeigt, dass in 2000 die offizielle Frauen-Erwerbslosenquote (18,6 Prozent) sogar unter der von Männern (19,5 Prozent) lag.
In diesem Zusammenhang lässt sich für Osteuropa von einer Feminisierung von Arbeit und Verantwortung sprechen. Eine derartige Tendenz spätkapitalistischer peripherer Entwicklungsprozesse haben Globalisierungstheoretikerinnen bereits für Länder der so genannten Dritten Welt festgestellt. Die neue internationale Arbeitsteilung, insbesondere die flexibilisierte Auslagerung von Fertigungsschritten und ihr Subcontracting an einheimische Unternehmer in Billiglohnländer hätten, so Christa Wichterich, zu einem doppelbödigen Jobwunder von Frauen geführt7. In den exportorientierten Weltmarktfabriken seien sie es, die als billige und flinke Arbeitskräfte nachgefragt würden. Der Gewinn, den diese Art der Feminisierung von Arbeit im niedrig entlohnten und häufig deregulierten Sektor für Frauen mit sich bringt, ist als sehr zwiespältig einzuschätzen: zwischen vermehrten Handlungsspielräumen und Ausbeutung. Auch für die neuen Billiglohnproduktionen in Osteuropa scheinen Frauen prädestinierte Arbeitskräfte abzugeben. So spricht Bettina Musiolek in ihrer Untersuchung zur Textilindustrie im osteuropäischen Raum auch von einer »Maquiladorisierung Osteuropas«8. Dabei haben nicht nur die Marktnähe und der privilegierte Zugang zum EU-Markt Osteuropa nach 1989 zu einem begehrten Outsourcing-Standort gemacht. Auch das »weibliche Arbeitsvermögen und seine Unterbezahlung« habe hierbei eine erhebliche Rolle gespielt. 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, die 1997 zu einem Durchschnittslohn von 60 Euro im Monat die Markenprodukte für Adidas, Calida etc. fertigten. Auch in der Slowakei stellt die Textilproduktion einen der wenigen exsozialistischen Industriezweige dar, die als »arbeitsintensive« Hilfsindustrien für die Fertigungsketten transnationaler Konzerne wieder aufgebaut wurden. Die voranschreitende Informalisierung der Wirtschaftsaktivitäten in Osteuropa knüpft zwar an alt bekannte Praktiken und Taktiken an, die jedoch nicht als vormoderne Erscheinung, sondern als intendierter Effekt der neuen flexibilisierten Produktionsweisen zu verstehen sind. Es sind nicht nur die aus ihren festen Arbeitsverhältnissen entlassenen Frauen, die informalisierte Arbeitsverhältnisse aufnehmen, weil sie die Nachfrage nach billiger, flexibler und qualifizierter Arbeitskraft bestens befriedigen. Auch die Noch-Arbeitsplatz-Besitzerinnen werden durch die massive Abwertung ihrer Qualifikationen deklassiert und zu Zusatzverdiensten im informellen Sektor abgedrängt.